III. Wie die Männer, die sich vollenden in der Tat oder im Verlangen oder mit einem warmen Körper am Ende einer Gasse, im Hintergrund eines Dioramas, wie es sie früher im Kolumbusdenkmal gab, welche die Entdeckung Amerikas im Stil der Kompositionen des vergangenen Jahrhunderts darstellten, wenngleich sich das Papier etwas bewegte, auf das die Agaven gemalt waren mit einem grünen Drachen im Hintergrund, der die Reißzähne zeigte, und alle im Kanu – die wir das schwarze Gewässer des Lethe durchqueren, so leidet das Gedicht an dem dringenden Bedürfnis, das Wirkliche
Read More Immer bleibt das Andere Es ist gut, von Leben zu Leben zu wandern. Die Luft wird stickig, das Gedränge unerträglich. Die Alten meinen, mit ihnen höre alles auf, die Jungen, alles beginne mit ihnen. Du öffnest die Tür und gehst, hast keinem was getan. Hast eine Spur hinterlassen, keine einen Fingerabdruck, keinen, vielleicht den Duft der vergangenen Jahre (denn die Liebe verliert ihren Duft nicht), keinen, auch gut. Man wird dich zitieren, von dir sprechen mit Achtung und Angst, dich vorführen als Inbegriff von Dummheit und schlechtem Geschmack, auch gut.
Read More Der Weihnachtsstern Im frostigen Winter war eine Gegend – gewöhnt an Glut mehr als an Kälte, an Fläche mehr als an Berge – offenbar gut für die Geburt des Kindes, das da kam zu retten die Welt. Der Schnee fiel in solchen Mengen, wie er nur in der Wüste fällt. Dem neugeborenen Kind kam alles gewaltig vor: die Brust der Mutter, die Nüstern des Ochsen, Kaspar, Melchior, Balthasar und deren Geschenke, die man hereintrug. Den Kern bildete aber das Kind selber. Und das war der Stern. Aufmerksam, ohne zu zwinkern,
Read More Die Stadt Du sagtest: „Ich gehe in ein anderes Land, ich gehe zu anderem Meer. Es findet sich eine andere Stadt, die besser ist als diese. Jede meiner Mühen ist zum Scheitern verurteilt; und es ist mein Herz – als sei es tot begraben. Wie lange wird mein Geist in dieser Betrübnis bleiben. Wohin ich mein Auge wende, wohin ich auch schaue, die düsteren Trümmer meines Lebens sehe ich hier, das ich so viele Jahre ließ zerstören und verwüsten.“ Du findest kein neues Land, findest keine anderen Meere. Die Stadt
Read More Gibt es noch irgendwo Europa? Gibt es noch irgendwo Europa, das alte, graue, dekadente? Den Eiffelturm, und Rom, Paris, die Donau, jene blauen Borte, die fernehin und bang sich wiegte gleich einem müden Leichenzug? Gibt es noch irgendwo Europa, ist es denn nur mehr die Gestalt aus einem wunderlichen Mythos? In einem feuchten Wald ein Satyr? Ein Mondgeheimnis? Oder Horn, durch dunkle Wälder schallend? Ist’s gar ein kurioser Stern, ein unerreichbar fernere Stern, verborgen hinter Nebelweben, durch dunkle Sphären schwebend, schwach flackernd, bald verloschen, so daß bloß Schall und Rauch
Read More Der große Schnee Erster Schnee heut morgen früh. Der Ocker, das Grüne flüchten unter die Bäume. Ein zweiter, gegen Mittag. Von der Farbe bleiben nur die Nadeln der Kiefern, die manchmal noch dichter fallen als der Schnee. Dann, gegen Abend, hält die Geißel des Lichtes ein. Schatten und Träume haben gleiches Gewicht. Ein wenig Wind schreibt mit der Zehenspitze ein Wort außer der Welt. Übersetzt aus dem Französischen von Friedhelm Kemp In den ersten Dezembertagen, wenn es vielleicht zum ersten Mal sich im still ankündigenden Winter einmal schneien könnte, lege
Read More Requiem Ich ließ mich nicht von meiner Heimat scheiden, Floh in die Fremde nicht vor der Gefahr. Ich blieb bei meinem Volk in seinem Leiden, Blieb, wo mein Volk zu seinem Unglück war. (April 1957) Ein kurzes Gedicht, dem ein längerer Text „Statt eines Vorwortes“ als eine Art Fußnote folgt: „In den schrecklichen Jahren des Justizterrors unter Jeshow habe ich siebzehn Monate mit Schlangestehen in den Gefängnissen von Leningrad verbracht. Auf irgendeine Weise ‚erkannte’ mich einmal jemand. Da erwachte die hinter mir stehenden Frau mit blauen Lippen, die einen Namen
Read More als mir die sprache abhanden kam vielleicht trank ich gerade kaffee oder schlug eine zeitung auf. vielleicht zog ich die vorhänge zu, oder sah auf die straße, als sie mich verließ. ich dachte noch, was für ein röcheln aus der tiefe der wand, was für ein klirren in diesem raum. kein fensterglas sprang, kein sessel fiel um in der küche. an den straßenschildern erloschen namen zu buchstabenasche. über den häusern fuhr der worttanker davon, massig, lautlos. meine zunge zuckte wie ein gestrandeter wal im trockenen mund. ich floh aus der
Read More Gedicht gegen die Angst Streichle das Blatt küsse den Hund tröste das Holz hüte den Mund zähme den Kamm reime die Lust schmücke den Schlaf plätte den Frust neige das Glas wiege das Buch liebe die Luft rette das Tuch schaue das Meer rieche das Gras kränke kein Kind iss keinen Frass lerne im Traum schreibe was ist nähre den Tag forme die Frist lenke die Hand eile und steh zögere nicht weile wie Schnee öffne die Tür lade wen ein schenke dich hin mache dich fein prüfe dein Herz
Read More Die Dinge ganz lassen In einem Feld bin ich das, was es nicht ist. Immer ist das der Fall. Wo ich auch binbin ich das was fehlt. Wenn ich gehe, teil ich die Luft, und immer strömt sie nach, um die Räume zu füllen, wo mein Körper gewesen ist. Alle haben wir Gründe, uns zu bewegen. Ich bewege mich, um die Dinge ganz zu lassen. Keeping Things Whole In a field I am the absence of field. This is always the case. Wherever I am I am what is
Read More Durch den Spiegel Liebste, so weit voneinander schlafend teilen wir doch die Nacht. Und wir träumen einander. Erwachte ich jetzt, wäre ich nicht. Ich träume dich, die mich träumt. wenn ich dich wecke, werde ich verschwinden. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel Bei der Lektüre der Gedichte von Lars Gustafsson hält man immer irgendwann inne. Man kommt nicht weiter im Verständnis der Verse und fragt sich, was man sich bei vielen Dichtern fragt. Was will uns der Autor damit sagen? Und bei Gustafsson beginnt es manchmal schon bei den
Read More Meine zerfetzte Seele musste notwendig zu deiner werden. Besiegt von deiner Seele kümmerte sich meine Seele nicht um sich und wurde du. Besiegt von dir habe ich dir einen starken Körper geschenkt, sanftes Begehren, Täuschungen vielleicht Nun öffnet sich nicht mehr der Sarkophag meiner Wünsche. Übersetzt von Georg Dörr Kein Geringerer als Pier Paolo Pasolini hatte großen Anteil an dem literarischen Werdegang von Amelia Rosselli. Eine erste Auswahl früher Gedichte von der 1930 in Paris als Tochter einer Engländerin und eines bedeutenden liberalen Antifaschisten geborene Lyrikerin stellte Pasolini 1963
Read More accademia die nacht sinkt nieder und wir sollten uns verlassen wie vielfach dämmerung mag noch in unsere venen passen wann können wir uns lassen ohne uns anzufassen es fassen das rote violett den abschied unter jedem lid ein bild ein pinsel der kreise zieht ein tropfen der ins wasser fällt eine träne die den kanal am fliessen hält. Fast alle Gedichte von Albert Ostermaier in seinem neuen Band mit dem Titel „Ausser mir“ ( Berlin, 2014 ) sind länger. Einige sogar wesentlich länger als ‚accademia‘. Aber abgesehen von der Länge ähneln
Read More Die Idee der Ordnung in Key West Sie sang über den Genius des Meers hinaus. Das Wasser war nie zu Geist oder Stimme geformt, Wie ein Leib, der, ganz Leib, mit seinen leeren Ärmeln flattert; und doch schuf seine mimetische Geste ständigen Schrei, bewirkte ständig einen Schrei, Der nicht unsrer war, obwohl wir verstanden, Nicht menschlich, der des wahrhaften Ozeans. Das Meer war keine Maske. Nicht mehr war sie. Lied und Wasser waren nicht vermischter Klang, Selbst wenn ihr Gesang das war, was sie hörte, Da ihr Gesang Wort für
Read More Altweibersommer Was die einen ‚Indian Summer‘ nennen die andern ‚Altweibersommer‘, geschieht diesen Herbst: es reihen sich die schönen Tage und das gelbe Laub fällt nicht vom Zweig, alles dauert rund und reif, auch die Frauen altern nicht, siehst du, die Laster sind süßer als voriges Jahr. Das Ende dieses Sommers kennen wir aus der Geschichte: der Überfall kommt – der barbarische Winter, es platzen die Häuser, Ohren erfrieren und die äußerst strenge Reinheit stößt vor. Böswillige Köpfe hinter der Ecke warten nur daß die Sonne untergeht um Gericht abzuhalten: gerichtete
Read More Nur ein Weniges noch und wir werden die Mandeln blühen sehen den Marmor in der Sonne leuchten und das Meer sich wiegen nur ein Weniges noch, um ein Weniges lasst uns höher hinauf. Aus dem Griechischen von Christian Enzensberger Gedichte gibt es, die sind von einer ergreifenden Nüchternheit, fast möchte man sagen Schlichtheit, und gerade deshalb erstrahlen sie in einer den Leser sprachlos machenden Schönheit und Vollkommenheit. „Nur ein Weniges noch“ von Giorgos Seferis (1900 – 1971) gehört für mich dazu. Veröffentlicht wurde es zum ersten Mal 1935 in
Read More Wir versuchen manchmal es zu sein, treu der Anweisung, fügsam der Mahnung, wach also, aufmerksam auf die vielen Täuschungen, sehr wachsam. Die Signale sind leuchtend und dunkel. Die Papiere klar zu lesen, aber undeutbar. Nimmt wahr oder nicht die Epoche dieses ans Licht Kommen ihres verborgenen Teils?- es fragt sich einer schärfer und dringender: und mittlerweile sind wir fortwährend andere, fortwährend verändern wir uns, wir die Zeugen, wir die Täter. Aus dem Italienischen von Guido Schmidlin Vor einhundert Jahren wurde Mario Luzi in Castello bei Florenz geboren. Er starb hochbetagt
Read More Vor langer Zeit schuf der Mensch sich seine Identität. Jetzt sucht er sie. Auch ich suche – hin und wieder finde ich etwas, das danach aussieht. Dieses Etwas schaut (mich an?) mit Spiegelaugen: immer dasselbe Entsetzen, dieselbe Hoffnung, dass die Wahrheit zwischen uns ist. Übersetzung aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Von Tadeusz Dabrowski noch nie etwas gehört und gelesen? Die Ausrede, von diesem Autor sei ja bislang noch nichts aus dem Polnischen übersetzt worden, gilt nicht. Das Buch „Schwarzes Quadrat auf Gold“ ist bereits 2010 erschienen und hat
Read More Wenn ein Dichter Wenn ein Dichter an Gittern rüttelt, sage nicht: wie anders klingen Harfen! Und die ihn früher…. Und die ihn früher verfolgt hatten brüsteten sich danach nicht ohne Grund: sie wären seinen Spuren Übersetzt aus dem Polnischen von Karl Dedecius. Kann man das poetische, das experimentelle wie auch politische Potential von Lyrik in wenigen Worten besser, treffender, überzeugender zur Sprache bringen als in diesen zwei kurzen Gedichten – oder handelt es sich um Aphorismen – von Stanislaw Jerzy Lec? Der 1909 in Lemberg geborene und 1966 in
Read More Manchen blendenden Ruhm gibt’s, der so blendet wie das heftige Aufgleißen der Blitze und gleich diesem zucken erlischt im Dunkel, ohne eine Spur seines Lichts zu hinterlassen. Lieber als dieser Augenblicksglanz ist mir die triste Einsamkeit, in der ich kämpfe und in der nie das nichtssagende Rauschen von Beifallsstürmen meinen Geist verwirrt. Aus dem Spanischen von Fritz Vogelsang Merkwürdig irritierend sind das Leben und das Werk der 1837 in Santiago de Compostela geborenen Schriftstellerin Rosalìa de Castro. Liest man ihre Gedichte, die von Fritz Vogelsang sehr gut ins Deutsche
Read More Das Mädchen Eines Tages steht das Leben sanft lächelnd wie ein Mädchen plötzlich auf der anderen Seite des Baches und fragt (auf seine spöttische Art) Aber wie bist Du da gelandet. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel Lars Gustafsson gehört zu den Schriftstellern, die mit ihren Arbeiten kein großes Massenpublikum erreichen, aber unter den Kritikern einen großen Ruf genießen. Geboren wurde er 1936 und hat in Uppsala/ Schweden und im renommierten Oxford Literatur, Geschichte und Philosophie studiert. Neben Schwedisch spricht er auch ein exzellentes „Oxford-Englisch“ und ebenso perfekt die deutsche Sprache.
Read More WILD There’s a surprise at the end. Everything should connect With everything. The brain Cools the blood, and the blood Cools thought. Those ancients saw The world as it is, A system of co-operation, Where things are both themselves And symbols and correspondences. Might it not be that a movement Of paint here on plain wood Is a retreat on a distant Battlefield; or that a child Moving counters on a blue Tarpaulin is an upward curve In the moment of a sleeping civilisation? The strumming of a guitar moves
Read More Diamant Könnt ich das Licht dir geben, unsichtbar im tiefen Blau der Fische. Könnt ich einen Apfel dir geben ohne verlorenes Paradies, eine Sonnenblume ohne Blüten oder Kompass aus Licht, das trunken sich aufschwingt zum Abendhimmel; und diese leere Seite, die du lesen könntest, wie man die klarste Hieroglyphe liest. Könnt ich ‚Flügel ohne Vogel‘ dir geben, so wie man schöne Verse singt, wär ein ‚Flug ohne Flügel‘ stets meine Schrift, wie Diamant vielleicht, Lichtstein ohne Flamme, unendliches Paradies. Aus dem Spanischen von Petra Strien Poema Diamante Si pudiera yo
Read More Photographie 1948 Ich halte wohl eine Blume. Merkwürdig. Es scheint, daß durch mein Leben einst ein Garten ging. In der anderen Hand halte ich einen Stein. Mit Anmut und Stolz. Kein Anzeichen, daß ich gewarnt wurde vor Veränderungen, daß ich die Verteidigung schon kenne. Es scheint, daß durch mein Leben einst die Arglosigkeit ging. Ich lächele. Die Biegung des Lächelns, die Mulde dieses Gefühls, gleicht einem gut gespannten Bogen, in Bereitschaft. Es scheint, daß durch mein Leben einst ein Ziel ging. Und ein Hang zum Sieg. Der Blick versunken in
Read More Ein Adler Oft bin ich ein Adler, so kommts mir vor am Schreibtisch Ich fliege steil in den Himmel empor am Schreibtisch Ich balle die Faust und drohe der Welt am Schreibtisch Zerschlage die Ketten und bin ein Held am Schreibtisch Den Kapitalisten heize ich ein am Schreibtisch Die Imperialisten schlage ich klein am Schreibtisch Ich kriege und siege mich groß und heiß am Schreibtisch Vielleicht auch gähne ich nur, wer weiß am Schreibtisch Aus dem Polnischen übersetzt von Karl Dedecius Dass wir im deutschsprachigen Raum mit so vielen
Read More September Song born 19.6.32 – deported 24.9.42 Undesirable you may have been, untouchable you were not. Not forgotten or passed over at the proper time. As estimated, you died. Things marched, sufficient, to that end. Just so much Zyklon and leather, patented terror, so many routine cries. (I have made an elegy for myself it is true) September fattens on vines. Roses flake from the wall. The smoke of harmless fires drifts to my eyes. This is plenty. This is more than enough. Septemberlied geboren 19.6.32 – deportiert 24.9.42 Unerwünscht
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