Bücher, kurz serviert
Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW) über …
James Anderson: Desert Moon
I.L. Callis: Das Alphabet der Schöpfung
Anne Goldmann: Das größere Verbrechen
Jeanette Erazo Heufelder: Welcome to Borderland
Michal Hvorecky: Troll
metamorphosen. Magazin für Literatur und Kultur: Thema Verbrechen
George Pelecanos: Das dunkle Herz der Stadt
Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz, Rainer Stadler und Wiebke Ramm: Der NSU Prozess. Das Protokoll
Martin Schüller: 111 Tipps und Tricks wie man einen verdammt guten Krimi schreibt
Tanjev Schultz: NSU: Der Terror von rechts und das Versagen des Staates
Ross Thomas: Dann sei wenigstens vorsichtig
Daniel Woodrell: Zum Leben verdammt
Chronistenpflicht, aufs Vornehmste (NSU 1)
(AM) 2000 Seiten, aufschlussreiches Register, fünf Bände in Kassette. Ein Preis für staatsbürgerliches Engagement gebührt dem Verlag Antje Kunstmann für die Leistung, solch ein wichtiges und gewichtiges Projekt zu stemmen – mit einem in Anbetracht des gigantischen Aufwands handzahmen Volkspreis von 80 Euro. Anerkennung auch den Autorinnen und Autoren Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz, Rainer Stadler und Wiebke Ramm sowie der „Süddeutschen“ für all die journalistische Qualität. Anders als die Frankfurter Zeitungen zu Zeiten der Auschwitz-Prozesse sind sie hartnäckig am Ball geblieben, haben eine Chronistenpflicht übernommen, die der Staat – trotz insgesamt wohl rund 37 Millionen Euro Prozesskosten – nicht wahrnehmen wollte, haben sich um unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat verdient gemacht. Ihr Buch Der NSU-Prozess. Das Protokoll ist ein Stück deutscher Geschichte und Kriminalgeschichte.
„Schon nach den ersten Prozesstagen war klar, dass der Wortlaut der Verhandlung interessant sein wird“, erzählte Annette Ramelsberger, Gerichtsreporterin der „Süddeutschen“ während der Buchmesse am „vorwärts“-Stand. Der Richter aber lehnte den Antrag der Verteidigung ab, den Prozessverlauf mitzustenografieren oder mitzuschneiden. Die Sitzungen sollten zwar protokolliert werden, doch eher nur oberflächlich. Also entschieden sich Ramelsberger und ihre Kollegen dafür, die Rolle der Protokollschreiber zu übernehmen. Zwei Jahre, dachte man damals. Dass es schlussendlich mehr als fünf Jahre wurden, ahnte niemand. Unsere Wachhunde der Demokratie aber (wie man Journalisten früher genannt hat) blieben am Ball.
So entstand, mit Mitteln der Rudolf Augstein Stiftung gefördert, die Dokumentation eines der spektakulärsten Gerichtsprozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte – eine „Wahnsinnsleistung“, betonte auf der Buchmesse nicht nur Nancy Faeser, die Generalsekretärin der hessischen SPD, die mit der Materie eine eigene hessische Erfahrung im dortigen Untersuchungsausschuss machen musste. Eine Frau und vier Männer saßen in München auf der Anklagebank, beschuldigt, die Terrororganisation NSU gegründet oder unterstützt zu haben – eine rechtsradikale Gruppe, die zehn Menschen ermordete, drei Sprengstoffanschläge verübte, Brandstiftung und 15 Raubüberfälle beging. Über 60 Anwälte vertraten die fünf Angeklagten und 93 Nebenkläger, es gab 437 Prozess-Tage. Mehr als 600 Zeugen und Sachverständige wurden gehört, rund 3000 Beweisanträge gestellt. Die Autoren dieser Kassette verfolgten die Verhandlung vom ersten Tag an lückenlos. Aus ihren täglichen Mitschriften entstand ein umfangreiches Protokoll, das in den fünf Bänden dokumentiert wird.
Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz, Rainer Stadler und Wiebke Ramm: Der NSU Prozess. Das Protokoll. Band 1-3: Beweisaufnahme, Band 4: Plädoyers und Urteil, Band 5: Materialien (Register, Chronologie und kurze Portraits der Beteiligten). Verlag Antje Kunstmann, München 2018. 2000 Seiten, 80 Euro. Als E-Book 49,99 Euro. Verlagsinformationen hier. Leseprobe hier.
Unter der Oberfläche
(rum) Es dauert etwas, bis sich die Figuren in Anne Goldmanns viertem Roman Das größere Verbrechen herausschälen. Kurze Sequenzen sind es, in denen sich die Wiener Autorin ihren drei Protagonistinnen nähert. Da ist die schwer traumatisierte Frau Sudic, die im Bosnienkrieg gefangen gehalten, gefoltert und vergewaltigt wurde. Ihren Glauben an die Menschheit begrub sie vor Ort. Therese Rössler hat sich mit Mann und Tochter ein Leben eingerichtet. Doch mit einem Anruf brechen verdrängte Erinnerungen und seelische Verletzungen auf. Mit 17 wurde sie schwanger, ihre Eltern zwangen sie, das Kind zur Adoption frei zu geben. Und eben dieses Kind namens Jan drängt nun in ihre Familie und viel zu nah an ihre 15-jährige Tochter. Die selbstbewusste Ana schließlich putzt bei beiden, während sie versucht, an die Kunstakademie zu kommen und ihre Spur im Leben zu finden. Ein Mord an Jans Adoptivvater, ein seltsamer Unfall, in den Therese Rössler verwickelt ist, bringt alles ins Wanken, wenn Jan als Verdächtiger festgenommen wird.
Mit viel Finesse, Fingerspitzengefühl und vor allem Menschenkenntnis erzählt Goldmann diese Geschichte aus fein ineinander verschlungenen Erzählfäden, geht ganz nah ran, um die Beweggründe, aber auch die Zwänge, Zweifel, Unsicherheiten und Dilemmata zu beleuchten, in denen ihre Figuren feststecken. Die haben nur allzuoft mit ihrem Frausein zu tun, mit Zuschreibungen und Rollenbildern, mit Gewalt ganz unterschiedlicher Art. Die alte Frau Sudic etwa mag nicht mehr berührt werden, ist aber gebrechlich und muss sich helfen lassen. Therese Rösslers Ehe ist kaputt. Ihr Mann betrügt sie, ihre pubertierende Tochter (wunderbar biestig gezeichnet) würde am liebsten alles kurz und klein schlagen und der verschollene Sohn versteht es prächtig, die Schuldgefühle von Therese zu nutzen. Ana indes zeigt sich wehrhaft gegenüber den Zumutungen des Lebens, steht sich aber auch immer wieder selbst im Weg.
Goldmann macht daraus eine verwinkelte, sich ganz allmählich zuspitzende Geschichte, in der sie ihren Figuren und deren Umfeld sehr genau auf den Zahn fühlt. Es ist oft Alltag, von dem sie erzählt, verdichteter Alltag freilich, in dem allenthalben sichtbar wird, wie fragil und überraschend so ein Leben doch ist.
Anne Goldmann: Das größere Verbrechen. Argument-Verlag, Ariadne Kriminalroman 1234, Hamburg, 2018. 235 Seiten, 15 Euro.
Die Wüste lebt
(AM) Chandlers „,mean streets“, durch die ein Mann doch gehen und sich behaupten muss, sind in Desert Moon von James Anderson hundert Meilen Wüstenstraße, die State Road 117 im nördlichen Utah. Ben Jones, ein „Independent“, liefert hier mit seinem Truck Pakete und Bestellungen aus. Er ist Waise, ledig, ganz oft pleite, sein Humor schwarz. Männer wie er brauchen eine Bar, oder zumindest so etwas Ähnliches. Seine Wasserstelle ist das Well-Known Desert Diner, das so gut wie immer geschlossen ist (woher die Originalausgabe den Titel „The Never-Open Desert Diner“ bezog). Einst der Drehort vieler B-Filme, steht dort heute in all dem Gerümpel eine unglaubliche Sammlung alter Motorräder, gepflegt vom alten Walt Butterfield, Bens bestem Freund.
Drifter, Träumer, Prediger, Einsame, ein paar Rancher und Überlebende von Tragödien, die sich vor der Welt und/ oder der Vergangenheit verstecken, säumen den Highway. Die Wüste lebt. Und dann trifft Ben auf eine Frau, die nackt Cello spielt – oder zumindest so tut. Das muss als Gitarrenriff genügen. Aber verprochen: Es wird rauh und romantisch wie ein Country-Song, den man nicht mehr vergisst.
James Anderson kennt die Wüste, das ist klar. Die Branche eigentlich auch, gründete er er doch einst 1975 in Portland, Oregon, Breitenbush Books. Mit seinem ersten Roman aber, abgeschlossen mit 62, fuhr er erst einmal jede Menge Abfuhren ein, bis Caravel Books es 2015 wagte. Kritiken und Verkaufszahlen waren so gut, dass Crown dann 2016 übernahm. Jetzt gibt es bereits eine Fortsetzung („Lullaby Road“). Anderson nennt sein Buch einen „literarischen Hybrid-Noir“, hat es Ross Macdonald, John F. MacDonald, James Crumley, Robert B. Parker und Stephen J. Cannel (dem von Detektiv Rockford) gewidmet. Das darf er. Sie alle würden ihm einen ausgeben.
James Anderson: Desert Moon (The Never-Open Desert Diner, 2016, Crown; Caravel Books. 2015). Aus dem Amerikanischen von Harriet Fricke. Polar Verlag, Hamburg 2018. Hardcover, 344 Seiten, 18 Euro.
Watergate lässt grüßen
(TW) Einen wirklich schlechten Roman von Ross Thomas gibt es nicht. Aber wenn ich nach dem schwächsten gefragt würde, wäre Dann sei wenigstens vorsichtig sicher mein erster Kandidat. Wie gesagt, stets in Relation. Der erste Satz ist ein Klassiker: „Es begann so, wie das Ende der Welt beginnen wird: mit einem Telefonanruf um drei Ihr früh.“ (Siehe auch unseren exklsuiven Textauszug in dieser Ausgabe.)
Auch die Hauptfigur, diesmal mit dem unwahrscheinlichen Namen Decatur Lucas ausgestattet, ist eine typische Ross-Thomas-Figur: Historiker, Rechercheur und Spezialist für die hohe Kunst der Korruption. Das Original, „If you can’t be good“, ist 1973 erschienen, spielt also zur Zeit der Watergate-Affaire und deshalb sind auch größere Teile der Handlung im Watergate-Gebäude angesiedelt. Decatur soll für einen Mud-Digger-Kolumnisten herausfinden, warum ein Senator bestechlich ist und wühlt sich deswegen in eine ziemlich horrible Familiengeschichte. Seltsamerweise bleibt der Roman aber, für Ross Thomas ungewöhnlich, auf dieser Schiene, die sich eher wie ein Ross Macdonald-Roman liest, eben mit Decatur Lucas als mehr oder weniger klassischem Privatdetektiv, und – obwohl es natürlich genug maliziöse Kommentare und Beobachtungen aus dem Washingtoner Politik-Betrieb gibt – ohne die normalerweise toxischen und ätzenden Twists.
Irgendwie drängt sich der Eindruck auf, als ob der Großmeister des politischen Thrillers sich einmal an einer P.I. novel versuchen wollte, die jedoch für seine Standards unterkomplex ist. Und so erklärt sich vielleicht auch, dass sich die für dieses Sub-Genre oft topische Misogynie einschleicht; eine Untugend, deren sich Ross Thomas ansonsten nicht schuldig gemacht hat. Ein irgendwie unbalancierter, unfertiger Roman, aber wie gesagt: Nur für Ross-Thomas-Verhältnisse.
Ross Thomas: Dann sei wenigstens vorsichtig (If you can’t be good, 1973). Erste vollständige deutsche Ausgabe in neuer Übersetzung. Aus dem amerikanischen Englisch von Jochen Stremmel, durchgesehen von Gisbert Haefs. Alexander Verlag, Berlin 2018. 288 Seiten, 16 Euro.
Unten am Fluss, wohin die Toten gehen
(AM) Torsten Meinike vom Buchladen in der Hamburger Osterstrasse bringt es in unserer „Schatzsuche“ (siehe nebenan in dieser CrimeMag-Ausgabe) auf den Punkt: „Endlich hat Pelecanos eine ihm würdige Übersetzerin gefunden.“ Karen Witthuhn macht in diesem Buch Werbung für ihren Berufsstand, aber auch George Pelecanos hat mit Das dunkle Herz der Stadt einen seiner besten Romane abgeliefert – damals, 1995, so alt ist das Buch. Es ist das letzte und beste der Nick-Stefanos-Trilogie. Noir as noir can, „urban angst“, Washington von ganz, ganz unten. Schon merkwürdig, dass dieser Roman erst mehr als 20 Jahre später auf Deutsch erscheint.
Barkeeper und Gelegenheits-Privatdetektiv Nick Stefanos bekommt im Vollrausch unten am Fluss, „Down by the river where the dead men go“, nur verschwommen mit, wie direkt neben ihm ein junger Stricher ermordet wird. Niemand interessiert sich für den Toten, er aber macht es sich – klassische Trope dieses Genres – zur Aufgabe, die Mörder zu finden. Neugier ist zwar „wie ein knackiger Arsch, von dem man besser die Finger lassen sollte“, natürlich fasst griechischer Einwanderer trotzdem hin.
Zwischendurch wimmelt es von product placement aller Art, nein: schon eines gewissen Stils. Nick liebt Muscle Cars mit Doppelrohr, fährt alte Chryslers, etwa einen 67er Polara, einen 67er Belvedere und jetzt einen 66er Dodge Coronet 500, weiß mit roter Innenausstattung, vollverchromte Mittelkonsole und einen 318er unter der Haube. Unentwegt läuft Musik: Donna Summer, Lungfish („eine Post-Hardcore-Gitarrenband aus Baltimore“), Curtis Mayfield mit zum Beispiel „Do Be Down“, PJ Harvey, PM Dawn, Dinosaur Jr., Pavement, Sonic Youth, Fugazi, Deltablues, Isaac Hayes – – you name it, you drop it. Einmal besucht Nick ein Konzert der Punkband Mekons, ist mal kein Tonträger in der Nähe, hört er sicher bald eine Slidegitarre von fern in einem Autoradio.
Nebenbei gibt es noch eine kleine Kinogeschichte Washingtons (ach, das „Very Ritzy“ unten an der 9th) und Pornos mit Titeln wie „Schwanzlos in Seattle“, dazu allerlei Filmklassiker, sogar Filme von Jerry Lewis, etwa „Der verrückte Professor“. Nick Stefanos ist einer der versoffensten Ermittler der jüngeren Detektivliteratur, oft tropft ihm der Bourbon einfach vom Kinn. Als Nebenfigur hat er es in andere Pelecanos-Bücher geschafft, etwa in „King Suckerman“. Das beste Buch dieses Autors, „Shoedog“ von 1994, wartet noch immer auf eine deutsche Übersetzung. Karen Witthuhn wäre meine Wahl als Übersetzerin.
George Pelecanos: Das dunkle Herz der Stadt (Down by the river where the dead men go, 1995). Aus dem amerikanischen Englisch von Karen Witthun. Ars vivendi, Cadolzburg 2018. Hardcover, 246 Seiten, 20 Euro.
Schon fast Chuzpe
(TW) Das Alphabet der Schöpfung von I.L. Callis ist ein wunderliches Buch, an dem man durchaus sein guilty pleasure haben darf, wenn man bereit ist, ein erhebliches sacrificium intellectus zu riskieren. Die uralte Geschichte vom Menschen, der sich überhebt und in der Schöpfung herumpfuscht wie weiland Victor Frankenstein – diesmal, natürlich, mittels Gentechnologie, Genome Editing und allerlei anderer Techniken mehr, die die Autorin so auffährt, dass sie sich plausibel anhören, aber für Nicht-Spezialisten unerkennbar richtig sind oder auch nicht. Was aber auch egal ist. Ein fröhlich-fieses Unternehmen für Gen-Technik namens „Phoenix“ züchtet eine Art Hybrid-Wesen, Hominiden aus Affe und Mensch, die natürlich bald Ärger machen, aus ihrem Habitat im Spandauer Forst (yep) ausbrechen und Leute wegschnabulieren.
Aber der Hit ist: Ötzi – das weiß man doch – hatte einen jugendlichen Begleiter, Iceboy, aus dessen genetischem Material die Phoenix-Leute einen echten Steinzeitmenschen klonen, mitsamt seines 5000 Jahre-Gedächtnisses. Lazarus heißt der arme Kerl, der sich jetzt plötzlich mitten im 21. Jahrhundert befindet und um sich beißt, was man ihm nicht verdenken kann. Und der, weil die Firmenleitung aus unklaren Gründen den Skandal fürchtet, obwohl es ihnen doch nur um die „Reproduzierbarkeit der Welt“ geht, zusammen mit seinen Hominid-Kumpels entsorgt werden soll. Dagegen hat aber der investigative Journalist Alexander Lindahl etwas, den der Dr. Moreau’sche Firmenchef Max van Damme sich in die Firma geholt hat, um Top-Propaganda für Phoenix zu machen. Gähn, wie originell. Das Ganze ist lustig dramaturgisch ungelenk, gespickt mit allerlei Schurken aus dem Besetzungsbüro für Stereotype, rauschgiftsüchtigen Mad-Scientists und eiskalten Maklern des Todes. Besonders schön, wenn die Prosa sich zu Lyrizismen aufschwingt: „Das Kind, das Kind, das Kind“, gefühlte hundert Mal. Oder: „Ich habe einen Menschen getötet/Habe einen Menschen getötet/Einen Menschen getötet“, echt. Und dennoch: Auch wenn man jetzt nicht so arg erschüttert ist von den unethischen Machenschaften einer de-regulierten Wissenschaft (es geht halt immer um die ganze Welt, mindestens), hat das Buch durchaus einen unterhaltsamen Sog. Was vermutlich reiner camp ist: Denn man will schon wissen, ob der Roman genauso läuft, wie man nach max. 15 Seiten weiß, dass er genauso läuft. Das ist schon fast Chuzpe, aber unterhaltsam.
I.L. Callis: Das Alphabet der Schöpfung. Emons Verlag, Köln 2018. 464 Seiten, 22 Euro.
Wer mit dem Teufel reitet
(AM) Dieses Buch gab es bereits einmal, 1998 bei Rowohlt, aber es verschwand ebenso in der Versenkung wie der am wenigsten bekannte Film von Ang Lee, der dieser literarischen Vorlage folgte: „Wer mit dem Teufel reitet“ (Ride with the Devil) von 1999, mit Tobey Maguirre und Skeet Ulrich, beim Cineasten-Label Criterion längst als Klassiker digital remastered. Bei Produktionskosten von rund 35 Millionen Dollar spielte der Film in den US-Kinos ganze 630.000 Dollar ein.
Dessen unbenommen ist Zum Leben verdammt von Daniel Woodrell eine mehr als willkommene Erinnerung an einen Großen der amerikanischen Kriminalliteratur. Seine Romane „Tomatenrot“, „Winters Knochen“ oder „Der Tod von Sweet Mister“ sind die Benchmark für das ach so modisch gewordene country noir. Dies hier, sein zweiter Roman überhaupt, geht mitten hinein in einen ungemütlichen Gründungskonflikt der Vereinigten Staaten, behandelt eine wenig bekannte Seite des Amerikanischen Bürgerkriegs, nämlich den brutalen Partisanenkrieg im eigenen Land. Auch James Carlos Blake („Das Böse im Blut“) hat sich in seinen noch nicht übersetzten „Wildwood Boys“ damit beschäftigt. Die Hauptfigur des Romans ist Jake Roedel, Sohn eines deutschen Einwanderers, der sich 1861 den First Kansas Irregulars anschließt, ein „Bushwhacker“ wird und gegen die „Jayhawkers“ der Unionstruppen kämpft, die Zivilbevölkerung als Kollateralopfer, der Höhepunkt das Massaker von Lawrence, Kansas, auch als „Quantrill’s Raid“ bekannt. Dieser William Clark Quantrill, eine höchst interessante historische Figur, ist so etwas wie der Colonel Kurtz der US-Geschichte.
Woodrells Roman ist ein Coming-of-age mitten im Bürgerkrieg, im Herz der Finsternis. Das ist brutal und poetisch, rabenschwarz im Humor. Das Buch fängt den Geist der „frontier literature“ des 19. Jahrhunderts. Jake, der Lesen gelernt hat, muss seinen Gefährten immer wieder die Schriftstücke aus einem erbeuteten Postsack vortragen. Es sind Liebes- und Trostbriefe an Fremde, von Ehefrauen und Geliebten geschrieben, voller Trauer und Hoffnung und manchmal atemberaubender Schönheit. Ein rauhes, wildes Buch, ein Teufelsritt, und etwas für Winternächte.
Daniel Woodrell: Zum Leben verdammt (Woe to Live On, 1987). Neu aus dem Englischen von Peter Torberg. Verlag Liebeskind, München 2018. Hardcover, 256 Seiten, 20 Euro.
Extrem kluges Buch
(TW) Eher positiv sperrig, sehr intelligent und schön polemisch ist Troll von Michal Hvorecky. Der slowakische Autor folgt dem Trend, politische Entwicklungen in eine mehr oder weniger genau definierte Zukunft zu projizieren, um die Gegenwart präzise beschreiben zu können. Irgendwann, nach einem „Hybrid-Krieg“, nach der Korrosion etlicher europäischer Staaten, während der Dominanz des „Reichs“, worunter wir uns Russland vorstellen dürfen, sind die allmächtigen Sozialen Medien in den Händen von Trollen, die mit ausgefuchstesten Methoden Themen setzen, Biographien zerstören, widerwärtigste Propaganda betreiben, was auch immer auf der Agenda ihrer totalitären Auftraggeber steht. Wer Widerstand leistet oder offen dissident agiert, wird niedergemacht, virtuell und realiter ausgelöscht.
Der adipöse Ich-Erzähler, Sohn eines ehemaligen Mitglieds der Nomenklatura einer weggeputschten Diktatur und lange Jahre psychiatrisiert, tut sich mit der konstitutiv drogensüchtigen Johanna zusammen, die die aktuellen Zustände genau so unerträglich findet wie er. Sie beschließen, das Troll-System von innen zu sabotieren und heuern deswegen bei dem Großmeister aller Trolle, Valys, an. Als Tandem werden die beiden alsbald zu den Spitzen-Trollen, dark wizzards, skrupellos, genial, widerwärtig. Aber ab wann droht nicht nur die scheinhafte, sondern die tatsächliche Identifikation mit dem Aggressor? Ist es nicht doch geiler, die Macht des Turbo-Trollings zu haben als das System zum Einsturz zu bringen? Hvoreckys Roman tanzt elegant auf den Linien zwischen Satire, Polemik, dystopischer Entwürfe und radikaler Zeitkritik am Hier & Jetzt – und dass das extrem kluge Buch aus der Slowakei kommt, ist kein Zufall. Aber natürlich gilt es auch für die ganze Visegrád-Gruppe und wer weiß, in Zukunft noch für weitere Länder, die BRD nicht ausgeschlossen.
Michal Hvorecky: Troll (Trol). Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch. Tropen Verlag, Stuttgart 2018. 216 Seiten. 18 Euro.
Großer Wurf
(TW) Ein Meisterstück komprimierter Kulturgeschichte ist Welcome to Borderland. Die US-mexikanische Grenze von Jeanette Erazo Heufelder aus dem Berenberg Verlag. Auf knappen 250 Seiten skizziert die Lateinamerika-Spezialistin die Geschichte der Grenze seit dem 18. Jahrhundert (mit Exkursionen nach hinten), die weniger eine topographische, sondern eine politische Grenze ist – immer konfliktreich, immer mit Blut getränkt, und heute neuralgischer denn je. Trumps Politik der Abschottung rückt so in ein Kontinuum des Rassismus, der nackten Gewalt, des Imperialismus und der wirtschaftlichen Ausbeutung.
La Frontera und The Border sind dennoch miteinander verknüpft, als romantisches Sehnsuchtsland („across the borderline“), als ökonomischer Crash zwischen „erster und dritter Welt“ (welch perfider Euphemismus) und auch als unendlicher Quelle der unterschiedlichsten Narrative, die, wie Heufelder unterstreicht, signifikant häufig gewalthematisierende Narrative sind – narcocorridos, die Bücher von Charles Bowden oder Joseph Wambaughs „Lines and Shadows“, der Alamo-Mythos, die Tijuana-Legenden von „A touch of evil“, Burroughs & Co. Insofern ist das Buch eine unabdingliche Handreichung für Faktenchecks, falls mal wieder die Mexiko-Romantik oder die üblichen Country-Noir-Klischees durchschlagen.
Jeanette Erazo Heufelder: Welcome to Borderland. Die US-mexikanische Grenze. Berenberg Verlag, Berlin 2018. Hardcover, fadengeheftet, 256 Seiten mit Abbildungen, 25 Euro.
Gewaltige Recherche (NSU 2)
(AM) Wo war die Polizei, als man sie brauchte? Selten ist die Arbeit der deutschen Sicherheitsbehörden so intensiv untersucht worden wie im sogenannten NSU-Komplex, aber „selten war es so schwierig, die ganze Wahrheit zu finden oder sich ihr wenigstens anzunähern“, schreibt Tanjev Schultz in der Einleitung zu NSU: Der Terror von rechts und das Versagen des Staates. Sein Buch ist die ideale – und sinnvolle – Ergänzung zur fünfbändigen Protokoll-Kassette (Besprechung siehe oben in diesen „Bloody Chops“), zu deren Autoren er gehört. Tanjev Schultz, heute Professor am Journalistischen Seminar der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und ein international gefragter Fachmann, berichtete jahrelang für die Süddeutsche Zeitung über Innere Sicherheit und auch den NSU-Prozess. Ruhiger im Ton als der von Stefan Aust und seinen vielen Epigonen kultierte „aufklärerische Journalismus“, in der Sache nichtsdestoweniger unerbittlich klar, erzählt Schultz in sehr lesbarer Form die Kriminalgeschichte eines staatlichen Organversagens. Vieler Organe, genauer gesagt. Der förderale Wahnwitz, den wir uns in der Bundesrepublik (immer noch) auf so vielen Ebenen leisten, ist in Sachen NSU mitverantwortlich für viele Niederlagen des Rechtsstaats und für manchen blinden Fleck
Es ist schlicht dramatisch, was dieses Buch an Abgründen auffächert – denen der rechten Szene und der deutschen Behörden. 100 Seiten oft zusätzlich aufschlussreicher Anmerkungen machen klar, dass sich diese gewaltige Recherche auf die Auswertung von Tausenden Aktenseiten, Hunderten Zeugenaussagen und auf jahrelange eigene Auseinandersetzung mit der Materie stützt. Ein Sachbuch ohne jeden Schwurbel. Ein großer Wurf.
Tanjev Schultz: NSU: Der Terror von rechts und das Versagen des Staates. Verlag Droemer, München 2018. Herdcover, 576 Seiten, 26,99 Euro.
Anderer Blick
(AM) Wie unsere Vorstellung vom Verbrecher nur scheinbar klar ist, ist auch das Verbrechen selbst eher ungreifbar. Wirklich Zeit, dass das im Verbrecher Verlag erscheinende Literaturmagazin metamorphosen sich des Themas Verbrechen annimmt. 52 Hefte lang hat es gedauert, bis es so weit war. Die Anfänge des Magazins liegen in Heidelberg, die „Unabhängige Zeitung am Germanistischen Seminar“ war 1991 eine Gründung von Studenten. Mit der Nr. 30 im Jahr 2000 endete diese Folge. Seit April 2013 heißen die Herausgeber Moritz Müller-Schwefe und Michael Watzka, die Redaktion besteht vor allem aus Studierenden. Nach wie vor gilt die Aufmerksamkeit Texten, die abseits des Mainstreams liegen und noch unveröffentlicht sind. Das Magazin versteht sich als „Seismograph“ für junge Literatur. Seit Oktober 2015 erscheint es im Verbrecher Verlag, das Design wurde in Kooperation mit der FH Potsdam und den Gestalterinnen Lena Hegger und Luisa Preiß entwickelt.
15 Autoren, darunter ein echter Bankräuber, unternehmen es, mit anderen Augen auf ein Alltagsthema zu schauen. Denn die „wirklichen“ Verbrechen, so das Editorial, kenne man aus der Kriminalfiktion und den Titelseiten der Yellow Press. „Was aber ist mit den ‚unwirklichen’? Denen, die zu groß oder zu klein sind, um über sie zu berichten, oder jenen, die von den Richtigen begangen wurden? Welches Verbrechen ist es wert, zum Gegenstand literarischer, journalistischer, juristischer oder wissenschaftlicher Texte zu werden? Welches Vergehen wird erinnert, welches vergessen?“ Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ich darin an Kriminalliteratur die Frage stelle: „Wie viel Realität darf es denn sein?“
Michael Watzka / Moritz Müller-Schwefe (Hg.): metamorphosen. Magazin für Literatur und Kultur. Thema Verbrechen. 16. Jahrgang, Nummer 52,Neue Folge 22. Verbrecher Verlag, Berlin September – Dezember 2018. Broschur, 96 Seiten, 7,50 Euro.
Anything goes
(TW) Ich hatte ja schon Angst, dass 111 Tipps und Tricks wie man einen verdammt guten Krimi schreibt von Martin Schüller mal wieder eine Ausgeburt all der unsäglichen Schreibschulen/-kurse sein könnte, bei denen Ahnungslose, Unbedarfte und Hobbyautoren noch ahnungsloseren Möchtegern-AutorInnen erklären, was ein Krimi ist, was geht und was nicht geht, worauf dann nach solchen Maßgaben zusammengezimmerte Manuskripte auf nicht nur meinem Herausgeberschreibtisch landen. Vor allem das in Kreisen ganz hartgesottener Postpubertanten beliebte „verdammt“ im Titel ist ja schon furchteinflößend genug. (Siehe auch das KickAss von Alf Mayer ###)
Schüller aber bringt es fertig, eine ganz einfache Formel auf 232 Seiten auszufalten, die da heißt: Es geht so ziemlich alles, wenn man’s kann. Wenn nicht, nicht. Dafür bin ich ihm richtig dankbar. Da kann man dann auch ruhig darüber hinwegsehen, dass er jede Evidenz und jeden (noch so richtigen) Gemeinplatz- und nur aus solchen besteht das Kompendium – als originelle und brandneue, gar selbstgedachte Einsicht hinstellt, was an sich schon amüsant genug ist, nice eben. Immerhin – aus Nichts ein ganzes Buch zu machen, das ist schon klasse. Das Schönste aber ist: Dieses Buch wird keinen Schaden anrichten. Geht doch.
Martin Schüller: 111 Tipps und Tricks wie man einen verdammt guten Krimi schreibt. Emons Verlag, Köln 2018. Broschur, zahlreiche Fotografien, 240 Seiten, 19,95 Euro.