Geschrieben am 16. Dezember 2018 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2018

Bloody Chops – Bücher kurz serviert – Dezember 2018

bloody chops

Bücher – kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Alf Mayer (AM), Markus Pohlmeyer (MP), Frank Rumpel (rum) und Thomas Wörtche (TW) über: 

ATAK: Der naive Krieg. Kunst, Trauma, Propaganda
Klaus Bergdolt: Kriminell, korrupt, katholisch? Italiener im deutschen Vorurteil
Peter Fischer, Eva Lermer: Das Unbehagen im Frieden
Tom Franklin: Krumme Type, krumme Type
Christian Geissler: kamalatta. romantisches fragment
Isabelle Giordano: Catherine Deneuve. Film für Film
Mick Herron: Slow Horses
McSweeney’s Nr. 54: The End of Trust
Cloé Mehdi: Nicht ist verloren
Ryū Murakami: In Liebe, Dein Vaterland: Die Invasion
Lucía Puenzo: Die man nicht sieht
Ulrich Vaorin/Christian Goos/Michael Landgraf: Science Fiction im Religionsunterricht

slow-horses-9783257609158Charmant und herzig

(TW) Geheimdienste sind, neben allem, was sie sonst noch sind, große Behörden, Bürokratien. Und als solche zu wesentlichen Teilen mit sich selbst beschäftigt: Karrieren, Hierarchien, Macht und Einfluss, Hauen und Stechen und natürlich Budgets, vor allem Budgets. Das ist auch beim MI5 nichts anders, glaubt man Mick Herrons Serie um die Slow Horses, dem ersten Band von bis jetzt fünf Teilen. Die Slow Horses hausen in einer Bruchbude namens „Slough House“ und sind eine Art bad bank des Dienstes. Sie werden mit frustrierenden und demütigenden Arbeiten gequält: Mülltonnen durchsuchen, sterbenslangweiligen Schreibarbeiten und anderen sinnlosen Beschäftigungen mehr.

Zu den Slow Horses werden Leute versetzt, die irgendetwas verpatzt haben, Probleme haben (Alk), Dinge wissen, die gefährlich sein könnten oder auch schlicht inkompetent sind. Am besten wäre es, wenn sie von selbst kündigen würden, cf. Budget. Chef in Slough House ist Jackson Lamb, ein fetter Grobian mit betrüblicher Körperhygiene. Aber stockschlau. Das bekommt die stellvertretende Direktorin des MI5 zu spüren, die, auf dem Karrierepfad nach oben, versucht, die Slow Horses für ihre schmutzigen Tricks zu funktionalisieren. „Lady Di“, so wird sie genannt, hat sich etwas besonders Bescheuertes ausgedacht: Um auch Aktivitäten gegen „rechts“ zu legitimieren, lässt sie den Neffen eines pakistanischen Geheimdienst-Hierarchien entführen – ihm soll vor laufender Kamera von einer Spinnertruppe namens „Die Stimme Albions“ der Kopf abgehackt werden, der MI5 wird ihn in letzter Sekunde retten, um seine Effektivität und Eminenz zu demonstrieren (cf. Budget) und zudem Gefühle tiefer Dankbarkeit bei den Pakistanis (cf. Macht und Einfluss) auszulösen. Natürlich geht das schief, die lahmen Gäule sind nämlich gar nicht so lahm und Jackson Lamb, das alte Front-Schwein aus dem Kalten Krieg, zeigt den „Bürohockern“ aus der Zentrale, was eine Harke ist. Das ist alles sehr charmant und herzig.

Natürlich haben letztendlich obsiegende Loser-Truppen immer unsere Sympathien (das gilt auch für Polizeiromane wie Dirk Schmidts „Task Force Hamm“ oder Sophie Hénaffs „Kommando Abstellgleis“), aber Autoren wie James Grady (Die sechs Tage des Condor“, 1974) oder, hier vielleicht wichtiger, Brian Freemantle („Charlie Muffin“, 1977) haben aus ihren Außenseiterfiguren wesentlich bissigere, subversivere Aspekte herausgeholt, die zudem einen Autsch-Faktor hatten. Der fehlt bei dem weitgehend voraussehbaren Plot bei Herron fast völlig. Slow Horses kommt in gemächlicher, leicht ironischer Prosa (die Ironie der Überlegenheit des Erzählers, eine Art „Felix Krull“ des Polit-Thrillers) daher, so bequem und behaglich wie ein Chintz-Sessel.

Mick Herron: Slow Horses. Ein Fall für Kackson Lamb (Slow Horses, 2010). Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer. Diogenes Verlag, Zürich 2018. 480 Seiten, 20,90 Euro.

1809_LAus der Geschichte des Widerstands

(AM) Eine bewaffnete Gruppe bereitet den Anschlag auf ein US-Hauptquartier in Bad Tölz vor. Es gibt Sympathisanten, sabotierende Wertarbeiter, Solidaritätsreisen in die DDR, militante Gefangene, die im Knast ums Leben kämpfen. Überall geht es ums Ganze, Wahre, Große: um Liebe, Verrat, Zerstörung, Befreiung. 30 Jahre nach der damals sehr umstrittenen Erstveröffentlichung und zehn Jahre nach seinem Tod liegt nun kamalatta von Christian Geissler wieder vor. Der Verbrecher Verlag hat für eine sorgsam gemachte Leinenausgabe gesorgt, Oliver Tolmein ein differenziertes Nachwort beigesteuert. Ein schlankes Glossar hilft beim Textverständnis.

 Noch bevor das Buch im Herbst 1988 erschien, waren der Autor und der rotbuchverlag (wie er noch auf dem Cover mit Christian Geisslers bevorzugter Schreibweise sympathisierte) geschiedene Leute. Wegen des Ankündigungstextes für das Buch warf Geissler Rotbuch „Fälschung“ vor und dass der Verlag „Lust auf die Niederlage, nein: Niedermache“ habe. Anlass war die Formulierung, der Roman, an dem Geissler seit Anfang der 1980er Jahre gearbeitet hatte und der konsequent eine an Bekennerschreiben gemahnende Kleinschreibung durchzieht, handle vom „Anschlag einer terroristischen Gruppe“ und spreche „eine bundesdeutsche Vergangenheit an, die wie ältere deutsche Traumata bis heute nicht bewältigt wurde“. Geissler verstand das als „Feindschaftsansage“: „Diese Sprache von Trauma und Bewältigung, deutsch und Vergangenheit, die wir alle bindend verflucht gut kennen, will zueinanderketten Nazidreck und bewaffneten Klassenkampf jetzt, Auschwitz und Antiimperialismus. Das ist infam. Das ist das infame Interesse der anderen Seite.“

Bis heute, so vermerkt Oliver Tolmein zu Recht, dient der Streit um die Bezeichnung der RAF der Selbstbehauptung derer, die sich äußern. „Die Baader-Meinhof-Bande“ war gängige Sprachregelung, seit das Bundesinnenministerium im Sommer 1972 diese Bezeichnung als offiziell festlegte. „Die selbstgewählte Bezeichnung „Rote Armee Fraktion“ oder „RAF“ unterstrich dagegen den Anspruch der überschaubar großen Gruppe, sich im Kriegs- zustand mit dem Staat zu befinden, eine bewaffnete militärische Opposition zu bilden, die der bundesdeutschen Staatsgewalt – jedenfalls im Grunde – völkerrechtlich ebenbürtig gegenübertritt und damit auch das Recht beanspruchen könnte, Menschen zu töten.“ Mit der Bezeichnung „Baader-Meinhof-Bande“ wurde nicht nur eine Entpolitisierung des bewaffneten Kampfes festgeschrieben, sondern auch eine Personalisierung der Gruppe.

Es ist eine nicht benannte Widerstandsgruppe, die den Anschlag plant. Der erste Satz lautet: proff ist nie gefunden worden. Der vierte und letzte Teil des Buches, in dem es dann zum Anschlag kommt, heißt „Freude“. Der bewaffnete Kampf steht im Mittelpunkt des Buches, die RAF wird jedoch nur am Rande erwähnt, dies immer in Verbindung mit Larry – auch wenn der Roman damals wie selbstverständlich als „RAF-Roman“ wahrgenommen wurde. Larry, der Bruder von Nina, ist „schon seit vielen jahren gefangen, im käfig in celle“ (S. 28). Mit seiner Schwester führt er eine scharfe Auseinandersetzung über seine Biografie und die Bedeutung, die eine bewaffnet kämpfende Gruppe für das Individuum hat: „meine geschichte ist raf, sagt larry, der rest ist müll.“

„kamalatta“ ist unvollendet, nennt sich ein »romantisches Fragment«, herausgebrochen aus einer Geschichte des Widerstands gegen die Welt. Geisslers Sprache arbeitet mit Reimen und Alliterationen, kann schroff sein, aber auch weich. Gute Sache, dass dieser Roman wieder da ist. 

Christian Geissler: kamalatta. Romantisches Fragment. Mit einem Nachwort von Oliver Tolmein. Verbrecher Verlag, Berlin 2018. Leinen mit Leseband. 615 Seiten, 36 Euro. (Zuerst: Wagenbach Verlag, Berlin, Herbst 1988.) Verlagsinformationen

MURAKAMI_In_Liebe_Dein_Vaterland_1_Die_Invasion_300-cmykVerstöße gegen jede Regel

(TW) Hart am sehr klarsichtigen Wahnsinn siedelt In Liebe, Dein Vaterland von Ryū Murakami, ein zweibändiges Epos, dessen erster Teil, Die Invasion, gerade erschienen ist. Das Original stammt aus dem Jahr 2005, die als Dystopie angelegte Handlung spielt deswegen 2010, aber darüber kann man auch 2018 noch hinwegsehen.  Japan steckt in einer tiefen Krise, außenpolitisch impotent und marginalisiert, wirtschaftlich kollabiert, große Teile der Bevölkerung sind obdachlos und hausen in schlimmen Notunterkünften oder unter freiem Himmel, ausgebeutet und drangsaliert von kriminellen Strukturen. Das ist die Chance für Nordkorea, sich einen fetten Happen ihrer ehemaligen Besatzungsmacht zu schnappen. Ein neunköpfiges Vorauskommando bringt die japanische Hafenstadt Fukuoka in seine Gewalt (sie besetzten einfach das ausverkaufte Baseball-Stadion), fliegen noch mehr Leute ein, errichten ein benevolentes Terrorsystem und warten auf die 120.000 Mann starke Invasionsarmee. Die Japaner sind hilflos, inkompetent, opportunistisch und vor allem völlig wirr. Nur eine Gruppe aus gescheiterten Existenzen – Mörder, Vergewaltiger, gewaltgeile Irre und psychisch schwer Geschädigte, durchweg bizarre Typen – könnte, das wird der zweite Band, enthüllen, zum Widerstand werden.

Der Roman lebt im Wesentlichen von Überzeichnung – die knallharten, unfasslich grausamen Nordkoreaner, asketische Kampfmaschinen, unberührt von westlicher Dekadenz – und Überwältigung – die Meetings des japanischen Krisenstabes, die ewigen Schilderungen von Bürokratien und Hierarchien und Traditionen, die Macken der Psychopathen-Truppe  -, überhaupt die ganze Megalomanie des production designs, all das spricht jeder Idee eines klassisch geplotteten Romans Hohn. Murakami spottet und ätzt, schockiert und verblüfft, gegen so ziemlich jede narrative Regel verstoßend. Das nervt wie Hölle und amüsiert gleichzeitig, weil es so hemmungslos durchgezogen ist, brutalistisch nachgerade. Man darf schon befürchten, dass Murakami Japan nicht besonders mag. Nordkorea aber auch nicht, genau so wenig wie alle seine Figuren, obwohl man da zum Beispiel bei dem Irren, der mit seinem Bumerang Leute köpfen kann oder dem Typen, der reinen Horror mit ekligem Viechzeug verbreitet, nicht so sicher sein kann. Im Frühjahr 2019 kommt der zweite Band, ich harre.

Ryū Murakami: In Liebe, Dein Vaterland: I. Die Invasion. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Septime Verlag, Wien 2018. Gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 456 Seiten, 26 Euro.

Nichts_ist_verloren_Cloe_Mehdi_600Ein Leben unter Beobachtung

(rum) „Schließ bloß nie jemand in dein Herz. Früher oder später lassen sie dich alle im Stich.“ Der 11-jährige Mattia ist gewappnet fürs Leben. Den Rat bekam er von seiner Mutter auf der Beerdigung seines Vaters. Der hatte sich in der Psychiatrie erhängt. Da war Mattia 5 und bekam einen Vormund, weil die Mutter es nicht mehr schaffte, sich um ihn zu kümmern. Sein Vormund Zé teilte sich einst mit Mattias Vater das Zimmer in der Psychiatrie, arbeitet als Nachtwächter in einem Supermarkt und sucht Zuflucht in den Gedichten Baudelaires. Seine Freundin versucht wiederholt, sich das Leben zu nehmen.

Rosige Aussichten also. Es ist ein karges Leben in der Banlieue und die aktuellen Umstände machen es nicht leichter und nicht heller. In der Gegend tauchen Graffiti auf, die „Gerechtigkeit für Said“ fordern. Said war ein Jugendlicher aus dem Viertel, der vor Jahren bei Protesten ums Leben kam. Ein Polizist soll ihn auf dem Gewissen haben, wurde aber freigesprochen. Mattias Vater hatte die Tat beobachtet, kam in die Psychiatrie, die Familie fiel auseinander. Und plötzlich ist alles wieder da. Mattias neue Familie wird von der Polizei bedrängt, das Sorgerecht steht auf der Kippe.

Und das alles lässt die 27-jährige Cloé Mehdi, die für Nichts ist verloren in Frankreich gleich sieben Auszeichnungen bekam und für acht weitere nominiert war, einen abgebrühten Elfjährigen erzählen, der ziemlich durch den Wind ist, aber versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Mehdi bricht das trostlose Setting durch die altkluge Kinderperspektive etwas auf, düster bleibt diese konzentriert  erzählte Geschichte dennoch. Detailreich fängt sie die Enge und Zwänge eines Lebens unter Beobachtung ein, ein Leben, auf das der Tod und die Psychiatrie stets einen Schatten werfen. Dabei sind die Wünsche von Mehdis Figuren durchaus überschaubar. In Ruhe gelassen werden, mit der Aussicht auf eine etwas bessere Zukunft. Ausgerechnet als das Jugendamt vorbei schaut, bekommt Mattia eine Idee davon, wie es auch sein könnte. Für zwei Stunden fallen er und seine Ersatzeltern spontan in eine Art Heile-Welt-Familien-Theater, von dem alle wissen, dass das grotesk und keineswegs alltagstauglich ist. Viel zu sehr hat da jeder mit sich selbst zu kämpfen.

Cloé Mehdi: Nicht ist verloren (Rien ne se perd, Editions Jigal Polar, Marseille). Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Polar-Verlag, Stuttgart 2018. 312 Seiten, 18 Euro. Textauszug siehe CrimeMag 11/2018.

41QlpPGqIdL._SX303_BO1,204,203,200_Unstillbares Bedürfnis

(AM) 14.400 Kriege seit der menschlichen Geschichtsschreibung, Hunderte Millionen von Toten, eine andauernd hohe Anzahl bewaffneter Konflikte, Rüstungsausgaben in immer neuen Höhen – der Mensch braucht anscheinend Aggression und Risiko. Destruktivität ist tief in uns verwurzelt, friedliche Zeiten scheinen nur eine Zeitlang auszuhalten sein, dann braucht es wieder Konflikt und Zerstörung. Auch die Lust am Kriminalroman – siehe den Kommentar von Dieter Reifarth in dieser CrimeMag-Ausgabe: Die Welt ist ein schartiges Messer – und damit an katastrophisch erfahrenem Leben hat damit zu tun. Warum filmen Menschen Unfälle und Schwerverletzte, anstatt zu helfen? Warum vergnügen sich Millionen an simulierten Kriegsszenen am Computer? Dem Leiden und Sterben anderer zuzusehen, scheint immer noch ein menschliches Bedürfnis zu sein, das war nicht nur im römischen Kolosseum oder vor der Guillotine so.

„Friede macht Reichtum, Reichtum macht Übermut, Übermut bringt Krieg, Krieg bringt Armut, Armut macht Demut, Demut macht wieder Frieden“, zitiert Das Unbehagen im Frieden von Peter Fischer und Eva Lermer einen Sinnspruch des Straßburger Dom- und Volkspredigers Johann Geiler von Kayersberg (1445 – 1510). Neunzig Jahre nach Sigmund Freunds Traktat über „Das Unbehagen in der Kultur“ blicken die Autoren aus sozialpsychologischer Sicht auf den Zusammenhang zwischen Langeweile, mangelnder Empathie und Destruktivität. Keine schöne, aber eine wichtige Reise.

Peter Fischer, Eva Lermer: Das Unbehagen im Frieden. Die neue Lust am Leid. Claudius Verlag, München 2019. 160 Seiten, 18 Euro.

39242262_2057148327649585_5319218486726098944_nSehr eleganter Groove

(TW) Ein richtig schönes Buch ist Krumme Type, krumme Type von Tom Franklin. Eine Geschichte aus Chabot, Mississippi, über zwei Menschen, die eigentlich Freunde sein sollten und wollten und es als Jungs auch eine Zeit lang waren. Wenn da nicht der brutale Rassismus gewesen wäre. So wurde der eine Cop, der andere gerät in Verdacht, ein Mädchen-Mörder zu sein und so geht es fünfundzwanzig Jahre lang, in denen sie nicht vernünftig kommunizieren. Ein jeglicher auf seine Art verstockt, schmollend. Und dann verschwindet wieder ein Mädchen.

Tom Franklin erzählt unspektakulär, fast bedächtig, aber ungeheuer präzise vom Wandel der Zeiten, in deen ein schwarzer Mann inzwischen zwar Cop werden kann, aber die Ressentiments noch lange nicht verschwunden sind. Er erzählt von Familienschicksalen, vom Überleben, von Freundschaft, Loyalität und Verrat, vom elenden Schweigen und Verdrängen, und nicht zuletzt vom ganz normalen Leben auf dem Land, inmitten einer üppigen Natur. Franklin braucht dafür weder die Schroffheit William Faulkners noch die alttestamentarische Wucht von James Lee Burke, sondern entwickelt einen eigenen, sehr eleganten Groove mit flüssigen Dialogen (fein übersetzt von Nikolaus Stingl), der den Roman zu einem erwachsenen, gerechten und eben schönen Buch macht.

Tom Franklin: Krumme Type, krumme Type (Crooked letter, Crooked letter, 2010). Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl. Verlag Pulp Master, Berlin, 2018. 406 Seiten, 15,80 Euro.Verlagsinformationen hier. (Dort lässt sich auch direkt und ohne Versandkosten bestellen.)

kunstmann 9783956142673_3DnHier drängt etwas, erzählt zu werden

(AM) Für ein Museum „German War Folk Art“ ist die Sammlung des Künstlers ATAK (im bürgerlichen Leben Georg Barber) mit gut 4000 Objekten und Zeichnungen noch zu klein, für ein formidables Buch – und für eine Ausstellung aber reicht es allemal.  Der naive Krieg. Kunst, Trauma, Propaganda führt auf rund 150 Seiten durch das kollektive Gedächtnis mehrerer Generationen, versammelt Artefakte von Laienkünstlern, ist zugleich Ausstellungskatlog für das Museum Stade (noch bis 20. Januar 2019) und das Stadtgeschichtliche Museum Spandau (22. August – 3. November 2019, Zitadelle).

Viele Objekte, Zeichnungen und Gemälde fand ATAK bei Auktionen im Internet. Ihn rührte dabei oft etwas ganz ursprünglich Menschliches an. Immer wieder war er davon fasziniert, „wie Menschen versucht haben, ihre schrecklichen Kriegserlebnisse wie auch immer künstlerisch auszudrücken“: in Tage- und Skizzenbüchern, in zum Teil selbst gestalteten Feldpostkarten, in aus Kriegsschrott gefertigten Objekten wie etwa einer Blumenvase aus einer Granathülle, in Spielzeugen für die Kinder zuhause, im Nachbau von Autos, Flugzeugen und Kriegsschiffen, in Schlachtengemälden etc. Ihm sei bewusst, wie hochsensibel die Thematik in Deutschland sei, aber sie sei eben noch nicht erforscht und aufgearbeitet. Er sei kein Historiker, kein Kunstwissenschaftler und erst recht Schriftsteller, nur eben Künstler. Und er habe die Ahnung, dass hier etwas erzählt werden müsse, dass das womöglich gar nicht geschehe, wenn er es nicht versuche. – Ebendas macht dieses Buch so ungewöhnlich und pulsierend.

ATAK: Der naive Krieg. Kunst, Trauma, Propaganda. Herausgegeben von Museum Stade und Stadtgeschichtliches Museum Spandau. Verlag Antje Kunstmann, München 2018. Hardcover, 152 Seiten, durchgängig farbig illustriert, 25 Euro.

Deneuve_FilmeKlischees passen nicht

(TW) Das Bilderbuch des Monats: Catherine Deneuve. Film für Film von Isabelle Giordano (Schirmer/Mosel). Natürlich stimmt Film-für-Film nicht ganz, aber das wäre auch bei über 160 Filmen (!) ein bisschen übertrieben, zumal nicht jeder Film ein Meisterwerk war. Und genauso natürlich sind die Texte von Isabelle Giordano ein klein wenig hagiographisch. Macht aber nix, das Wichtige sind sowieso die Fotos und die enorme Vielschichtigkeit von Catherine Deneuve, die sie abbilden. Das größte Missverständnis wäre, sie nur als „Noir“-Ikone zu sehen (seit Jörg Fauser die Lieblingsphantasie hebephrener Noir-Nerds) – dafür ist auch der Anteil ihrer einschlägigen Filme zu gering -, genauso wie es fatal wäre, sie auf die „Belle de jour“ zu reduzieren.

Und mit der „kühlen Blonden“ kommt man auch nicht weiter. Wohl aber mit unzähligen Modulationen von Intelligenz, Souveränität und Eleganz. Die Riege der Regisseure (Buñuel, Chabrol, Truffaut, Polanski, Lelouch, Aldrich, Corneau, de Brocca, Techiné etc.) und Regisseurinnen (was man gerne übersieht, darunter Agnès Varda, Emmanuelle Bercot, Julie Bertucelli, Chantal Akerman, Julie Lopes-Curval etc.) ist natürlich beeindruckend, sagt aber bei dieser enormen Unterschiedlichkeit der künstlerischen Ansätze lediglich, dass eine Festlegung auf Rollenklischees nur sehr zwanghaft möglich wäre. Deneuve war vor allem auch experimentierfähig und radikal autonom.  

Dieser schöne Prachtband zum 75ten Geburtstag liefert die Ikonographie einer nicht zu ikonographierenden Schauspielerin.

Isabelle Giordano: Catherine Deneuve. Film für Film. Aus dem Französischen von Michaela Angermair. Schirmer/ Mosel, München 2018. 256 Seiten, gebunden, 200 Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß, 49,80 Euro.

endoftrust_3D_mockup_front-02Edward Snowden erklärt seinem Anwalt, was eine Blockchain ist

(AM) Immer wieder ist es verblüffend, was die 1998 von Dave Eggers in San Francisco gegründete Vierteljahres-Literaturzeitschrift McSweeny’s so auf die Beine stellt. Der kleine Verlag ist eines der innovativsten Medienhäuser (nicht nur) der USA, dutzende Preise, wunderschöne und vielgestaltige Ausgaben, eine ganze Reihe von Büchern und im Sammlerwert schnell stark gestiegene Ausgaben zeugen davon. Die Nr. 54 kommt als schwergewichtiges Hardcover daher, orangefarbiges Vorsatzpapier, dann folgt die Grundfarbe Schwarz. The End of Trust ist das Thema. Der Untertitel: „Long Island Iced Tea Shares Went Gangbusters After Changing its Name to Long Blockchain and Other Oddities oft he Fourth Industrial Revolution.“ Unter den Bedingungen der Creative Commons Attributions-NonCommercial-NoDerivates 4.0 International License könne die Ausgabe in ihrer originalen, unveränderten Form weiterverbreitet werden, solange den CC BY-BC-ND Standards gefolgt werde, heißt es im Impressum.

Es geht also um all das, was uns in vieler Gestalt dauernd als XYZ 4.0-Dingsbums begegnet und gemeinhin Digitale Revolution genannt wird. McSweeny’s hat sich dafür mit der EFF zusammengetan. Das ist die Electronic Frontier Foundation, eine Nichtregierungsorganisation in den Vereinigten Staaten, die sich für Grundrechte im Informationszeitalter einsetzt und überwiegend vor Gerichten arbeitet, vulgo Grundsatzprozesse führt. Als prominentester Autor erklärt Edward Snowden seinem Anwalt und uns, was eine Blockchain ist, Jennifer Kabat singt den „Digital Blues“, die Anthropologin Gabriella Coleman schreibt über Anonymität im Zeitalter des Narzissmus, Ethan Zuckerman untersucht die Ökonomie des Misstrauens und Hamid Khan, Ken Montenegro und Myke Cole diskutieren, wie die Strafverfolgungsbehörden elektronische Überwachung einsetzen. Ein schön illustriertes Buch mit schön verzwickten Fragen. Insgesamt gibt es über 30 Beiträge. Es ist die erste non fiction-Ausgabe des Magazins. Auf diesem Niveau dürfen gerne weitere folgen.

McSweeney’s Nr. 54: The End of Trust. McSweeny’s Quarterly Concern, San Francisco 2018. Hardcover, 344 Seiten, durchgängig illustriert, $ 28.

9783803132970Zwei Welten

(rum) Ihre Zeit in Buenos Aires ist vorbei. Das wissen die drei jungen Einbrecher Enana, Ismael, beide 16, und Ajo. Er ist gerade mal sechs Jahre alt. Dabei läuft es gut. Tagsüber hausen sie in einem alten Eisenbahnwaggon. Nachts steigen sie in Häuser ein, essen sich satt und nehmen gerade so viel Wertgegenstände mit, dass der Diebstahl erst spät oder gar nicht auffällt. Ajo ist klein, wendig und ein angstfreier Kletterer. Ihm reicht ein gekipptes Fenster im Obergeschoss. Ihre Aufträge bekommen sie von einem Security-Mann, der selbst für die Bewachung der Häuser zuständig ist. Er beschäftigt mehrere Diebesbanden, verkauft sie aber nach einiger Zeit stets an Kollegen im benachbarten Uruguay weiter. Dort soll das Trio ein paar Luxusvillen am Meer ausräumen und sich tagsüber in einem nahen Wald verstecken, in dem es von Wildhunden und giftigen Schlangen wimmelt. Und in den Villen am Meer treffen die auf der Straße groß gewordenen Kids auf die Welt der Superreichen, die ihren Besitz mit allen Mitteln zu schützen bereit sind.

Die argentinische Autorin und Regisseurin Lucía Puenzo (unter anderem hat sie „XXY“ und die zweite Staffel der mexikanischen Serie „Ingobernable“ gedreht) ist nah dran an den drei Jugendlichen, ist empathisch, ergreift aber nicht Partei. Die Kids sind in ihrem Metier ausgebuffte Profis, doch in vielen Belangen einfach auch kindlich naiv. Ihre Raubzüge genießen sie, denn „von allem, was sie kannten, war Adrenalin das, was Glücksgefühlen am nächsten kam“. Die 42-jährige Lucía Puenzo hat da einen klugen und packenden Roman geschrieben. Mit Leichtigkeit und Tempo, dabei tiefenscharf und mit eindrücklichen Bildern erzählt die Autorin, wie ein paar Straßenkinder versuchen, sich irgendwie über Wasser zu halten. Aber man ahnt schon, dass das alles nicht gut ausgeht. Denn die Drei sind unsichtbar, bei der Arbeit, wie im Leben. Niemand bemerkt und niemand vermisst sie.

Lucía Puenzo: Die man nicht sieht (Los Invisibles, 2018.) Aus dem Spanischen von Anja Lutter. Wagenbach Verlag, Berlin 2018. 208 Seiten, 20 Euro.

bergdohlSX308_BO1,204,203,200_Kommissar Brunetti lässt grüßen

(AM) Als „beredt und stark, aber auch argwöhnisch, rachgierig und grausam“, sah „Zedlers vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste“ 1735 die Italiener und beschrieb ihre Heimat als „eines der schönsten Länder in der ganzen Welt“. Freilich, warnte Friedrich Leopold Graf zu Stolberg 1794, glühten dort „Wollust, Zorn und Rache mit des feurigen Temperaments ungekühlter Hitze“. Schon das „Gefühl der Beleidigung“ enthülle die „Frucht blutiger Rache“. Nicht nur in Sizilien, behauptete 1799 Joseph Hager, seien Tötungsdelikte völlig alltäglich. „Ein Wort in der Hitze gesprochen, eine kleine Eifersucht, ein bisschen Wein“, führten zu den kaltblütigsten Mordtaten; „daher man auch zu Palermo sowohl als an anderen Orten Italiens ständig Leute trifft, die bereits ihresgleichen ums Leben gebracht haben und sich damit noch rühmen.“ In den Pontinischen Sümpfen habe ihm jemand in einer Herberge erklärt, „dass der Hauswirt ein Mörder, der Koch ein Mörder, die Stalleure Mörder und auch die Aufwärter Mörder seien, ja dass im ganzen Wirtshaus keiner sei, der nicht wenigstens eine Mordtat verübt habe“. Auch Seume versicherte 1802, auf seiner Reise seien bereits nördlich von Rom, etwa in Nepi, Mordgeschichten „das ewige Thema“ gewesen.

Klaus Bergdolt, Arzt und Kunsthistoriker, emeritierter Professor für Geschichte und Ethik der Medizin, 1990 bis 1995 Direktor des Deutschen Studienzentrums in Venedig, seziert in Kriminell, korrupt, katholisch? Italiener im deutschen Vorurteil die Geschichte jener Überheblichkeit deutscher Intellektueller, die bis heute noch in jeden Fernsehkrimi wirkt (Kommissar Brunetti lässt grüßen). Die „Kunst, zu sich selbst aufzublicken“ war unter den Deutschen des 19. Jahrhunderts weit verbreitet und strahlt bis heute. So sehr man die Landschaft und Kunst des Südens vergöttlichte, wurden die Venezianer, Florentiner, Römer oder Sizilianer meist kritisch gesehen, negative Stereotypen und das Gefühl moralischer und kultureller Überlegenheit bestimmten den antiitalienischen Diskurs. Diese deutsche Deutungshoheit wirft Schatten bis heute, bestimmt unser letztlich romantisches Bild von „Mafia“ mit. Der Autor, ein Spezialist für die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte Italiens vom Spätmittelalter bis ins 19. Jahrhundert, führt kundig in den Kunstdiskurs der letzten Jahrhunderte und in die geistesgeschichtlichen Strömungen. Für die alte Vorstellungen von Tag- und Nachtvölkern war auch ein Kant empfänglich.

Klaus Bergdolt:  Kriminell, korrupt, katholisch? Italiener im deutschen Vorurteil. Franz Steiner Verlag, 2018. Hardcover, 244 Seiten, 32 Euro.

Science-Fiction im ReligionsunterrichtSF im Unterricht

(MP) Schon allein der Titel zeigt an, dass Science Fiction langsam, aber sicher auch im Religionsunterricht (und vielleicht auch irgendwann in der Theologie) ankommt: Messias-Konzepte, ethische Fragen, Schöpfung, Theodizee, Fundamentalismus und vieles mehr. Der Buchrückentext fasst pointiert zusammen: „Der Band zeigt die große Vielfalt auf, die Science-Fiction-Serien, -Filme und -Literatur bei der Auseinandersetzung mit religiös relevanten Themen bieten.“ Das 64-Seiten umfassende Büchlein (mit Bildmaterial und Auszügen aus der Sekundärliteratur) dürfte nicht nur, wie der Untertitel nahelegt, für den Schulunterricht interessant sein – das wäre nur einer von vielen Anwendungsbereichen –, sondern macht vielmehr deutlich, wie stark Religion (Was ist überhaupt Religion? Sind hier eher die großen Weltreligionen gemeint?) ein nicht zu vernachlässigender Bestandteil und Deutungsschlüssel für Science Fiction (und Popkultur überhaupt) sein kann.[1]Und unverzichtbar dazu, weil trotz vieler aktueller, visionärer oder schlichtweg futuristischer Themen Religion zum Menschen gehört.

Akte XStar Trek, Real Humans, 2001, Die Tribute von Panem, Star Wars und Battlestar Galactica werden als Beispiele herangezogen – und auch herausragende Autoren wie Lem, Chiang oder Asimov. Erhellend ist z.B. das mythopoetische Patchwork-Verfahren von Star Wars (S. 58 f.) oder der Vergleich einer Cover-Darstellung der Hauptfiguren von Battlestar Galactica mit dem berühmten ‚Abendmahl‘ eines Leonardo da Vinci (S. 63) oder die Nähe klingonischer Religion zu Messias-Erwartungen in der Zeit Jesu (S. 8-14). Die vorgelegte Auswahl kann für Interessierte einen spannenden Leitfaden bilden, das eigene Regal mit Büchern und DVDs zu ergänzen. Denn bei dem knappen Umfang können die entsprechenden Texte nur auszugsweise abgedruckt werden. Leider bieten 64 Seiten, obwohl eine „große Vielfalt“ angekündigt wurde, dennoch einen nur sehr eingeschränkten, wenn auch wichtigen Überblick zur allerersten Orientierung.

Ulrich Vaorin/Christian Goos/Michael Landgraf: Science Fiction im Religionsunterricht. Materialien zu Film und Literatur für Klasse 9-13,  Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, Göttingen 2018. 64 Seiten, 18 Euro.

[1]Vgl. dazu Markus Pohlmeyer: Dinosaurier, kosmische Träumer und Minihelden. Zwischen Welten V, Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Bd. 13, Hamburg 2018, 41: „Meine Erfahrung mit Science Fiction im schulischen und universitären Unterricht […] führt mich zu folgender Intuition bzw. These (die auch statistisch untersucht werden müsste). […] Denn nicht mehr Familie oder Gemeinde, auch nicht mehr Schule sind heute meiner Meinung nach Orte erster religiöser Sozialisation, sondern die medial in Buch, Comic, Film, Serien etc. sich ausdifferenzierende Begegnung mit Science Fiction. Denn dieses Genre bedient sich wie kein anderes am mythologischen und archetypischen Reichtum der Weltreligionen, aber nicht nur aus kommerziellen Gründen oder weil das (bisweilen, aber nicht immer) phantastisch gute Geschichten sind, sondern auch wegen der Sprach- und Ideenlosigkeit archaischer Weltreligionen bzw. ihrer Institutionen in einer Welt der Quantenmechanik und Kosmologie, der Relativitätstheorie und Evolution, der KIs und atemberaubender Kunstwerke, wie es eben auch Filme sein können.“ T. Chiangs „Geschichte deines Lebens“ beispielsweise löste bei meinen Studenten immer wieder Bestürzung und sogar Tränen aus; die Gespräche darüber wurden auch jenseits der Seminare weitergeführt. (In dem Besprechungsband siehe dazu S. 25-30.) Zu empfehlen wäre auch C. Kunz: Science-Fiction. Texte und Materialien aus der Zukunft, Braunschweig 2011. – Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg.

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