Geschrieben am 1. Juli 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2020

Bloody Chops – Bücher kurz serviert – Juli 2020

Kurzbesprechungen von fiction – Hanspeter Eggenberger (hpe), Joachim Feldmann (JF), Sonja Hartl (SH), Alf Mayer (AM), Ulrich Noller (UN) und Frank Rumpel (rum) über:

James Lee Burke: Blues in New Iberia
Tommie Goerz: Meier
Araminta Hall: The Couple
Meena Kandasamy: Schläge
Mario Vargas Llosa: Harte Jahre
Bernard Minier: Schwestern im Tod
Roman Voosen, Kerstin Signe Danielsson: Die Taten der Toten
William Wells: Sun Detective – Schatten über Florida

Faustrecht, nicht nur der Prärie

(AM) 586 Seiten, ziegelstein-dick. Dieser 22. Robicheaux-Roman erschien in den USA im Januar 2019. Nach „Mein Name ist Robicheaux“ im vergangenen Jahr ist Blues in New Iberia damit bereits der zweite aktuelle Titel in der Gesamtausgabe der Detektivromane von James Lee Burke im Pendragon Verlag (16 davon lieferbar), Übersetzer erneut der bewährte Jürgen Bürger, er hat nicht den einfachsten Job. James Lee Burke, 84 Jahre alt und immer noch hochproduktiv, hat für sich – neben den bewährt traumschönen Landschaftsschilderungen – eine eigene Form von lakonischem Pathos entwickelt, das seine Hauptfiguren mehr und mehr zu Rittern macht, die auf den Schultern eines abendländischen Kulturguts stehen, wie es sich vielleicht heute nicht (mehr) jedem Leser erschließt.

Dass Dave Robicheaux‘ Geliebte Bailey der Westernschönheit in einem John-Ford-Film ähnelt und beim Liebemachen „stöhnt wie eine von Homers Sirenen“ (Seite 402, im US-Original S. 304) mag gerne sein, oder dass Daves Freund Clete Purcel den Gefährte von Wonder Woman geben könnte, wie Robicheaux auf Seite 474 sinniert. Aber was ist mit dem Verweis, dass eine der zentralen Figuren, „nach Roncevaux gehört“? Das ist eine von Burke nicht eigens erklärte Chiffre für das Rolandslied, für die Reconquista, den vorgezogenen Kreuzzug, für einen christlichen Märtyrertod im Kampf gegen „die Heiden“. Der Epilog benennt dann auch, dass uns hier in toto „eine manichäische Geschichte“ erzählt worden ist. Benannt nach dem Perser Mani (216 – 276) geht es hierbei um das Geistesprinzip des inneren Lichts, der Manichäismus sieht Welt und Mensch als Schauplatz eines gigantischen Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen den Mächten des Lichtes und denen der Finsternis. – „A Private Cathedral“ heißt denn auch der neue Robicheaux-Roman, der jetzt im August in USA erscheint.

Eine Nummer kleiner und schon in „Mein Name ist Robicheaux“ ein Thema, dieses Mal jedoch eine stets wiederkehrende Metapher, ist das ikonografische Schlussbild aus John Fords großem Western „Faustrecht der Prärie“ (My Darling Clementine) von 1946 mit Cathy Downs als Clementine Carter und Henry Fonda als Wyatt Earp. Die beiden stehen am Rande eines Feldwegs, der ins Ödland führt. Er wird gleich in die Ferne reiten, um neue Gefahren zu suchen und dabei vielleicht irgendwo zu sterben. Zitat:
In der Ferne ein kahler Berg geformt wie ein Denkmal oder ein verfaulter Zahn. Die Oberfläche durchzogen von senkrechten Rinnen. Die vorsintflutliche Trockenkeit und unendliche Weite der Umgebung ließen einem den Kopf schwirren.
„Die Frau sieht so hübsch und unschuldig aus. Verabschiedet er sich von ihr?“
„Ja, macht er.“
„Ich verstehe das nicht. Warum nimmt er sie denn nicht mit?“
„Das weiß keiner.“
„Macht mich irgendwie ganz traurig.“
„Wahrscheinlich, weil Sie ein einfühlsamer Mensch sind.“

Männer, die immer wieder in den Kampf ziehen müssen – und Frauen, die zurückgelassen werden. All das Ungesagte und Unsagbare zwischen den Zeilen, selbst wenn ein Robicheaux-Roman heute 586 Seiten hat. Der Kriminalroman als Resonanzkörper – James Lee Burke ist sein wohl größter lebender Minnesänger. Praller Stoff, reiches Buch. Und ja, manichäisch.

  • James Lee Burke: Blues in New Iberia (The New Iberia Blues, 2019). Übersetzt von Jürgen Bürger. Pendragon Verlag, Bielefeld 2020. 586 Seiten, Klappenbroschur, 22 Euro.

Eigene Freiheit

(rum) Meier hat Zeit. Seit er alles verloren hat, ist Hektik unangebracht. Zehn Jahre saß er als Frauenmörder im Knast. „Leben in der Warteschleife.“ Allein: Er war es nicht, wenngleich die Beweislast erdrückend schien. Nun ist er draußen, muss ganz neu anfangen. Dafür hat er die Jahre im Gefängnis genutzt, hat Kontakte geknüpft und ein paar Sachen gelernt von Leuten, die man sonst eher nicht trifft. Also besorgt er sich Geld (Einbruch, Autodiebstahl) und löst die einzige Verpflichtung aus Knasttagen ein, indem er einem tschetschenischen Mafiosi eine Botschaft von dessen inhaftiertem Kollegen übermittelt. Ansonsten versucht er sich – umgänglich, hilfsbereit und praktisch veranlagt, wie er ist – an einem unauffälligen Leben, das jedoch ganz eigene Schwierigkeiten birgt. Da sind bizarre Zeitgenossen und die Last, ein Ex-Knacki zu sein. Das erfordert  ständige Wachsamkeit, die sich schließlich auszahlt, als er eher zufällig über die entscheidende Information stolpert: Die Namen derer, die ihn damals als Sündenbock ins Gefängnis schickten. 

Tommie Goerz, der im richtigen Leben Marius Kliesch heißt und promovierter Soziologe ist, hat mit „Meier“ einen klasse Roman geschrieben und eine interessante Figur geschaffen. Denn dieser Meier hatte Familie, Freunde und einen Job, bevor er zehn Jahre mit Zuhältern, Mördern, Schlägern, Dealern und Betrügern verbringen, sich in der Knasthierachie zurechtfinden, sich mit Monotonie und Willkür arrangieren musste. Was wird aus einem, der eben nicht zur Besserung einsitzt, aber dennoch Teil eines geschlossenen Kosmos wird, der ihm fremd ist und in dem er sich doch einen Platz suchen muss? Meier beschließt, sich nicht aufzugeben, nicht zornig zu werden, sondern eine Wette auf die Zukunft abzuschließen, in der er ein anderer sein wird. Einmal draußen, wird er genau das, wofür ihn alle bisher hielten, kein Mörder, aber ein Krimineller, der gewieft und besonnen agiert, sich in Gelddingen nimmt, was er braucht („Das war seine Freiheit. Er würde sie sich nie wieder nehmen lassen.“) und eben die eine offene Rechnung begleicht. 

Goerz braucht dafür gar nicht weit auszuholen, bleibt ganz bei seiner Figur, erzählt knapp und konzentriert bis hinein in die durchaus alltagstauglichen Dialoge und trifft damit genau den richtigen Ton. Dabei bohrt er sich immer wieder tief in eine Situation. „Wasser macht ein so reiches Geräusch, wenn man hinhört“, heißt es da etwa, als Meier über seine Zeit im Knast und über kleinstes Glück am Spülbecken sinniert. „Geräusch von Freiheit und Ferne.“ Goerz, der auch Musik macht und bisher unter anderem neun Regionalkrimis (der neunte ist gerade erschienen) um den Nürnberger Kommissar Friedo Behütuns veröffentlicht hat, arbeitet nicht nur in diesem Roman mit leisem, aber bissigem Humor. Sein Meier, der wie Garry Dishers Wyatt ohne Vornamen auskommen muss, ist einer, der sich gegen einige Widerstände neu erfindet, dabei aber eben nicht verbissen, sondern mit der dafür nötigen Gelassenheit zu Werke geht, wohl wissend, dass sich vieles irgendwann fast von selbst ergibt. Naja, ein bisschen nachhelfen muss man gelegentlich schon.

  • Tommie Goerz: Meier. Ars Vivendi, Cadolzburg 2020. 164 Seiten, 18 Euro.

Beeindruckend, und das gleich mehrfach

(UN) Kürzlich wurde die neue litprom-“Weltempfänger”-Bestenliste für den Sommer 2020 bekannt gegeben. Ganz oben findet sich Schläge. Ein Porträt der Autorin als junge Ehefrau, der zweite Roman der indischen, jetzt in London lebenden Schriftstellerin Meena Kandasamy, die bislang vor allem als Dichterin bekannt war. Basierend auf eigenen Erfahrungen, erzählt Meena Kandasamy die Geschichte einer Ehe, die als Liebesgeschichte begann, sich aber immer mehr zu einer Gewaltbeziehung und zu einer der Zwangsentmündigung der Frau durch den Mann entwickelt, bis sie sich irgendwann, irgendwie befreien und ein anderes Leben, ihr Leben beginnen kann. Meena Kandasamy schildert, wie gesagt, persönliche Erfahrungen – die sie allerdings so dramatisiert und anlegt, dass das Prototypische daran sichtbar und auch spürbar wird. Die Geschichte einer Entmündigung, die zugleich auch die einer Selbst-Entmündigung ist, hier wie da schaut Meena Kandasamy sehr genau hin. 

Das Lese-“Erlebnis” dieses Buches ist auf eine merkwürdige Weise zwiespältig: Was die junge Ehefrau erlebt und später als (immer noch junge) Schriftstellerin erzählt und verarbeitet, ist natürlich erschütternd. Zugleich ist Meena Kandasamys Geschichte aber auch faszinierend zu lesen, weil sie über ein großartiges literarisches Talent verfügt, die Art wie sie ihr Erlebtes erzählt, sprachlich wie auch kompositorisch, ist beeindruckend. Und indem sie aus dem Vollen ihres jetzt schon immensen erzählerischen Fundus schöpft, kann sie ihre Erfahrung verarbeiten, so scheint es, und so wird aus der autobiographischen Erzählung zugleich ein – ausgesprochen kunstvoller – Roman. Meena Kandasamy ist jetzt Mitte Dreißig, von ihr wird man sicher noch viel hören und lesen, ein Ausnahmetalent.

  • Meena Kandasamy: Schläge. Ein Porträt der Autorin als junge Ehefrau. Übersetzt von Karen Gerwig. CulturBooks Verlag, Hamburg 2020. Hardcover mit Lesebändchen. 264 Seiten, 22 Euro.

Psychothriller mit Thrill

(JF) Wussten Sie schon, dass die vermutlich giftigste Schlange der Welt Taipan heißt?  250.000 Mäuse und einhundert erwachsene Männer ließen sich mit dem Gift eines einzigen Bisses umbringen. Nützliche Informationen dieser Art hält der neue Psychothriller des französischen Autors Bernard Minier bereit. Aber auch in anderer Hinsicht erweist sich die Lektüre des Buches als lehrreich. Wer hätte gedacht, dass es in Frankreich Kommunionkleider auch in Erwachsenengrößen zu kaufen gibt? Und das nicht nur, damit fiktive Ritualmörder ihre Opfer damit ausstaffieren können.

Aber kehren wir an den Anfang des fünften Bandes der Reihe um den schwer geprüften Ermittler Martin Servaz zurück. Als junger Polizist ist er an der vermeintlichen Aufklärung eines Doppelmords beteiligt, dessen Opfer, zwei Schwestern Anfang zwanzig, Kommunionkleider tragen. Als wahrscheinlicher Täter gilt Erik Lang, ein Schriftsteller, der in seinem ersten Bestseller einen vergleichbaren Fall  schildert. Dass die jungen Frauen als Fans des Romans in persönlichem Kontakt mit dem Autor standen, erhärtet den Verdacht. Doch dann taucht ein schriftliches Geständnis des wahren Mörders auf, der sich allerdings erhängt, bevor er von der Polizei befragt werden kann. 

Ein Vierteljahrhundert später ist aus dem Kriminalfrischling ein berühmter Ermittler geworden, dessen gelöste Fälle, so will es sinnigerweise die Übersetzerin, „die Feuilletons“ füllen. Und wieder einmal ist Erik Lang in einen Mord verwickelt, das Opfer trägt ein Kommunionkleid und ist seine eigene Frau, gestorben an einer hohen Dosis diverser Schlangengifte. Hat der Autor, ein passionierter Reptilienfreund, der gleich dreizehn unterschiedliche Exemplare besitzt, etwa seine schriftstellerische Phantasie Wirklichkeit werden lassen? Dieser Frage widmet sich Martin Servaz in der zweiten Hälfte des Romans mit Leidenschaft, um in einem Abwasch auch den alten Fall endgültig zu lösen. Dass solche Ermittlungen nicht ohne körperliche und seelische Blessuren abgehen, versteht sich von selbst. 

Bernard Minier ist ein routinierter Erzähler mit einem Sinn für Selbstironie und wahrscheinlich erheblich sympathischer als sein erfundener Kollege Erik Lang. Wer das Genre mag und sich bei der Lektüre nicht zu viele Fragen stellt, wird sehr anständig unterhalten. 

  • Bernard Minier: Schwestern im Tod (Soeurs, 2018). Aus dem Französischen von Alexandra Baisch. Droemer Verlag, München 2020. 428 Seiten, 14,99 Euro.

»Detective Fiction«

(hpe) Der Amerikaner William Wells, der in Journalismus, Marketing und Corporate Publishing sowie als Redenschreiber für Politiker tätig war, begann erst im Rentenalter Krimis zu schreiben. Und diese wirken auch etwas old-fashioned. Dennoch hätten sie auf Deutsch schlauere Titel verdient. Was zum Teufel ist ein »Sun Detective«?, fragte ich mich vor einem Jahr, als ich über diesen Titel stolperte. Mit dem Originaltitel, »Detective Fiction«, kann man eher etwas anfangen. Und die Geschichte um einen pensionierten Detective des Chicago Police Department, der in Florida eine Bar betreibt, erwies sich zwar als eher leichter Stoff, aber durchaus witzig. Darum jetzt in Blick in den Nachfolger, der im Original »The Dollar-a-Year Detective« heisst und auf Deutsch wiederum Sun Detective, diesmal, zur Unterscheidung, mit dem Allerweltszusatz Schatten über Florida.

Der »Sonnendetektiv«, der im Buch nie so bezeichnet wird, heißt Jack Starkey. Er war erfolgreicher Mordermittler in Chicago. Jetzt lebt er in Fort Myers Beach, einer Kleinstadt am Golf von Mexiko in Florida, auf einem Hausboot, betreibt eine Bar und ist liiert mit einer Immobilienmaklerin mit kubanischen Wurzeln. Alles schön. Nur dass er sich seit dem Tag, als er in Chicago seine Marke zurückgegeben hat, »immer halb nackt gefühlt« habe. Weil er sich mal »wieder nützlich fühlen« will, ist er sofort dabei, als der lokale Polizeichef, ihn um seine fachkundige Hilfe in einem spektakulären Mordfall bittet – zu einem Jahresgehalt von einem Dollar. 

Die Ermordung eines Bankiers und seiner Frau weitet sich bald aus zu einer Geschichte um Offshore-Ölbohrungen vor der Küste Floridas, in welche regionale Politiker und russische Oligarchen verwickelt sind. Mit der Hoffnung, dass irgendjemand auspackt und mit reihenweise sarkastischen Kommentaren hangelt sich Starkey durch den Fall. »Ein Topermittler wie ich muss zumindest so tun, als befrage er jede Menge Leute und suche überall nach Hinweisen, bis sich endlich ein Spitzel meldet und mir erzählt, wer der Täter ist.« Die Geschichte ist leidlich unterhaltsam. Einen besonderen Reiz bekommen die Romane durch ein Doppelspiel mit der Fiktion, das jedoch ein bisschen raffinierter sein könnte. Passagen aus einem Kriminalroman eines Chicagoer Journalisten, für dessen Protagonisten Jack Starkey das Vorbild ist und den er gegenliest, fließen in die Geschichte ein. Die fiktive Welt sei der realen oft vorzuziehen, findet Starkey. 

Wie sein Held verbringt auch Autor Wells sein Rentnerleben in Florida. Dabei verliert er nicht den manchmal kritischen und immer wieder recht illusionslosen Blick auf das sonnige Rentnerparadies. »Man tut was man kann«, lässt er Starkey philosophieren, »bis zu dem Tag, wenn man sich im Tagesraum des Seniorenheims zum Glücklichen Pelikan wiederfindet, sich Haferschleim auf den Schlafanzug sabbert, Wiederholungen von ›Perry Mason‹ anschaut und sich zu erinnern versucht, ob heute Bingo-Abend ist.«

  • William Wells: Sun Detective – Schatten über Florida (The Dollar-a-Year Detective, 2018). Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Wilhelm Heyne Verlag, München 2020. 298 Seiten, 9,99 Euro.

Elegant dramatisiert

(UN) Lateinamerika verstehen – dazu sind zum Beispiel die Geschichten des peruanischen Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa ein probates Mittel. In seinem aktuellen Roman Harte Jahre erkundet er die Zeitgeschichte Guatemalas – und sucht Antworten die Frage, warum das Land ab Mitte des 20. Jahrhunderts jahrzehntelang von Bürgerkrieg, Militärdiktaturen, Hetzjagden auf “Linke” etc. geprägt war. Die Antwort des Romans, basierend auf zeitgeschichtlichen Fakten: Ein russisch-stämmiger US-Einwanderer, der als Bananenimporteur zum Multimillionär wurde, ist verantwortlich; zusammen mit seinem so amoralischen wie brillanten PR-Berater. Aus geschäftlichen Gründen suggerierten sie zunächst der US-Öffentlichkeit, somit dann auch der Politik, dass Guatemala “kommunistisch” zu werden drohe, und zwar wieder besseres Wissen; die CIA organisierte und finanzierte einen blutigen Machtwechsel, der Rest ist Geschichte. 

Die schildert Mario Vargas Llosa natürlich nicht lehrbuchhaft, sondern als Politkrimi mit Zügen eines Abenteuerromans, mit vielen Wendungen und spannenden Protagonisten, das Ganze elegant dramatisiert und geschrieben. Altmeisterlich im besten Sinne. Und interessant ist das alles nicht nur mit Blick auf Guatemala und seine Geschichte und mit dem auf die Wirkweisen zwischen Ökonomie und Politik, sondern sehr zeitgemäß auch in der ausgesprochen heutigen Frage, welche Zusammenhänge es in einer Demokratie zwischen PR und Politik geben kann – und was für gravierende, für viele Menschen tödliche Folgen daraus möglicherweise erwachsen. Besonders bemerkenswert ist in dem ganzen Kontext übrigens die Figur einer Frau mit dem Spitznamen “Miss Guatemala”, deren im wahrsten Sinn so zwielichtige wie doppelbödige Lebensgeschichte mit den politischen Ereignissen eng verwoben ist – die Idee zum Roman beruht unter anderem auf einer Begegnung mit ihrem “realen Vorbild”, die Mario Vargas Llosa am Schluss des Buches schildert; allein das schon ist die Lektüre wert.

  • Mario Vargas Llosa: Harte Jahre (Tiempos recios, 2019). Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 412 Seiten, 24 Euro.

He said, he said

(SH) „Crave“ haben Verity und Mike ihr Lieblingsspiel genannt. Sie gehen getrennt in dieselbe Bar, warten, dass V von einem anderen Mann angesprochen wird und auf ihr Zeichen hin kommt Mike und fragt den Typen, warum er seine Freundin anmacht. Diese Demonstration von Macht und Zugehörigkeit hat sie ungemein erregt. V – so nennt Mike seine Freundin – hat dem Spiel den Namen gegeben. V hat die Kontrolle. Doch dann hat sich V von Mike getrennt und will einen anderen Mann heiraten. Für Mike war der Fall klar: Es ist der Beginn eines weiteren Crave. Allerdings sitzt er nun zu Beginn von Araminta Halls The Couple wegen des Verdachts auf Mord im Gefängnis und erzählt seine Geschichte.

Diese Geschichte beginnt im Grunde genommen erst mit der Beziehung mit V. Er kann kaum fassen, dass die reiche, beliebte und wunderschöne V mit ihm, dem stillen, seltsamen Pflegekind, eine Beziehung eingegangen ist. Acht Jahre lang hat er alles getan, um ihr zu gefallen: Er hat seinen Körper trainiert, seine Verhaltensweisen angepasst, sein ganzes Denken auf V ausgerichtet. Für ihn ist diese Beziehung perfekt – er erkennt nicht, dass sie das nur ist, weil er alles macht, um ihr zu gefallen. 

So erscheint es zumindest in den ersten zwei Teilen des Romans, in denen Mike unzuverlässig und sehr redundant von den Monaten vor der Tat erzählt. Sie sind der Ansatzpunkt für die Verteidigungsstrategie von Mikes Anwalt. Er will beweisen, dass Mike manipuliert wurde – von V. Hier wird „The Couple“ nun sehr interessant. Seit „Gone Girl“ misstrauen Leser*innen insbesondere den Frauenfiguren in Domestic Thrillern – und V bietet dank Mikes Erzählung ausreichend Anknüpfungspunkte für dieses Misstrauen, allein aufgrund ihrer privilegierten Herkunft und ihrem oft sorglosen und widersprüchlichem Verhalten. Leider werden diese Widersprüche durch eine im Nachwort nachgereichte Deutung komplett aufgelöst. Das ist schade, denn gerade der Domestic Thriller eignet sich grundsätzlich hervorragend für eine Erzählung über das ständige Misstrauen, das Frauen begegnet. 

  • Araminta Hall: The Couple (Our Kind of Cruelty, 2018). Übersetzt von Jens Plassmann. Heyne Verlag, München 2019. 416 Seiten, 9,99 Euro.

In Sachen Olof Palme

(UN) Das ist doch mal ein gutes Timing: Am 10. Juni 2020 wurden die Ermittlungen in Sachen Palme-Mord eingestellt – und genau an dem Tag erschien Die Taten der Toten von Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson: DER topaktuelle Roman zum Thema – der deutlich macht: Betrachtet man die die Möglichkeiten, die aus den Fakten folgen, ist diese Einstellung alles andere als letztlich überzeugend.

Olof Palme, der schwedische Ministerpräsident, wurde im Februar 1986 erschossen, nachts, nach einem Kinobesuch mit seiner Frau – der große ungelöste Kriminalfall Schwedens schlechthin, vielleicht sogar Europas. Nach katastrophal-dilettantischen Ermittlungen konnte nie ein Täter identifiziert werden, mehrere, zum Teil aufsehenerregende Spuren, die zum Beispiel zu alten und neuen Nazis, in die Polizeibehörden, zur PKK und zur südafrikanischen Apartheits-Regierung wiesen, führten letztlich ins Nichts – bis vor einigen Jahren die Ermittlungen wieder aufgenommen wurden, nachdem Recherchen von Journalisten die Variante mit dem “Skandia-Mann”, einem radikalrechtsverdrehten Einzeltäter verdichteten.

Er war’s wohl, so kann man das Ergebnis die Entscheidung der zuständigen Staatsanwaltschaft von Anfang Juni kurz zusammenfassen, und weil der Mann nun selbst schon längst das Zeitliche gesegnet hat, macht es keinen Sinn, weitere Ermittlungen voran zu treiben. Deckel drauf also, die leidige Geschichte endlich abschließen. Ernsthaft? Denn ganz so einfach ist es tatsächlich dann doch nicht: Wenn der “Skandia-Mann” Palme erschoss, könnte er dann nicht Hinterleute gehabt haben? Das wäre zum Beispiel eine offene, angesichts der Hinweise auch nahe liegende Frage. Sowieso sind es letztlich bloß Indizien, die auf seine mögliche Täterschaft hinweisen, sichere Beweise gibt es nicht. Die Tatwaffe zum Beispiel ist nach wie vor verschwunden.

Anders als in “Die Taten der Toten”, der Roman fängt nämlich mehr oder minder damit an, dass Kommissarin Stina Voss, eine der beiden zentralen Heldinnen der Reihe von Voosen/Danielsson, diese Waffe findet – und zwar im Nachlass ihres verstorbenen Vaters. Was eine klandestine Ermittlung auslöst, das ganze Team arbeitet mit, allerdings unter dem Radar, denn diese Recherche ist nicht bloß illegal und unerwünscht, sondern auch extrem gefährlich. Vor allem für Stina Voss.

Im Folgenden werden nun erstmal – etwas bemüht als Krimiplot verkappt – alle bekannten Indizien und Spuren in Sachen Palme-Attentat sorgsam abgearbeitet, auch die mit dem “Skandia Mann”, das ist sozusagen der erste Teil des Romans. Im zweiten kommt dann der zentrale Vorzug der Literatur allen anderen Formen der (zeitgeschichtlichen) Recherche gegenüber zum Tragen: im Möglichkeitsraum auf Basis der Fakten entstehen ganz neue Dynamiken, die schließlich auch zu anderen Erkenntnissen führen als die, die nun offizielle Lesart sind. Das ist höchst interessant zu lesen, insbesondere als Begleitlektüre eben zur Verfahrenseinstellung und all den offenen Fragen, die man als Leser der Artikel dazu direkt im Kopf hat, wenn man die Berichterstattung verfolgt. “Gelöst” ist an dem Fall nämlich tatsächlich nicht so viel, schon gar nicht alles – und da geht der Roman ganz andere Wege.

Bedauerlich nur, dass die beiden AutorInnen offensichtlich keine Idee hatten, wie man solch einem Stoff auch ästhetisch auf eine zeitgemäße Weise gerecht werden kann: Die Geschichte ist immer wieder betulich formuliert, voller Erklärdialoge, auch strukturell bleibt der Roman allzu brav und konventionell, zumindest im ersten Teil, das hat letztlich fast etwas von einer Abhandlung. Schade, sehr schade, denn sonst hätte “Die Taten der Toten” nicht bloß ein hoch interessanter, topaktueller Politthriller werden können, sondern auch noch ein richtig guter. Trotzdem: Wie Voosen und Danielsson den Möglichkeitsraum rund um die Palme-Ermordung und ihre Hintergründe dann ausleuchten, das ist schon ziemlich spektakulär gedacht und geplottet.

  • Roman Voosen, Kerstin Signe Danielsson: Die Taten der Toten. Ingrid Nyström & Stina Forss Bd.8. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2020. 480 Seiten, 12 Euro.

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