Geschrieben am 1. Mai 2020 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2020

Bloody Chops – Bücher kurz serviert – Mai 2020

Bücher kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction – Katja Bohnet (KB), Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Sonja Hartl (SH), Kolja Mensing (KM), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW) über:

Wolfgang Bortlik: Allzumenschliches
Oyinkan Braithwaite: Meine Schwester, die Serienmörderin

Andrew Cartmel: Killer Rock – zwei Rezensionen
Michael Connelly: Late Show
Peter Henning: Die Tote von San Andreu
Tom Hillenbrand: Qube
Joseph Incardona: One-Way-Ticket ins Paradies
Carlo Lucarelli: Hundechristus
Martin Panchaud: Die Farbe der Dinge
Wu Ming: Die Armee der Schlafwandler

Sara Paretsky: Altlasten
Leif GW Persson: Wer zweimal stirbt
Hansjörg Schneider: Hunkeler in der Wildnis

Ben Smith: Dahinter das offene Meer

Ein Kantianer Over-the-Top

(TW) Hundechristus von Carlo Lucarelli springt in der Chronologie der Biographie von Commissario De Luca ins Jahr 1943 zurück, ganz kurz bevor Mussolini entmachtet wird. De Luca, in Bologna stationiert, bekommt es mit zwei Leichen zu tun, beziehungsweise schön makaber: Mit einem Rumpf ohne Kopf und einem Kopf ohne Rumpf, die nicht zusammenpassen. Beide tauchen im Umkreis von Schwarzmarkt- und Drogenhändlern, beide scheinen im Leben internierte Juden gewesen zu sein. Bologna liegt im Bombenhagel, Mussolini stürzt, im Interregnum verschieben sich die politischen Kräfte, dann übernehmen die Deutschen und wieder sind die Konstellationen ganz anders. De Luca muss um sein Leben rochieren – und weil er sowieso einer der moralisch dubiosesten Gestalten der zeitgenössischen Kriminalliteratur ist, geht er eine Kooperation mit einem faschistischen Geheimdienst ein, der eng mit den Nazis zusammenarbeitet (später, wie wir wissen, wird er sogar für die Republik von Salò arbeiten). Aber das ist ihm egal, wenn er nur die Wahrheit über die beiden Morde herausfinden kann, denn diese „Wahrheit“ ist sein höchstes Gut, ungeachtet ihrer moralischen und menschlichen Implikationen – De Luca ist sozusagen ein Kantianer-over-the-top. Und erinnert nicht umsonst an dieser Stelle an Giorgios Scerbanencos Duca Lamberti.

Mit voller Absicht: Hundechristus ist auch stilistisch fast ein Scerbanenco-Pastiche (was Lucarelli extra betont), ähnlich schroff und schartig, präzise und unbehaglich, herzlos und empathisch gleichzeitig. Eine Anti-Identifikationsfigur und deswegen so unendlich interessanter, wie viele seiner auf den breiten Publikumsgeschmack schielende „Helden“ historischer Kriminalromane. Seine Dilemmata lassen sich nicht wegkuscheln, weil sie ganz genau in ihren ganz genauen historischen Kontext eingebaut sind, und der folgt nicht den Regeln von formula fiction. So großartig können auch period pieces funktionieren.

  • Carlo Lucarelli: Hundechristus (Peccato mortale, 2018). Deutsch von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Wien/Bozen 2020. 270 Seiten, 18 Euro.

Die Algorithmen sind unter uns

(KM) London im Jahre 2091. Der Journalist Calvary Doyle sitzt in einem Straßencafé in London, als er von einer Gewehrkugel in den Kopf getroffen wird. Ein selbstfahrender Rettungswagen bringt ihn ins nächste Krankenhaus, und gerade als der Gehirnchirurg im High-Tech-OP mit der Notoperation beginnen will, trifft eine Patientenverfügung per Hologramm ein: Calvary Doyle hat einen Brainscan angefertigen lassen.

Die Notoperation fällt aus, statt dessen wird Doyles Gehirn komplett entfernt und durch einen Computer mit einer digitalen Kopie ersetzt: Aus dem Journalisten wird ein „Quant“ mit einem „Cogit“, also: ein Mensch mit einer digitalen Gehirnkopie. Jetzt muss er noch herausfinden, wer hinter dem Anschlag auf sein Leben steckt. Offenbar hat Calvary Doyle sich mit seinen Recherchen zum Thema „künstliche Intelligenz“ mächtige Feinde gemacht.

Mit Qube baut Tom Hillenbrand die opulente, post-dystopische Welt seines Bestsellers Hologrammatica noch einmal weiter aus. Die Menschheit hat am Ende des 21. Jahrhunderts den Klimawandel mit Hilfe von Quantencomputern und KI-Technologie in den Griff bekommen, aber auch ein neues Problem geschaffen: aggressive Algorithmen, die ein Eigenleben entwickeln können. Gleichzeitig steht die Wissenschaft kurz davor, mit Hilfe von Brainscans und Quantencomputern das „Descartes-Problem“ zu lösen, also die Frage, wie ein Bewusstsein auch nach dem biologischen Tod des „Stammkörpers“ weiterexistieren kann – ein zwischen Wirtschaft und Politik hart umkämpftes Feld, in dem Calvary Doyle zwischen die Fronten geraten ist. Nur: Welche heiße Spur hat er zuletzt überhaupt verfolgt? Dumm, dass sein letzter Scan ein paar Tage zurückliegt, als er von der Gewehrkugel getroffen wird.

Und wann haben Sie das letzte Mal ein Backup von ihrem Computer gemacht? Es sind diese kleinen, alltagsnahen Einfälle, die Qube zu einem Riesenspaß machen. Dazu kommt Tom Hillenbrands lässiger Zugriff auf die großen Fragen. Die politischen, philosophischen und spirituellen Abgründe hinter dem Thema „KI“ werden in Action- und Sitcom-Formate übersetzt.

Außerdem setzt er ein kleines literarisches Gender-Experiment auf: Calvary Doyles Gegenspieler ist ein Agent der Anti-KI-Eingreiftruppe der UNO und ebenfalls ein „Quant“. Er beziehungsweise sie lädt ihr beziehungsweise sein Cogit abwechselnd in männliche und weibliche Körper, was auf Textebene zur Anpassung der Personalpronomen führt. Verrückt, aber es funktioniert, ohne dass es irgendwie kompliziert wirkt.

Schöne Grüße an Virginia Woolf: Damit wäre dann – so ganz nebenbei – auch das „Orlando“-Problem gelöst.

  • Tom Hillenbrand: Qube. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 556 Seiten, 12 Euro.

Schnurrende Konventionen

(SH) Michael Connelly ist vor allem durch seine Harry-Bosch-Romane und durch die empfehlenswerte Serienverfilmung bei Amazon bekannt. Nun schickt er mit Renée Ballard eine Polizistin in Serie. Sie arbeitet – wie Bosch – beim LAPD, allerdings in der Spätschicht der Hollywood Division, Late Show genannt. Dorthin werden diejenigen geschickt, „die sich auf politischer Ebene mit dem Polizeiapparat angelegt hatten“. Ballard ist dort gelandet, weil sie sich über ihren Vorgesetzten wegen sexueller Belästigung beschwert hatte. Ihre Aufgabe ist es nun mit ihrem Partner an Tatorten, an denen ein Detective erforderlich ist, aufzutauchen, alles aufzunehmen und dann an die zuständige Abteilung weiterzugeben. Eigentlich – Ballard aber versucht hin und wieder, einen Fall eigenständig zu bearbeiten. Dazu gehört der Angriff auf eine Transgender-Prostituierte, die brutal zugerichtet halbtot am Santa Monica Boulevard aufgefunden wird. Und da außerdem zu einer guten amerikanischen Cop-Novel zwei Handlungsstränge gehören, gibt es noch einen weiteren Fall: In derselben Nacht werden in einem Club fünf Menschen erschossen. Ballards ehemaliger Boss leitet die Ermittlungen in dem Fall, sie kann aber dennoch nicht die Finger davon lassen.

Dass Michael Connelly nun eine Frau als Hauptfigur hat, mag auf den ersten Blick überraschen, aber spätestens bei der Lektüre wird klar, dass sie eine ganz typische Figur ist: eine widersinnige, unabhängige, unbeirrbar, mutige und vor allem der Wahrheit verpflichtete Einzelgängerin mit leichten Kindheitstrauma (ihr Vater ertrank), die gelegentlich mit Männern Sex hat, aber ansonsten mit ihrem Hund in einem Zelt am Strand schläft. An mehr als einer Stelle erinnert sie an eine jüngere weibliche Version von Harry Bosch. Dass sie eine Frau ist, sorgt in Late Show lediglich dafür, dass sie sich „besser in weibliche Opfer hineinversetzen“ kann, außerdem wird es einen Angriff mit sexualisierter Gewalt auf sie geben und natürlich hat sie schon sexualisierte Gewalt erlebt. Das passt perfekt zu den #Metoo-Zeiten – wirkt aber eben auch alles ein wenig kalkuliert.

Deshalb ist Late Show kein schlechter Kriminalroman. Michael Connelly ist in diesem Genre zuhause, er kennt das LAPD, er weiß, wie er einen spannenden Kriminalroman schreibt. Hier fügt sich alles schnurrend-unterhaltsam zusammen.  Es ist in in diesem Roman wie in der ganzen Bosch-Reihe: alle Motive funktionieren – Korruption, Bestechlichkeit, Eigensinn, ein dunkler Teil im Charakter, ein Hauch Noir und L.A. –, aber es sind eben auch alles Motive, die hinlänglich bekannt sind. Dass Connellys Hauptfigur eine Frau ist, macht keinen Unterschied. Es gibt in Late Show nichts zu entdecken, was nicht in seinen Bosch-Romanen steckt. Und dass Sexismus bei der Polizei und damit auch dem LAPD hinlänglich vorhanden ist, ist nun wirklich keine neue Erkenntnis.

Es war fraglos an der Zeit, Harry Bosch mehr oder weniger in den Ruhestand zu schicken. Bosch ist in den Romanen 1950 geboren, daran kommt Conelly, wie er auch in mehreren Interviews erzählt, nun einmal nicht vorbei. Deshalb hat er 2005 die Reihe mit Harry Boschs Halbbruder Mickey Haller gestartet. Aber richtig los kommt von ihm nicht. Hier ist er nur in zwei Anspielungen zu finden: ein Mordopfer hatte eine Statistenrolle in der Serie „Bosch“ und das Haus des einen Verdächtigen liegt in der Nähe von Boschs Haus. In dem zweiten und dritten Roman mit Renée Ballard, die in den USA bereits erschienen sind, ermittelt er dann mit ihr – einer dieser Romane ist übrigens die Grundlage der neuen Staffel der Bosch-Serie. Deshalb passt es dann doch sehr gut, dass Late Show kein wirklicher Neuanfang, sondern routinierte Genre-Unterhaltung ist.

  • Michael Connelly: Late Show (The Late Show, 2017). Übersetzt von Sepp Leeb. Kampa Verlag, Zürich 2020. 432 Seiten, 19,90 Euro. 

Neo-Noir

(TW) Noir ist nicht an eine literarische Form gebunden, schon gar nicht an ein Thema, noir meint eine ästhetisierte Atmosphäre, einen bestimmten Blick auf die Welt, ist also eine Schreibweise.  One-Way-Ticket ins Paradies von Joseph Incardona  ist, so gesehen, ein roman noir sui generis. Ein Abenteuer-Roman, Social Fiction und Thriller zudem. Eine Schweizer Familie der Upper Middle Class bucht einen Luxusurlaub auf einer Insel im Indischen Ozean, irgendwo in der Gegend von La Réunion.  Ein Paradies wie aus dem Werbefilm, so hat es den Anschein. Sonne, Palmen, blaues Meer, ein schickes Resort: „Nomad Island Resort – Die Insel Ihrer Träume hat Sie längst in ihr Herz geschlossen“, so lautet der Werbespruch.  Und was die Insel in ihr Herz geschlossen hat, gibt sie nicht mehr her, aber das steht nicht im Prospekt. Dass etwas ganz und nicht geheuer ist, will die Familie Jensen am Anfang noch nicht so recht wahrhaben – Pannen beim Service, eine Dusche, die durchdreht, ein seltsam suggestives Wandfresko und merkwürdig agierendes Personal. Denn man ist – urlaubstopisch – mit sich selbst beschäftigt, mit der knirschenden Ehe, dem lolita-artig pubertierenden Mädchen, dem stillen Sonderling von Sohn. Als klar wird, das Nomad Island ein tückisches Biest ist, ist die Familie schon zerfallen. Denn die Insel will den perfekten Menschen – konsumorientiert, total konform und total kontrolliert. Wer Luxus und Sicherheit bei gleichzeitigem Hirntod akzeptiert, passt auf die Insel. Wer nicht, eben nicht. Und daraus entsteht ein tödliches Spiel. Der Schweizer Joseph Incardona erzählt diese verblüffende Geschichte ganz aus dem Geiste James Graham Ballards, für den der organisierte Tourismus als manipulative Sozialtechnik schon immer die buchstäbliche Hölle auf Erden war.  Incardonas Erzählhaltung ist lakonisch, enigmatisch, satirisch, dabei kristallklar. Zudem baut er fröhlich alle ähnliche Insel-Narrative ein – von H.G. Wells „Insel des Dr. Moreau“ über William Goldings „Lord of the Flies“ bis zu „The Blue Lagoon“, mit einem kräftigen Schuss von Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“. Wobei man diese Bezüge nicht selbstreferentiell verstehen sollte; sie bilden ein literarisches Kontinuum der Zivilisationskritik, in das sich One-Way-Ticket ins Paradies bewusst stellt. 

Nomad Island ist der feuchte Traum des Neoliberalismus, des (selbst-)optimierten Menschen, dessen Glück Konsum heißt, dem er jede Sozialität unterordnet – selbst wenn einem solchen Konzept jeder Rationalismus abhandengekommen ist und jede Menschlichkeit auch. An der Stelle verzichtet Incardona glücklicherweise auf die große Ranküne, auf den Mastermind im Hintergrund.  Die „Natur“ von homo sapiens verschmilzt mit der „Natur“ der Insel, putzige Ausbruchsversuche oder rebellierendes Außenseitertum sind mit avancierter Technik leicht zu korrigieren, weil niemals mehrheitsfähig. Noir, in der Tat, très noir, großartig gemacht. 

  • Joseph Incardona: One-Way-Ticket ins Paradies (Aller simple pour Nomad Island, 2014). Deutsch von Lydia Dimitrow. Lenos Verlag, Basel 2020. 310 Seiten, 22 Euro.

Wild-malerische Ermittlungen

(KB) Hauptkommissar Michel de Palma steht kurz vor der Rente. Da gibt es wieder diesen einen Fall. Hier: Ein Tauchunfall, hinter dem mehr zu stecken scheint. Wir befinden uns also in der Nähe von Marseille. In einer Art Urlaubsparadies. Es ist ein unterhaltsamer literarischer Mischmasch, den der Autor uns präsentiert. Sonne, Wasser, Wolkenmix. Urmenschen, Tauchsport, Höhlen, Höhlentauchen, Mythos Mensch und Psychologie. Da ist für die Touristen (Lavendel, Kochen – Bretagne, Provence) unter den Lesenden, die sich nach fernen Regionen sehnen, bestimmt etwas dabei. Ein Mann ermittelt, ein anderer Mann steht im Zentrum des Verdachts. Mütter und Schwestern sind oft böse, Väter scheinen böse zu sein. Ein Akademiker-Roman (neues Genre?), in dem der Autor seine gesamte Recherche-Arbeit präsentieren kann. Über allem schwebt jedoch der Fluch des zeitgenössischen Kriminalromans, der zu oft zu brav, zu jovial geschrieben ist. Vor lauter Tauchen, Höhlen, wild-malerischen Landschaften verliert man das Drängende an Verbrechen aus dem Blick. Kriminelles ist hier das, was terminlich dazwischen kommt. Der Tod schafft es, ein gemütliches Abendessen mit der Gattin zu verhindern oder droht, den den wohlverdienten Ausstand aus dem Beruf zu verschieben. Gelungen ist der Roman an den Stellen, wo er auf den oder die Täter schaut. Ihnen oder ihm ganz nah kommt. Bücher wie dieses sollen nicht weh tun oder nahegehen. Sie wollen unterhalten, und das gelingt hier gut.

  • Xavier-Marie Bonnot: Der erste Mensch: Aus dem Französischen von Gerhard Meier. Unionsverlag, Zürich 2020. 352 Seiten, 19 Euro.

Revolution und Mesmerismus

(TW)  „Sollte in der ersten Phase der Herrschaft der Thermidorianer eine konterrevolutionäre, in der buntscheckigen Menge der Jeunesse Dorée eingebettete Bande aktiv gewesen sein, die auf Techniken mentaler Kontrolle zurückgriff, dann hat ihr Aufkommen kaum Spuren in den Dokumenten hinterlassen …“ Ein gefundenes Fressen also für das italienische Autorenkollektiv Wu Ming, das auf „alternate history“ spezialisiert ist – Geschichte nicht als „fake history“, sondern als dynamischen, liquiden Prozess, der in den Rissen und Spalten der offiziellen „großen Narrative“ nach dem Verborgenen, dem Wegretouschierten, Unpassenden und Widerspenstigen sucht oder es mit den Mitteln der Fiktion, aber keinesfalls beliebig, (re)konstruiert. Das macht einen Höllenspaß. In Die Armee der Schlafwandler geht es um die undurchsichtige und wirre Phase der Französischen Revolution zwischen der Hinrichtung Ludwig des XVI. und dem Sturz Robespierres, also um die Hochkonjunktur des „Terreurs“, an dem sich die Kritik an der Revolution so recht entzündete.

Eine Zentralperspektive und damit eine normative Wertung der Ereignisse, lässt Wu Ming natürlich nicht zu, sondern fraktalisiert die Geschehnisse und lenkt den Blick auf anscheinend periphere Figuren: Auf die Frauen des Faubourg Saint-Antoine, die eine Hungerrevolte gegen den Konvent lostreten, auf den Schauspieler Leonida Modonesi, der sich in der Persona des Scaramouche zum Volkshelden aufschwingt, auf die Irrenanstalt von Bicêtre, wo ein Insasse unter dem Namen Auguste Laplace die historischen Ereignisse von seinen Mitpatienten nachspielen lässt, was eine wunderbare Hommage an Peter Weiss´ „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ ist. Es geht um das Wirken des Hypnotiseurs Franz Anton Mesmer und seiner Kollegen, Adepten und Konkurrenten, dem Marquis de Puységur, den Ärzten Philippe Pinel und Jean-Baptiste Pussin (Personen, die wir bei Foucault wieder treffen, oder die bei E.T.A. Hoffmann und/oder E.A. Poe eine große Rolle spielen werden) und es geht um eine Untersuchung in den noch royalistischen Territorien der Vendée, wo sich womöglich Werwölfe und ähnlich beunruhigende Phänomene tummeln … Es ist unmöglich, alle Plot-, Sub- und Subsubplotebenen dieses 670-Seiten-Backsteins auch nur ansatzweise nachzuzeichnen. Die Lektüre auf jeden Fall beschert einem einen Thesaurus voller verblüffenden Wendungen, schrägen Perspektiven, originellen Interpretationen und vor allen an überraschenden Verbindungen anscheinend disparater Partikel, vor allem ohne Verzicht auf Alterität – eine entscheidende Differenzqualität zum grassierenden Format- und Industriehistorismus. Ein hochspannender historischer Polit-Thriller, wider alle Konvention. 

  • Wu Ming: Die Armee der Schlafwandler (L‘ Armata dei Sonnambuli. 2014/15). Deutsch von Klaus-Peter Arnold. Assoziation A, Berlin und Hamburg 2020. 671 Seiten, 28 Euro.

Brillanter Start

(SH) „Ayoola ruft mich mit diesen Worten herbei: Korede, ich habe ihn umgebracht. Ich hatte gehofft, diese Worte nie wieder zu hören“. Aus diesen zwei Sätzen besteht das erste Kapitel in Meine Schwester, die Serienmörderin von Oyinkan Braithwaite – und das ist ein wahrlich grandioser Ausgangspunkt. Im zweiten Kapitel ist Korede dann schon bei ihrer Schwester und hilft ihr, eine Leiche verschwinden zu lassen sowie den Tatort gründlich zu reinigen. Damit wird auch Koredes Dilemma klar: Ihre wunderhübsche, verführerische Schwester Ayoola ist, wie der Titel bereits klar macht, eine Serienmörderin. Drei Männer hat sie nun ermordet – und ab drei Morden gilt man offiziell als Serientäterin. Korede hilft ihr aus schwesterlicher Verbundenheit bei der Beseitigung der Folgen ihrer Taten, weiß aber gleichzeitig, dass Ayoola vermutlich nicht mit dem Morden aufhören wird. Es ist ein wiederholendes Muster: Ayoola lernt einen Mann kennen, alles ist gut, dann macht er etwas, was ihr nicht gefällt und er ist tot. Das ist eine große Last an Wissen, die Korede zu tragen hat und sie vertraut sich lediglich einem Langzeit-Komapatienten in dem Krankenhaus, in dem sie arbeitet, an. Doch dann verliebt sich Koredes Schwarm, der Arzt Tade, in ihre Schwester. Und Korede will verhindern, dass er umgebracht wird.

Mit viel Witz und bösen Spitzen erzählt Braithwaite eine anfangs originelle Kriminalgeschichte, in der viel über Frauenfeindlichkeit in Nigeria zu erfahren ist. Die Schwestern stehen gewissermaßen für zwei Frauentypen: die verführerische, wunderschöne Ayoola, die mit verwöhnt-kindischem Verhalten durchkommt, weil sie eben gut aussieht und Männer das dann reizend finden. Und die pragmatische Korede, die resolut, verlässlich und klug ist – und sogar kochen kann. Leider verlässt sie ausgerechnet bei Tade ihr Scharfsinn, als Karikatur eines wohlmeindenden Mannes, der gewohnt ist, dass Frauen ihn, den Arzt!, anhimmeln, ist er sehr witzig. Sobald allerdings etabliert ist, dass er vermutlich das nächste Opfer werden könnte, geht der Geschichte ein wenig die Luft aus, so dass sie fast zwangsläufig in einem angesichts des originellen Anfangs schwachen Finale mündet. Allerdings ist „Meine Schwester, die Serienmörderin“ ein witziges Debüt – und daber bleibt zu hoffen, dass Braithwaite in ihrem nächsten Roman bis zum Ende einlöst, was sie hier verspricht.

  • Oyinkan Braithwaite: Meine Schwester, die Serienmörderin (My Sister, the Serial Killer, 2018). Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Blumenbar, Berlin 2020. 240 Seiten, 20 Euro.

Eine Übung in Langmut

(rum) Der 82-jährige Dramatiker und Autor Hansjörg Schneider lässt sich Zeit, pfeift auf Erzählkonventionen, auf Spannungskonzepte sowieso. Für Freunde straffer Handlung und greller Action ist das nichts. Auch sein zehnter Hunkeler-Roman ist im besten Sinne eine Übung in Langmut, in genauem Hinsehen und präziser Beschreibung.

Sein Kommissar Peter Hunkeler ist längst im Ruhestand, bleibt aber ein unruhiger Geist, schätzt das Nebensächliche, hat etwas übrig für das oft Übersehene. Das gilt auch für jene am Rand der Gesellschaft, die Abgehängten, die Unkonventionellen, die in so gar kein Raster passen wollen. Hunkeler lebt wie sein Autor in Basel, hat außerdem ein Häuschen im Elsass. Seinen Kaffee trinkt er an einem Kiosk im Basler Kannenfeldpark, einem ehemaligen Friedhof. Dort wird die Leiche des Feuilletonisten Heinrich Schmidinger gefunden, erschlagen mit einer Boulekugel. Noch vor die Polizei kommt, schaut sich Hunkeler den Toten an – und macht sich dann aus dem Staub, weil er auf gar keinen Fall den ehemaligen Kollegen begegnen will. Wissen will er es schon, beginnt deswegen nun aber keineswegs stringent zu ermitteln. Er hört sich eher beiläufig um, sammelt ein paar Hinweise, verknüpft ein paar Gedanken. Zu Lebzeiten, erfährt er von einer ehemaligen Journalistin, die jetzt mit schlechter Rente, billigem Rotwein und ihren Ziegen in einer Hütte wohnt, aber dank alter Kontakte und neuester Technik bestens informiert ist, sei dieser Kritiker Schmidinger eine Bestie gewesen, der Karrieren zerstörte. Eigentlich, sagt eine andere, „hätte er gerne applaudiert, aber das konnte er nicht“. Es ist eine Spur, die nicht weiterführt. 

Wichtiger als solche Spuren sind ohnehin Hunkelers Gesprächspartner. Da gibt es eine weitere Journalistin, die sich auf Indianer im Amazonasgebiet spezialisiert hatte und seither mit einer weißen Adlerfeder im Haar durch die Stadt zieht. Eine schwarz gekleidete Holländerin mit Zylinder und Flöte geht zu Fuß nach Cremona. Im Park sitzt einer in Kutte hinterm Thujabusch und rezitiert alte orientalische Verse. Und auch Hunkeler selbst kommt ob dieser Begegnungen immer wieder ins Grübeln, ist sich nicht sicher, ob dieses Leben, das er da führt, das richtige ist, ob er nicht näher ran muss, an die Wildnis, die hier aus allen Richtungen herandrängt. So trifft er auf einen wilden Hund und muss sehen, dass es noch wildere Tiere gibt. Er verbringt eine unruhige Nacht auf dem Rasen im Park, wandert nachts von Basel ins Elsass und feierwütigen jungen Nachbarn, wirft er schon mal die Scheibe mit einer alten Kartoffel ein. 

Dieser Hunkeler ist ein widerborstiger Geist, hat etwas Unberechenbares, sucht das Ursprüngliche, das Eigene und mag sich doch nicht von Gewohnheiten, von gutem Essen etwa, verabschieden. Das Leben, das wird ihm hier immer wieder klar, ist schnell vorbei, die Zivilisation brüchig. Die Wildnis jedenfalls ist nirgends so übel, wie dort, wo viele Menschen aufeinander hocken. Hunkeler treibt durch diese Geschichte, beobachtet, sammelt, nimmt hier einen Gedanken auf, spinnt dort einen anderen weiter. Und Schneider führt dankenswerterweise gar nicht alles zusammen, lässt manches einfach stehen oder ins Leere laufen, die Aufklärung des Kriminalfalls wird da zu einer  Geschichte unter vielen. 

  • Hansjörg Schneider: Hunkeler in der Wildnis. Der zehnte Fall. Diogenes, Zürich 2020. Hardcover, 224 Seiten, 22 Euro.

Wer bist Du?

(TW) Eher als Meditation denn als durchgeplotteten Roman könnte man Peter Hennings Die Tote von San Andreu verstehen: Die Schwester des Literaturdozenten Lennart Halm ist 2015 einem islamistischen Bombenanschlag in der U-Bahn von Barcelona zum Opfer gefallen.  Halm, der seit Jahren den Kontakt zu ihr verloren hatte, fliegt nach Katalonien und muss feststellen, dass seine Schwester kein unschuldiges Opfer war, au contraire. Auch wenn diese Wende keinesfalls überraschend kommt (deswegen ist dieser Spoiler lässlich), besticht der schmale Roman, eher eine lange Erzählung, doch durch die konzentrierte Seriosität, mit der Henning seine „großen“ Themen angeht: Was muss passiert sein, dass eine kluge, schöne und eigenwillige Frau aus der deutschen Mittelschicht, sich dem IS anschließt und gegen alle ihre früheren Überzeugungen handelt? Und wie gut können selbst sich nahestehende Menschen einander kennen? Und welche gesellschaftlichen Kräfte sind bei solchen Prozessen im Spiel?

Es spricht sehr für Henning, darauf keine Antworten zu liefern, sondern das Kerngeschäft guter Kriminalliteratur zu betreiben: Die wirklich „bösen“ Fragen zu stellen und dahin zu gehen, wo es wehtut. Und so ganz nebenbei ist ihm ein hübsches, kleines Stadtporträt von Barcelona gelungen (und ich bin einem alten Kumpel wiederbegegnet, tempi passati, aber das gehört eigentlich nicht hierher).

  • Peter Henning: Die Tote von San Andreu. Verlag :transit, Berlin 2020. 176 Seiten, 20 Euro.

Beste Genre-Tradition

(JF) Klassisch geht es zu, wenn V. I. Warshawski ermittelt. Seit 1982 hat Sara Paretsky 19 Romane um die taffe, aber empathiebegabte Privatdetektivin vorgelegt, nun ist Fall Nr. 18 in deutscher Übersetzung erschienen. Und das ist ein Grund zur Freude. Denn Paretsky versteht sich auf die schwere Kunst, spannende Unterhaltung und politische Aufklärung zu verbinden, ohne dass es platt wird. Okay,  die Ausgangssituation von Altlasten wirkt bei genauem Hinschauen ein wenig konstruiert, doch das ist vergessen, sobald Warshawski  auf dem Weg vom heimischen Chicago ins provinzielle Kansas ist. Dort soll sie einen verschwundenen Filmemacher und seine Begleiterin, eine einst recht berühmte Schauspielerin auf der Suche nach ihren Wurzeln, ausfindig machen. Angeblich ging es den beiden darum, einen biografischen Dokumentarfilm vorzubereiten. Und da es sich bei ihnen um Afroamerikaner handelt, spielt Rassismus keine geringe Rolle, auch wenn niemand gerne darüber sprechen mag.

Das bekommt auch V. I. Warshawski bei ihren Nachforschungen zu spüren. Man zeigt sich der Ermittlerin aus der Großstadt gegenüber zugeknöpft bis feindselig, und nur schwer findet sie Verbündete gegen das örtliche Establishment. Dass sie zudem einflussreichen Militärs auf die Füße tritt, macht die Lösung des Falles nicht einfacher, dafür aber den Plot komplexer. Denn Warshawski deckt nicht nur, wie weiland Ross Macdonalds Lew Archer, finstere Familiengeheimnisse auf, sondern vereitelt auch noch eine handfeste politische Verschwörung und kommt nur um Haaresbreite mit dem Leben davon. Das ist gute Genre-Tradition. Ebenso, wie es selbstverständlich der Detektivin kein Trost ist, dass einer der Hauptschurken sich (angeblich) vor einem Kriegsgericht verantworten muss. Als ob V. I. Warshawski sich jemals Illusionen über den Zustand der US-Gesellschaft gemacht hätte. Was hingegen zählt, ist gute Nachbarschaft. Zurück in Chicago wird sie herzlich von ihren Freunden empfangen. Und die Idylle scheint perfekt. Bis zum nächsten Einsatz.

  • Sara Paretsky: Altlasten (Fallout, 2017). Deutsch von Laudan & Szelinski. Ariadne Verlag, Hamburg 2020. Hardcover, 540 Seiten, 24 Euro.

Versehrte Zivilisation

(rum). Es ist eine unbestimmte Zukunft, in der Ben Smith seinen Debütroman Dahinter das offene Meer angesiedelt hat. Unser Planet macht da einen ziemlich desolaten Eindruck. Der Meeresspiegel ist gestiegen, die Küsten sind überschwemmt. Das Wasser wirkt wegen des darin treibenden Plastikmülls zäh und  dickflüssig. Fische gibt es so gut wie keine mehr. Immer wieder toben heftige Stürme. 

Und denen sind die beiden Protagonisten – Smith nennt sie meist nur der Junge und der Alte – auf ihrer Plattform massiv ausgesetzt. Sie leben auf einem Stück versehrter Zivilisation, 600 Windräder im atlantischen Nirgendwo. Dort sind sie gefangen, kommen nicht weg, weil ihr batteriebetriebenes Boot nur eine geringe Reichweite hat. Also tun sie, wofür die omnipräsente „Firma“, der nicht nur dieser Windpark gehört, sie dorthin geschickt hat. Sie verteidigen die immer maroder werdende Technik gegen die Natur, versuchen notdürftig zu reparieren, was in der Salzluft allmählich rostet, festsitzt, den Geist aufgibt. Ob der erzeugte Strom tatsächlich irgendwohin fließt, ist unklar. Hin und wieder kommt ein Versorgungsschiff und bringt das Nötigste, wobei sich der Schiffsführer seine Dienste gut bezahlen lässt – am liebsten mit Teilen von Generatoren und Windrädern, die er auf dem Festland zu Geld machen kann.  

Es ist ein düsteres Szenario, das der 1985 geborene, im südenglischen Plymouth lebende Ben Smith da entwirft. Dabei deutet er die ganze Misere nur an, zeigt nie das ganze Bild. Auch Erklärungen liefert er keine, erlaubt sich nur den Blick zurück, der hier wohl auch ein Blick nach vorne ist. In kurzen, vom eigentlichen Geschehen völlig losgelösten Naturbeschreibungen, erzählt er vom Untergang Doggerlands. Dieses Doggerland, wie der Roman im englischen Original heißt, verband einst England mit dem europäischen Festland. Es war besiedelt und wurde vor rund 10 000 Jahren von der Nordsee verschluckt, als deren Wasserspiegel stieg.

Sonst aber konzentriert sich Smith ganz auf seine beiden Protagonisten, deren Verhältnis zueinander schwierig ist. Sie trauen sich gegenseitig nicht über den Weg, gleichzeitig ist der jeweils andere doch fast der einzige menschliche Kontakt. Der Junge ist auf der Plattform, weil ihn die Firma zwang, den Vertrag seines Vaters zu erfüllen. Der hatte im Offshore-Park geschuftet, war aber eines Tages verschwunden. Als der Junge ein Boot findet, das sein Vater benutzt haben muss, wird ihm klar, dass der wohl beim Versuch zu fliehen, umgekommen ist. Vom Alten erfährt er nichts, der besäuft sich lieber mit einem aus was auch immer selbst hergestellten Gebräu. Umso mehr keimt in dem Jungen der Wunsch, selbst abzuhauen. Damit weckt er endgültig das Misstrauen des Alten. 

Smith erzählt das in kurzen, klaren Sätzen, in markanten Bildern, mit denen er die Trostlosigkeit der Tage und die nagende Ungewissheit eindringlich und humorlos einzufangen versteht. Einerseits brauchen sich die beiden, andererseits ist hier reichlich Potential zur Eskalation. In diesem Spannungsfeld bewegt sich Smiths beklemmendes Kammerspiel. 

  • Ben Smith: Dahinter das offene Meer (Doggerland, 2019). Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Liebeskind-Verlag, 254 Seiten, 22 Euro.

Auf den Punkt

(TW) So ziemlich alle Konventionen des Comics scheint Martin Panchaud in Die Farbe der Dinge über den Haufen zu werfen.  Eine handfeste Kriminalgeschichte über einen 16-Millionen-Pfund Gewinn beim Pferderennen und anschließender Gewaltexzesse – erzählt mit den sachlich-kühlen Mitteln der Infographik. In strenger Abstraktion sind die handelnden Personen nur farbige Punkte, ihre lokale Situierung ist in gnadenloser Aufsicht von oben gezeichnet. Interieurs und Exterieurs werden so zu genauen Tatortskizzen, die Wege und Bewegungen der Figuren im öffentlichen und privaten Raum gleichen Tracking-Protokollen. Die Infographik versachlicht menschliche Aktivitäten, ohne – im Wortsinn – Ansehen der Person. Das ist gruslig kalt und ziemlich genial. Denn die Geschichte, die erzählt wird, funktioniert ja. Sie verabschiedet sich nur von den Realismus-Konventionen des 19. Jahrhunderts.

In Panchauds grandiosen Abstraktionen verschwinden „Figurenzeichnung“, „tiefe Charaktere“ oder „Identifikationspotential“ – all diese Marterbegrifflichkeiten und abscheulichen Sprachspiele, die sich an überkommenen Vorstellungen von Narration klammern.  Man braucht dieses zopfige Gerümpel nicht – und das gilt dann beileibe nicht nur für Comics.

  • Martin Panchaud: Die Farbe der Dinge. Deutsch von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2020. 224 Seiten, 35 Euro.

Ein Kotzbrocken, den man mag

(hpe) Der Schädel, den ein Pfadfinder gefunden und seinem bewunderten Nachbarn, dem Kommissar Evert Bäckstrom, gebracht hat, weist ein Loch auf. Und im Schädel kullert eine Kugel rum. Da wurde jemand erschossen, das ist klar. Doch mit dem Treffer bei der DNA beginnen die Probleme: Diese Frau ist viele Jahre früher schon einmal gestorben, beim Tsunami in Thailand. Wer zweimal stirbt heisst denn der neue Krimi vom schwedischen Bestsellerautor Leif GW Persson, der auch Schwedens berühmtester Kriminologe ist. Der Roman lebt nicht nur vom geschickt aufgebauten Plot, sondern vor allem auch durch seine Hauptfigur, die Persson nicht zum ersten Mal ins Rennen schickt. »Kommissar Bäckström ist klein, dick und verschlagen«, beschreibt ihn die schwedische Geheimdienstchefin einem, der ihn nicht kennt. »Er hat drei grosse Interessen im Leben: Alkohol, Frauen und dass er sich selbst ein schönes Leben machen und seinen Lohn einstreichen kann, am besten ohne einen Fuss an seinen Arbeitsplatz zu setzen. Ausserdem ist er ein politischer Vollidiot, schwedischer Patriot, xenophob, homophob und im Übrigen auch glühender Anhänger von allen anderen Phobien.«

Bäckström benimmt sich nicht nur daneben, sondern ist der erfolgreichste Ermittler in Stockholm. Wobei er gar nicht wirklich ermittelt. Er hat die eine oder andere gute Eingebung, die Arbeit machen seine engagierten Mitarbeiter. Die Sitzungen mit ihnen setzt er so am Vormittag an, dass er danach rechtzeitig zum mittäglichen Schlemmen in eines seiner bevorzugten Restaurants kommt. An einem idealen Tage geht es dann zu einem Mittagsschläfchen nach Hause, um dann in aller Ruhe beim einen oder anderen Gläschen den Abend mit weiteren Völlereien, einem gepflegten Besäufnis und sexuellen Aktivitäten zu planen.

Das alles erzählt Altmeister Persson, inzwischen 75-jährig, in munterem Plauderton, wobei er scharfe Beobachtungen des Beamtenapparats mit fast schon satirischer Überzeichnungen mischt, ohne dabei auf kundige Einblicke in die Ermittlungsarbeit der Polizei zu verzichten. Das braucht etwas Raum, und so ist «Wer zweimal stirbt» mit gegen sechshundert Seiten ein recht fetter Wälzer. Doch weil die Figuren gut gezeichnet oder auch mal karikiert sind, der Fall schön vertrackt und spannend erzählt ist und daneben alles ziemlich witzig daherkommt, fühlt man sich über die ganze Strecke nicht nur gut, sondern auch intelligent unterhalten. Und irgendwie mag man Bäckström, obwohl er ein Kotzbrocken ist.

Leif GW Persson: Wer zweimal stirbt (Kanma dö två gånger?, 2016). Aus dem Schwedischen von Julia Gschwilm. btb Verlag, München 2020. 574 Seiten, 16 Euro.

Nietzsche ermittelt in der Schweiz

(hpe) Wer beim Krimititel Allzumenschliches an Friedrich Nietzsche (»Menschliches, Allzumenschliches«) denkt, liegt in diesem Fall nicht falsch. Der 1952 in München geborene Autor Wolfgang Bortlik, der seit seinen Teenagerjahren in der Schweiz lebt, lässt in seinem neuen Roman den deutschen Philosophen in Basel ermitteln. Gerademal 24 war Nietzsche, als er 1869 an der Universität Basel Professor für Philologie wurde. Es ist eine wilde Zeit in der Stadt beim Dreiländereck am Rhein: Vor ein paar Monaten gab es den ersten Streik, und jetzt tagt die von Karl Marx mitgegründete Internationale Arbeiterassoziation im Café National. Der bekannte russische Anarchist Michail Bakunin ist dazu angereist, um die Abschaffung des Erbrechts zu propagieren. Das gutbürgerliche Basel ist beunruhigt. Vor diesem Hintergrund hat Bortlik, der schon mehrere in der Jetztzeit angesiedelte Basler Krimis veröffentlicht hat, seine »Criminalgeschichte« angelegt.

Über eine Woche im September 1869 erstreckt sich die in 39 »Capitel« gegliederte Geschichte. Ein Toter am Rheinufer, offensichtlich gewaltsam getötet, steht im Mittelpunkt. Es ist ein Geheimpolizist, der im Auftrag des Basler Bürgermeisters den Arbeiterkongress ausspionierte. Für Polizeihauptmann Weiss ist das «ein blutigblödes Durcheinander», und er hat keine Ahnung, wie er den Täter ermitteln könnte. Ein Basler Großbürger will die Tat einem jungen Arbeiter anhängen, mit dem seine Tochter angebandelt hat. Doch deren Freundin bittet Nietzsche, mit dem sie Klavier spielt, um Hilfe.

Auch der hat von Forensik keine Ahnung, stellt aber fest: »Es ging hier um Logik. Es war ein philologisches Problem, wie ein Übersetzen aus den alten Sprachen. Es gab Fährten und Spuren, aber nur eine führte zum Ziel.« Doch der Kriminalfall und dessen Lösung beansprucht letztlich nur einen kleinen Teil des Romans. Denn daneben widmet sich Bortlik gerne allerlei historischen Abschweifungen. Der Autor kennt sich nicht nur mit Nietzsche aus, sondern vor allem auch mit den alten Anarchisten. So erfährt man nicht nur vom Kongresskonflikt zwischen den Marx-Anhängern aus Deutschland, die den Staat übernehmen wollten, und den Bakunin-Freunden aus der Westschweiz, die den Staat abschaffen wollten, sondern amüsiert sich auch über Anekdoten aus dem Basel jener Zeit.

Dass man weiterliest, auch wenn historische und politische Betrachtungen den fiktiven Kriminalfall zur Nebensache machen, liegt daran, dass Bortlik dabei nicht dröge doziert. Er erzählt mit Charme und Schalk, und er würzt die Sprache mit Ausdrücken aus der Zeit. Vieles, was er erzählt ist historisch belegt. Nicht aber, dass sich Nietzsche und Bakunin 1869 in Basel tatsächlich persönlich begegnet sind.

Wolfang Bortlik: Allzumenschliches. Gmeiner, Meßkirch 2020. 249 Seiten, 14 Euro.

Zweimal gefreut (1): Erstklassig

(JF) Wer seine Vinyl-45er wirklich liebt, spielt sie natürlich auf einem eigens für Singles gedachten Plattenspieler ab, zum Beispiel dem legendären RCA45- J-2  „mit breiter Spindel“. Vor allem dann, wenn es sich um seltene Sammlerstücke handelt, wie sie Freddie „Forty-Five“  Fentyman in seiner Scheune aufbewahrt. Der Plattenantiquar im Cordanzug ist nur eine der skurrilen Figuren aus dem Bekanntenkreis des „Vinyl-Detektivs“, mit dessen Abenteuern der englische Autor Andrew Cartmel seit 2016 die Kriminalliteratur bereichert. Eigentlich darauf spezialisiert, unwissenden Verkäufern in Second-Hand-Läden und auf Trödelmärkten rare Schallplatten für wenig Geld abzuluchsen und teuer wieder zu verkaufen, muss er sich wider Willen mit kriminellen Machenschaften, Mord inclusive, beschäftigen.

Sein zweiter Fall, Killer Rock, führt ihn zurück in die psychedelischen sechziger Jahre. Er soll den Sohn der Pop-Ikone Valerian Drummond, die sich 1967 das Leben nahm, finden. Also klappert er, unterstützt von seinem exzentrischen Freundeskreis, alle möglichen Adressen ab, um ehemalige Bandmitglieder und andere Zeitzeugen zu treffen. Viel Erfolg ist ihm zunächst nicht beschieden, auch die superrare Single der Gruppe, die sich natürlich in Freddies Scheune findet, erweist sich als ein Dokument der Verzweiflung, enthält aber keine geheime Botschaft. Auf der richtigen Spur scheint der Vinyl-Detektiv dennoch zu sein, denn in seiner Umgebung häufen sich mysteriöse Vorfälle, die ihn schon bald um Leib und Leben fürchten lassen. So klärt sich letztendlich auch der Fall fast ohne sein Zutun: Wir haben es nämlich mit einem Täter zu tun, der großen Wert darauf legt, sein Handeln ausführlich zu erläutern. So ganz will ihm das allerdings nicht gelingen, und das ist ziemlich vergnüglich. Schließlich schätzt man einen  Roman wie Killer Rock nicht des ausgeklügelten Plots wegen, sondern erfreut sich an den ausgefallenen Figuren und dem liebevoll gestalteten Ambiente. Sagen wir es so: Leserinnen und Lesern, die (wie der Rezensent) etwas für die populäre Kultur der sechziger Jahre übrig haben, sich gerne in Plattenläden herumtreiben und vielleicht auch noch Katzen mögen, bietet dieses Buch erstklassige Zerstreuung und Belehrung. Was will man mehr.

  • Andrew Cartmel: Killer Rock (The Vinyl Detective: The Run-Out Groove, 2017). Aus dem britischen Englisch von Susanna Mende. Herausgegeben von Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 440 Seiten, 10,95 Euro.

Zweimal gefreut (2): Perfekt unterhalten

(SH) Ach, was hatte ich für einen Spaß mit Murder Swing, dem ersten Roman von Andrew Cartmel mit dem Vinyl-Detektiv! Damals geriet er in eine irre Verschwörung, als er nach einer seltenen Jazz-Platte suchte. In Killer Rock sucht er nun nach einer seltenen Rock-Platte. 

Alles fängt fast genauso an wie in Murder Swing: er bekommt den Auftrag die Single der Band Valerian zu suchen, die zu gleichen Zeit wie ihr rares Album „All the Cats Love Valerian“ erschienen ist. Aber eigentlich – das ist ebenfalls von Anfang an klar – geht es seinem Auftraggeber vielmehr darum, den damals verschwundenen Sohn der toten Lead-Sängerin zu finden. Gemeinsam mit seiner Freundin Nevada und der Unterstützung von seinem besten Kumpel Tinkler sowie der Taxifahrerin Clean Head macht sich der namenlose Vinyl-Detektiv an die Arbeit. 

Die Verbindung aus allerhand Musikgeschichte sowie -referenzen mit einem Kriminalfall, sehr originellen Charakteren und einem bissig-witzigen Erzählstil geht auch in Killer Rock wieder auf. Dazu trägt vor allem bei, dass Cartmel lediglich droht, auf bereits bekannte Erzählmuster abermals zurückzugreifen, aber jedes Mal die Kurve bekommt. Und nicht nur das: Kennt man Murder Swing, erscheint die Bedrohung gelegentlich sogar wesentlich größer, als sie in diesem Fall ist. 

Bestand ein Großteil meines Vergnügens bei Murder Swing aus den Jazz-Referenzen, habe ich auch sehr gerne etwas über Rock gelesen und gelernt. Cartmel hat einen Sinn für die kleinen Absurditäten und große Exzentrik des Lebens und seiner Charaktere. Außerdem vergisst er bei allen Volten und allem kichernden Spaß den eigentlichen Fall nicht, der in Killer Rock noch etwas gerader erzählt ist als in Murder Swing. Es gibt auf dem Krimi-Markt hierzulande nicht viele Bücher, die so perfekt unterhalten. Im nächsten Band wird es um Big-Band-Swing gehen. Ich kann es kaum erwarten.