Geschrieben am 1. Juni 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2020

Bloody Chops – Bücher kurz serviert – Juni 2020

Kurzbesprechungen von fiction – Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Constanze Matthes (com), Alf Mayer (AM), Frank Rumpel (rum) und Jan Christian Schmidt (jcs) über:

Alafair Burke: Die perfekte Schwester
Steph Cha: Brandsätze
Andrea Camilleri: Kilometer 123
Benjamin Labatut: Das blinde Licht
Laura Lippman: Die Frau im grünen Regenmantel
Guillermo Martínez: Die Oxford-Mord+ Der Fall Alice im Wunderland
Nicholas Shakespeare: Boomerang
Nicolas Zeimet: Rückkehr nach Duncan’s Creek

Sandkastenspiele

(hpe) John Dyer kommt gut an bei den Damen der gehobenen Gesellschaft in Oxford. Doch da handelt es sich um ein Missverständnis. »Sie sind gerührt von der Spur Traurigkeit in ihm, verwechseln sie leicht mit etwas Glattem, Rundem, Solidem, in sich Ruhendem – ohne zu merken, dass es sein Absprungbrett in die Leere ist.« Dieser melancholische Ton prägt den Thriller Boomerang des bekannten – wenn auch nicht für dieses Genre – englischen Autors Nicholas Shakespeare. Zentrales Thema ist der Durchbruch in der Kernfusion, der dem iranischen Atomphysiker Rustum Marvar in einem Labor in Oxford gelungen ist. Seine Entdeckung kann die Welt verändern. Sowohl zum Guten wie zum Schlechten. Seine erste Euphorie weicht schnell nackter Angst. Obwohl er versucht hat, die Spuren seines erfolgreichen Experiments zu verwischen, sind ihm bald alle auf den Fersen, darunter die Mullahs aus Teheran, die seine Frau und sein Kind als Geiseln halten, Geheimdienstler aus den USA und Geschäftemacher aus Russland. Wem soll er da trauen?

Doch Shakespeare erzählt nicht Marvars Geschichte, sondern die des Ex-Journalisten Dyer. Der ist aus Brasilien zurückgekehrt, damit sein Sohn die gleiche Schule in Oxford besuchen kann, an der er einst war. Nach Jahren in Südamerika erkennt Dyer den Ort kaum wieder. Jetzt schicken Leute, die etwas zu sagen haben, ihre Kinder auf diese Schule, skrupellose Geschäftemacher und windige Politiker. Dyer wird von ihnen zuweilen eingeladen, doch warm wird er nicht mit ihnen, denn für seine »Erfahrungen mit Themen und Ländern« interessieren die sich nicht, da sie »ihnen keinen Profit versprachen.«

Dyers Sohn Leandro sorgt für etwa brasilianischen Zauber auf dem Schulfußballfeld im kalten England. Dort lernt der Ex-Journalist Marvar kennen, der Vater eines anderen Fußballtalents. Obwohl sie sich nicht kennen, verstehen sie sich ohne viel Worte. So hinterlässt der iranische Atomphysiker sein Geheimnis Dyer, bevor er untertaucht. Nun sieht sich der Mann, der an einem Buch über einen Stamm aus den Urwäldern am Amazonas arbeitet, gezwungen, darüber zu entscheiden, was mit der folgenschweren Entdeckung geschehen soll. Und kaum ist Marvar verschwunden, sind die dunklen Gestalten Dyer auf den Fersen.

»Boomerang« ist ein klug gebauter und brillant erzählter Thriller, der auf leise Töne setzt und gerade deshalb ungekünstelt spannend ist. Es ist letztlich die Geschichte eines Mannes, der immer wieder vor existenzielle Entscheidungen gestellt wird und ihrer langsam müde wird. Im Original, das erst ein Vierteljahr nach der deutschen Übersetzung erscheint, heisst der Roman »The Sandpit«. In der Sandgrube des Schulsportplatzes hat Marvar Dyer seine Formel hinterlassen, und der Titel spielt wohl auch auf die Sandkastenspiele der Mächtigen hin.

  • Nicholas Shakespeare: Boomerang (The Sandpit, 2020). Aus dem Englischen von Anette Grube. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020. 398 Seiten, 25 Euro.

Kleine Vorschau auf Ende August

(jcs) Fast wöchentlich flimmern wackelige Handyvideos über die Bildschirme, die brutale Übergriffe weißer amerikanischer Cops auf Schwarze dokumentieren. Da gibt’s nicht viel zu deuteln, wer Täter und wer Opfer ist. Etwas brüchiger ist die Linie, die Steph Cha in ihrem Roman Brandsätze (dt. von Karen Witthuhn) zeichnet: Die 27-jährige Grace Park arbeitet in der Apotheke ihrer Eltern, die aus Korea nach Los Angeles emigriert waren. Das Verhältnis der ergebenen Tochter zur Familie bekommt Risse, als sie erfährt, dass ihre Mutter zu Beginn der 1990er Jahre das schwarze Mädchen Ava Matthews erschossen hat, weil die Mutter das Mädchen für eine Ladendiebin hielt. Shawn Matthews, der Bruder des getöteten Mädchens, der Zeuge der Bluttat war, hat resigniert und Politik und Protest entsagt. Er lebt ein ruhiges Leben im bürgerlichen Palmdale, nördlich von Los Angeles. Als es in Los Angeles erneut zu einem Zwischenfall kommt, bei dem ein schwarzer Jugendlicher von der Polizei getötet wird, entfaltet sich ein politischer Sturm, der die disparaten Lebensläufe der Familien Park und Matthews durcheinander wirbelt.

Kriminalliterarische Texte vor dem Hintergrund rassistischer Gewalt füllen ganze Regale. Steph Cha aber bringt eine neue, spannende ethnische Perspektive ein, in der keine Seite die gesellschaftliche Macht über die Deutungshoheit der Ereignisse hat. Cha war schon an anderer Stelle in das Thema involviert – vor zwei Jahren hatte sie sich publizistisch gegen die Ernennung der Krimi-Autorin Linda Fairstein zum Grandmaster der Mystery Writers of America engagiert. Fairstein, auch in Deutschland in der ersten Dekade des Jahrhunderts als Autorin populär, hatte 1989 als Leitende Staatsanwältin in New York eine tragende Rolle bei einem Fehlurteil gegen fünf Schwarze Jugendliche gespielt, die fälschlicherweise zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden (Stichwort „Central Park Five“, wenn Sie sich in Details zu dem Fall vertiefen möchten). Eine kritische Revision ihres Handelns oder gar eine Entschuldigung Fairsteins soll es nie gegeben haben. Die Mystery Writers of America gaben dem von Cha und anderen entfachten öffentlichen Druck nach, und zogen die Ernennung wieder zurück.

  • Steph Cha: Brandsätze (Your House Will Pay, 2019). Deutsch von Karen Witthun. ars vivendi, Cadolzheim 2020. Erscheinungstermin: 27.08.2020. Ca. 300 Seiten, 22 Euro.

Viel Freude am literarischen Spiel

(JF) 71 Jahre alt war die Kommunistische Partei Großbritanniens, als sie sich im Jahre 1991 auflöste. Bereits 1988  hatte sich eine Gruppierung, die mit dem reformorientierten Kurs der Mehrheit nichts anfangen konnte, abgespalten, um als Communist Party of Britain den Klassenkampf voranzutreiben. Diese Gruppierung existiert immer noch, gibt die Zeitung Morning Star heraus und hat wahrscheinlich um die 1.000 Mitglieder. Unter einem Verbot hatte, anders als ihre deutschen Genossen, keine der beiden Parteien je zu leiden.

Warum also behauptet Arthur Denton, Mathematikprofessor in Oxford und als Amateurermittler in zwei Kriminalromanen des argentinischen Autors Guillermo Martínez tätig, er sei in seiner Jugend Mitglied der Kommunistischen Partei Großbritanniens gewesen, „die damals verboten war“? Will er seinem Gesprächspartner, einem jungen argentinischen Doktoranden, der auch als Erzähler auftritt,  imponieren und flunkert deshalb ein wenig? Oder möchte er betonen, wie töricht er als junger Mann gewesen ist? Kann es sein, dass sich der Erzähler nicht richtig erinnert? Vielleicht ist dem Autor Guillermo Martínez aber auch schlicht ein Fehler unterlaufen, der weder von seiner Übersetzerin noch vom Lektorat bemerkt wurde? Denton selbst erwähnt im ersten der beiden Romane, welcher bereits 2006 unter dem Titel „Die Pythagoras-Morde“ erstmals auf Deutsch erschienen ist und nun, da endlich ein Nachfolgeband mit dem Titel Der Fall Alice im Wunderland vorliegt, als Die Oxford-Morde neu aufgelegt wurde, dass es bei jedem Verbrechen „eine einzige Erklärung unter allen möglichen“ gebe, die aber gegebenenfalls nicht beweisbar sei.

Diese Analogie zum Unvollständigkeitssatz des berühmten Logikers Kurt Gödel ließe sich auch auf seine kleine Schwindelei anwenden. Doch was ist die wahrscheinlichste Erklärung? Folgt man dem in „Die Oxford-Morde“ häufig zitierten „Prinzip von Occams Rasiermesser“, nach dem „stets die einfache Hypothese den komplizierten“ vorgezogen werde, darf man getrost einen Fehler des Autors annehmen, dessen eigene Studienzeit in Oxford schon einige Jahre zurücklag, als er den Roman verfasste. Auch andere Versehen – es gibt in Großbritannien keine „Viertelpfundmünzen“ und der Geheimdienst heißt nicht „Security Service“ – würden diese Vermutung bestätigen. Aber darf man Detektivromanen, in denen die Beweisführung als stetes, übrigens sehr unterhaltsames, Spiel mit mathematischen Theoremen daherkommt, solch banale Irrtümer unterstellen? Unbedingt, findet Ihr Rezensent und verrät deshalb auch noch rasch, dass Denton und sein argentinischer Ermittlungspartner, der übrigens nicht sein Doktorand ist, wie der Klappentext behauptet, sich in ihrem zweiten Fall mit Biografie und Werk des Oxforder Mathematikers Charles Lutwidge Dodgson, besser bekannt als Lewis Carroll, beschäftigen müssen. Wer an Kriminalromanen vor allem die Rätselstruktur schätzt und Freude am literarischen Spiel hat, kommt um Guillermo Martínez nicht herum.

Guillermo Martínez: Die Oxford-Morde (Crímenes impercebtibles, 2003). Aus dem argentinischen Spanisch von Angelica Ammar. Eichborn Verlag, Köln 2020. 221 Seiten., 14 Euro.

Guillermo Martínez: Der Fall Alice im Wunderland (Los crímenes de Alicia, 2019) Aus dem argentinischen Spanisch von Angelica Ammar. Eichborn Verlag, Köln 2020. 221 Seiten, 16 Euro.

Zwei Schwestern, ein Sohn, ein Mord

(hpe) Alafair Burke versteht das Krimihandwerk. Als Tochter der lebenden Krimiautorenlegende James Lee Burke und der Bibliothekarin Pearl Pai Chu ist sie sozusagen familiär vorbelastet. Ihre Studien in Psychologie und Rechtswissenschaften und die Berufstätigkeit als Bezirksstaatsanwältin für häusliche Gewalt haben zweifellos ihr Verständnis und Wissen rund um Verbrechen erweitert. Und in den vergangenen Jahren hat sie sich, nachdem sie seit 2003 schon eine ganze Reihe eigener Romane veröffentlicht hatte, für fünf Romane als Koautorin der im Januar dieses Jahres 92-jährig verstorbenen »Queen of Suspense« Mary Higgins Clark verdingt. Dass ihr neuer eigener Roman Die perfekte Schwesterebenso gekonnt geplottet wie erzählt ist, überrascht also nicht. 

Chloe Taylor eine arrivierte Journalistin, preisgekrönte Chefredakteurin eines einflussreichen Frauenmagazins, erfolgreiche Buchautorin und Person des öffentlichen Lebens in New York, scheint die »bessere« von zwei Schwestern, wie es im englischen Originaltitel heißt, zu sein. Ihr Mann Adam Mackintosh ist Partner einer bedeutenden Anwaltskanzlei. Und sie haben einen 16-jährigen Sohn, Ethan. Die kleine Familie gibt ein glanzvolles, strahlendes Bild ab. Bis zur Nacht, in der Chloe ihren Mann erstochen auffindet. Chloes Schwester Nicky ist chaotisch, hatte Drogen- und Alkoholprobleme. Ihr Mann ließ sich deswegen scheiden und erhielt das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn. Er zog mit ihm weg von Cleveland nach New York – wo er schon bald Nickys Schwester Chloe heiratete. Die Ermordung Adams macht diese Familienkonstellation des New Yorker Promi-Paares publik. Dann wird der Teenager Ethan auch noch als Mörder seines Vaters vor Gericht gestellt. Im Prozess zeigen sich Abgründe hinter der glänzenden Fassade der Familie. Doch die Sorge um Ethan bringt die beiden entfremdeten Schwestern einander wieder näher.

Alafair Burke mischt in der von Chloe als natürlich nicht unparteiische Icherzählerin geschilderten Geschichte geschickt Elemente von Psychothriller, Gerichtsdrama und Whodunnit-Krimi mit Feminismus light und Glamourszenenklatsch. Die Beziehung zwischen den beiden ungleichen Schwestern ist eines der Themen. Ein anderes sind rüde Beschimpfungen und Drohungen in den sozialen Medien, denen Chloe schon ausgesetzt ist, bevor ihre Fassade bröckelt. Sie hoffe, schreibt Alafair Burke in einer Anmerkung, dass der Roman »zum Nachdenken über die häufig geschlechterspezifische Natur von Drohungen anregt sowie über Missbrauch und Gewalt in unserer Kultur«. Das sind hehre Ziele, daneben bietet der Thriller zumindest spannende und intelligente Unterhaltung. Mit einer überraschenden Lösung des verzwickten Mordfalls.

Alafair Burke: Die perfekte Schwester (The Better Sister, 2019). Aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt. Aufbau Taschenbuch, Berlin 2020. 376 Seiten, 12,99 Euro.

Knapp und gelassen

(rum) Bekannt wurde Andrea Camilleri ja vor allem durch seine knapp 30, millionenfach verkauften Montalbano-Krimis, die im fiktiven sizilianischen Örtchen Vigatà spielen, das für Camilleris Geburtsort Porto Empedocle steht. Neben dieser erfolgreichen Reihe veröffentlichte der 2017 mit 93 Jahren verstorbene, bis ins hohe Alter streitbare Kommunist Camilleri weitere rund 70 Bücher, darunter gewitzte historische Romane, wie etwa „Die Mühlen des Herrn“ oder auch „Ein unschicklicher Antrag“ (wird im September bei Wagenbach neu aufgelegt). Darin setzt ein Holzhändler im Sizilien des Jahres 1891 Himmel und Hölle in Bewegung, um einen Telefonanschluss zu bekommen. Erzählt ist das alles in Briefen, Telegrammen und Dialogen. Genau damit arbeitet Camilleri in dem auch in Italien posthum erschienenen „Kilometer 123“, indem er sich ganz auf die Dialoge verlässt, sie nur um ein paar Zeitungsmeldungen, Polizeiberichte und Mails ergänzt und daraus eine kleine fiese Geschichte macht, in der so ziemlich jeder jeden hintergeht. 

Es sind ein paar leidenschaftliche SMS, die den Ball ins rollen bringen. Die verheiratete Ester versucht ihren Geliebten, den Bauunternehmer Giulio zu kontaktieren. Der kann allerdings nicht antworten, weil er nach einem Autounfall (bei Kilometer 123 auf der Via Aurelia) in der Klinik liegt. Stattdessen liest seine Frau die Nachrichten und beschließt, nachdem sie erfährt, dass er mindestens noch eine weitere Geliebte hatte, ihn zu ruinieren. Sie weiß von Geldunterschlagungen, von Bestechungen und Schwarzarbeit. Derweil spitzt sich die Geschichte an mehreren Enden weiter zu. Da geht es um Machtverhältnisse (gerade in Beziehungen), um Einfluss und Eifersucht. Zu trauen ist da keinem, wobei kurze Gespräche hier ganze Lebenswelten eröffnen. Camilleri hat das wunderbar wendungsreich inszeniert und es mit dem sicheren Gespür für menschliche Schwächen und Niedertracht knapp und gelassen auf den Punkt erzählt.  

  • Andrea Camilleri: Kilometer 123. Roman. (Original: „Km 123“, Mailand, 2019). Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Kindler Verlag, 142 Seiten, 22 Euro.

Mit dem „Prix Dora-Suarez“ ausgezeichnet

(jcs) Mit der Poesie verlassener Tankstellen am Highwayrand wartet der Roman Rückkehr nach Duncan’s Creek des französischen Autors und Übersetzers Nicolas Zeimet auf (Polar Verlag, dt. von Roland Voullié, Nachwort von Thekla Dannenberg). Das Buch ist ein Roadmovie aus den kargen Weiten des amerikanischen Westens: Jake Dickinson kehrt zurück von Los Angeles nach Utah in sein Heimatkaff Duncan’s Creek. In seinem Gepäck hat er die Asche seiner verstorbenen langjährigen Freundin Sam, die auch aus dem kleinen Ort stammt. Jake folgt Sams Bitte und bringt die Überreste der Verstorbenen nach Hause. Der Dritte im Bunde ist ihr gemeinsamer Jugendfreund Ben. Die drei Freunde aus Kindheitstagen sind verbunden und gleichzeitig getrennt durch ein düsteres Geheimnis, das sie seit langen Jahren mit sich tragen und das ihr Leben schicksalhaft prägt. „Ich weiß“, zitiert Zeimet Joyce Carol Oates im Motto des Buches, „wenn du dich nicht um deine Vergangenheit kümmerst, kümmert sie sich eines Tages um dich“. 

„Rückkehr nach Duncan Creek“ wechselt von Kapitel zu Kapitel zwischen Vergangenheit und Gegenwart und entfaltet Stück für Stück ein Roadmovie über Freundschaft, Liebe und Gewalt. Der Roman wurde in Frankreich mit dem „Prix Dora-Suarez“ ausgezeichnet, benannt nach der Figur aus dem Roman „Ich war Dora-Suarez“ des englischen Kult-Autors Robin Cook, der – hier der Zusammenhang zu „Duncan’s Creek“ – die ganz dunklen Bereiche einer kaputten Gesellschaft literarisch ausleuchtete.

  • Nicolas Zeimet: Rückkehr nach Duncan’s Creek. Deutsch von von Roland Voullié. Polar Verlag, Stuttgart 2020. 392 Seiten, Hardcover, 22 Euro.

Comeback von Tess Monaghan 

(hpe) Die Amerikanerin Laura Lippman, inzwischen 61-jährig, gehört zu jenen Krimiautorinnen, die das klassische Rollenmodell des Tough Guy Detective feminisiert haben. Sie hat ihre Privatdetektivin Tess Monaghan 1997 in »Baltimore Blues« erstmals in der größten Stadt des kleinen US-Bundesstaates Maryland in den Einsatz geschickt. Vier der frühen Monaghan-Romane erschienen Anfang der Zweitausenderjahre auch auf Deutsch (in der damaligen Krimi-Reihe des Rotbuch Verlags). Der junge Kampa Verlag ermöglicht Tess Monaghan jetzt ein Comeback auf Deutsch. Wobei man sich fragt, warum er dafür ausgerechnet den Titel Die Frau im grünen Regenmantel ausgewählt hat. Den kurzen Roman hat Lippman als 2008 als Fortsetzungsroman für das »New York Times Magazine« geschrieben, nachdem ihr Standalone »What the Dead Know« 2007 ihr erstes Buch auf der renommierten Bestsellerliste der »New York Times« gewesen war. In Buchform erschien er erst 2011, wohl vor allem, um eine größere Lücke in der Monagahn-Serie zu stopfen.

Der Anfang der Geschichte erinnert etwas an den Hitchcock-Film »Das Fenster zum Hof«(»Rear Window«), in dem James Stewart, der wegen eines Beinbruchs an die Wohnung gefesselt ist, durchs Fenster die Nachbarn beobachtet und dabei einem Mord auf die Spur zu kommen scheint. Tess Monaghan ist wegen Komplikationen im letzten Monat ihrer Schwangerschaft ans Bett gefesselt und beobachtet durch das Fenster der Veranda während Tagen eine Frau mit ihrem Hund auf dem Spaziergang im Park. Frau und Hund tragen schicke grüne Regenmäntel. Als eines Tages nur noch der Hund auftaucht, nimmt Tess ihn bei sich auf und macht sich, assistiert von der Mitarbeiterin ihrer Detektei und einer Freundin, auf die Suche der verschwundenen Frau. Bald geht sie davon aus, dass diese ermordet worden ist. Denn schon die früheren Frauen ihres Gatten sind unter seltsamen Umständen ums Leben gekommen. Tess sieht sich einem Serienkiller auf der Spur. Die durchaus kurzweilige Geschichte ist gekonnt und mit einer guten Portion Humor erzählt. Es mag zwar nicht der beste Monaghan-Roman sein, doch damit beginnt Kampa erfreulicherweise, die ganze Reihe herauszugeben. Bereits im September erscheint »Baltimore Blues« unter dem neuen deutschen Titel »Die Geliebte des Verlobten«. Die gesamte Reihe umfasst bisher zwölf Bände.

  • Laura Lippman: Die Frau im grünen Regenmantel (The Girl in the Green Raincoat, 2011). Aus dem Englischen von Sepp Leeb. Kampa Verlag, Zürich 2020. 189 Seiten, 16,90 Euro.

Buch mit Sogwirkung

(com) Genie: Überragende schöpferische Begabung, Geisteskraft. So erklärt der Duden das Wort, mit dem neben Künstler oft auch hochrangige und einflussreiche Wissenschaftler beschrieben werden. Sie scheinen aus der Welt gefallen zu sein und haben doch die Welt verändert. Vier der herausragenden Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts stellt der chilenische Autor Benjamin Labatut in seinem nicht minder herausragenden Debütroman Das blinde Licht vor. Der Leser lernt darin Fritz HaberKarl SchwarzschildAlexander Grothendieck und Werner Heisenberg und ihre ganze eigene Welt kennen. 

Jeder steht für ein Fach: Chemie, Mathematik, Physik und Astrophysik. Zugegeben recht anspruchsvolle Materie. Doch Labatut vermag es eindrucksvoll, in einer Mischung aus Essay und Erzählung mit mehr oder minder fiktivem Anteil schwierige wissenschaftliche Inhalte verständlich und die Schicksale der vier Koryphäen sowie die postiven wie negativen Folgen ihrer Errungenschaften zu beschreiben. 

Der in Rotterdam geborene Chilene setzt die Urkatastrophe des vergangenen Jahrhunderts, den Zweiten Weltkrieg, an den Anfang seines Werkes. Zwei der verheerendsten Waffen gehen auf zwei der eingangs erwähnten Wissenschaftler, sogar Nobelpreisträger, zurück. Fritz Haber (1868 – 1934) entwickelte nicht nur die Grundlage für künstlichen Dünger. Der Chemiker, der bereits im Ersten Weltkrieg Giftgas-Angriffe geplant hatte, stellte später das gasförmige Pestizid Zyklon her. Während der Wissenschaftler jüdischer Abstammung aus dem Dritten Reich nach England, später in die Schweiz emigrieren konnte, wo er kurz darauf in Basel verstarb, werden Angehörige seiner Familie einige Jahre später nach seinem Tod im Konzentrationslager vergast. Werner Heisenberg (1901 – 1976), dem der letzte und auch längste Text im Band gilt, hat hingegen mit seinen Formeln zur Quantenmechanik und zur Unschärferelation die Physik revolutioniert. Er war am Uran-Projekt der Nazis zur Herstellung einer Atombombe beteiligt. In einem Internierungslager der Briten nahe Cambridge erfuhr Heisenberg schließlich, dass am 6. August 1945 eine Atombombe auf Hiroshima abgeworfen wurde. 

Labatut zieht geschickt Fäden, verdichtet Ereignisse und Lebensgeschichten. Immer wieder gewinnt der Leser den Eindruck, alles ist miteinander verbunden: Die Protagonisten werden in ihrer jeweiligen Zeit gesehen sowie zu anderen Wissenschaftlern, so unter anderem Albert EinsteinErwin Schrödinger oder Shin’ichi Mochizuki, in Verbindung gesetzt. Fast als ein Leitgedanken für diesen Band mit dem Untertitel „Irrfahrten der Wissenschaft“ können wohl auch folgende Worte des Astronomen und Physikers Karl Schwarzschild (1873 – 1916) verstanden werden: „(…) nur eine Gesamtschau, wie die eines Heiligen, eines Verrückten oder eines Mystikers, wird uns den Schlüssel an die Hand geben für die Art und Weise, wie das Universum organisiert wird.“ Trotz der Kühle der Zahlen und Fakten, der wissenschaftlichen Gedanken und Formeln – der Band wirkt dann besonders eindrücklich, wenn er das spezielle Wesen der vier großen Köpfe, ihren geradezu obsessiven Wissenshunger und ihre „eigenartigen“ Verhaltensweisen, in den Fokus rückt. Wie Nächte ohne Schlaf, Tage ohne Nahrungsaufnahme, völliger Rückzug, die Auseinandersetzungen mit Kollegen. Ein besonders drastischer Fall: Alexander Grothendieck (1928 – 2014) zog sich komplett aus der Öffentlichkeit zurück und  verabschiedete sich von einem bürgerlichen Leben. 

„Das blinde Licht“ entwickelt eine Sogwirkung, man wird hineingezogen in die Lebensgeschichten, in diese Zeit, in die Welt der Wissenschaft, allerdings ohne dass der Inhalt den Leser überfordert. Labatuts fächerübergreifende und tiefsinnige Werk vermittelt wohl mehr Wissen und Zusammenhänge als so mancher Unterricht in der Schule.

  • Benjamin Labatut: Das blinde Licht (Un verdor terrible, 2020). Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 188 Seiten, 22 Euro.

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