Siegel Ein Gedicht manchmal wieDurch einen gefrorenenSee einzubrechen, du aber nichtErfrierst, auch wenn das Wasser kaltWäre oder die Oberfläche wiederZufröre. Du wirst zurückschauen, gehstWeiter. Trockenen Fußes. An Land.Ein wenig erschüttert. Im Rückblick.Im Sonnenschein. Imago I 1 Schaute einen Film über die Seidenstraße:Da, ein Land so reich an Philosophen, Mathematikern,Astronomen, Entdeckern und mutigen, einfachen, neugierigenLeuten, für die unsere Welt nie groß genug sein konnte:AberWie kann nach dem Ende der FremdherrschaftDenkmäler und Statuen eines Massenmörders aufstellen? 2 bene dicti+ „Die deutsche Bürokratie konnte sich auf Präzedenzfälle stützen, verfügte über eine Richtschnur; die
Read More Herbst II 1 „Carpe diem“[1] Der Herbst ward still.Nichts weint, nichtsHofft mehr.DennEs istSo: Grün wirdGelb und Rot undSchwarz. Und die LuftBlau, grau, schwarz.Die Nacht:SternFolgt Stern.Der Wind: Hier,Dort. Wort, Ort.Nur einSpiel.Nichts istMehr so. SeiAuch duNunStill: Frag’Nichts, sieh hin! 2 Tibull an Nemesis Als ich kamSahst du mich nicht./?Als ich gingSahst du mich nicht./?Als ich starbWar nichts leerIn dir./?So ließ ich dir? nurDies Grab zurück,Aus Vers und Schmerz. 3 Fragmente Da ist nicht mehr viel. In ca. 30 Jahren würde die Weltbevölkerung auf10 Milliarden ansteigen Wer darf die Antarktis plündern? Kathol. Kirche
Read More Herbst – September 2022 1 Der Herbst tut weh, Tut mir weh,Zu viel des Todes,Gestirne auf und nieder,Etwas bleibt über den AbendUnd meine Zeit hinaus.Die Nebel verhüllen, ach, zu kurzDas schwer zu Ertragende,Bäume werden dunkler In ihren bunten Kleidern.Die kalten SternbilderFunkeln auf und nieder.Ist es gut? Wenn es so weh tut?Die Nacht, sie verletzt,Verletzt und beschützt mich,Am nächsten Morgen werde ichMeine Kleider gewechselt haben – ich. 2 SeptemberabendEin Primate – der das hier schreibt – saßFriedlich mit einer Anzahl von ManiraptorenAn einem Teich. Ein Hauch von Paradies,Keiner wollte den anderen fressen.„Quack! Quack!“
Read More 1 Dem Großvater durfte man keine Fragen stellenEr wohnte im SchweigenDer Großvater kannte nur eine FrageWas gibt’s zum Essen?Der Großvater hatte keine VergangenheitNur Gegenwart Nur WirtschaftswunderEr kam zu allen Festen Ohne GeschenkeSchlug sich den Wanst vollDer Großvater hatte nur Hunger SonstHatte er nichts Vor allem keine Vergangenheit 2 Er ist der Größte, der größte der Allergrößten,Alles an ihm ist übergroß, er ist oben, so oben, dass alleUnten sind: Untertanen, Untertassen, Untermenschen.Konkurrenten werden gnadenlos ausgemerzt, ausradiert,Aussortiert. Und dabei hat er keine Schuld, oh nein,Es war ja alles formal korrekt. (Er ist
Read More 1 Photosynthese und QuantenphysikLicht, Leben … Ich … Wir verstehen kaum die Poesie des Lebens,Aus der sich unsere Texte und Geschichten weben. Eine Supernova … und wir wurden denkenderSternenstaub, dass wir uns erforschten. Wie viele Multiversen habenUnsere Gedichte schon gebaut? Galaxien über Galaxien:Wie funkelnde Diamanten, auf schwarzen Samt, Texte am WebstuhlDer Zeit und Gravitation. Relativitätstheorie und ein Sternenabend:Meine Zeitmaschinen. Ich reise zurück, Woher ich kam. Gut, einen BlickNach Hause zu erhaschen. 2 Der Baum ist nicht Hitler-Deutschland,Die Schwalbe nicht Putin-Rußland,Das Kind nicht der Dreißigjährige Krieg,Und jenes lachende Mädchen nicht ein
Read More Du mußt versuchen, den Schweigenden zu hören: Über Paul Celans Schweigen Essay von Wolfgang Johann I. Paul Celans poetisches Verstummen angesichts der Shoah wurde sehr berühmt und oft besprochen. Man fragt sich manchmal, für wen eigentlich Celan geschrieben hat: Zumindest für die Menschen, die sich Gedichte vorlesen und über sie sprechen. Zu seinen Lesern gehören sicherlich auch die Akademiker:innen, die fleißig Wörter wie Steine umdrehen, um auf deren Rückseite noch etwas Verborgenes zu entdecken. An einige von ihnen wird Celan vielleicht gedacht haben, als er bekümmert feststellte, dass man seine Todesfuge bereits
Read More Den Menschen, die ausUnd vor Russland fliehen I Ich war Einst Werde sein Einst Werde gewesen sein II Kierkegaard[1] Da spricht jemandIn seinem BuchVon einer Liebe,Die liebt mit demBewussten Risiko,Nie, nie erwidert werdenZu können, und dieNicht anders kann,Dass sie rein gar nichtsZurück will.So gibt es fürDas DuKeine größereFreiheit. III Vergil[2] Vergil, geleiteDu Meine SeeleDer du weinst mit Den ZerbrochenenUndDen Zerbrechenden Geleite du meine SeeleDurch die Tränen der WeltDurch Tränen um die Welt Mich IV Persius[3] Lehre mich diese Welt zerreißenMit Versen! Wer war denn so irre und gabIrren Atomwaffen, wer
Read More Rückkehr nach Corona III 1 Alles Reden kommt hierAn eine Grenze: PhotographienDes Hubble-Teleskops.[1]Nimm und schau. Welcher WegVon dort nach hier,In meine kleine Stadt, inMein Zimmer für mich selbst?Copernicus und Einstein,Papyrus und Buchdruck.Eine Reise dorthinDurch das SonnensystemZu fernen Galaxien,Zu tiefer Zeit,Blicke zurück in eine Vergangenheit,Als noch kein Alphabet erfunden,Kein Computer, kein Mensch. Auf nur einer einzigen SeiteAll die Punkte:Sind GalaxienMit Milliarden von Sternen,Mit Milliarden Planeten:Welche GeheimnisseWürden auf uns warten,Wenn wir nicht … Sieh’ doch, dort, damalsGravitationssuiten und SphärenklängeAus unwirklichen Farben. SymphonischeMonumente der Schöpfung, wenn es dennEine solche gegeben hat. Oder vielerSchöpfungen.
Read More Nach dem Hören von Beethovens Diabelli-Variationen, interpretiert von Igor Levit 1„Hänschen kleinGing alleinIn die weite Welt hinein“ 2Seltsam,Wie dies schierUnendliche AllSich so klein macht …Was?Ich bin nur einStadtmäuschenIn irgendeinem HinterhofDer Galaxis.Träume mich zu denSternen, meineSeele wird weit,Bricht auf.Neugierig, mutig,Ein wenig versöhnt.Stolz darauf,Nicht den SpeerAufgehoben zu haben,Sondern den Vers.Der mich fand,Als ich alleine war,All-eins. 3Oh weite, weite Welt:So wünschenswert?Wild, wüst undWahnsinnig du,Aber durchausNicht uninteressant. 4Alleine geh’nDurchDiese Corona-ZeitDie Nacht mitIhren kaltenSternen undVerstummten FernenDie weite Welt da untenSie istEng geworden 5AngstKriecht durch den Alltag Hinter die Masken: Kenne ich nochDein Gesicht? 6Zu viele
Read More Rückkehr nach Corona 2 1 November. Allerseelen. Es dunkelt. Regen.Regennasse Blätter in wirbelnden WellenÜber eine dunkelnde Straße. Auf seinem FahrradEin Kind, das durch dieses Meer surft.Fliegende, dunkle Dokumente des Sterbens.Allerheiligen. Ich stehe alleine, schaue zu,Und bin noch hier, auch nachdem schon Kind undFahrrad, Tag und Gedicht verschwunden sind. 2 Früher hielt ich das BöseFür irgendeine brillante Dämonie,Heute meistens nur fürEinen seltsamen Mix ausNeid,Dummheit undInkompetenz. 3 Die Erde: ein feuriger Eisball,Pangäa zerbricht und die Hoffnung,Kometeneinschlag: bildgewaltige Resignation.Homo raptor hat den Homo sapiens … 4 Juhu, wieder daaa! (War nie weg.)Ach, Ihr
Read More „Nun versteh ich den Menschen erst, da ich fern von ihmund in Einsamkeit lebe!“[1]Hölderlin 1 Marx – Kierkegaard – Freud: Personae Der Kierkegaard-Forscher K. Nordentoft habe sich, so eine seiner ehemaligen Schülerinnen, im Himmel eine Begegnung zwischen Freud, Marx und Kierkegaard gewünscht. Letztlich muss das der Liebe Gott arrangieren, aber hier unten wage ich folgenden Versuch – verschiedene Masken also, die ich anziehen werde: MarxWarum sind wir soÜberrascht? Es geht dochLetztlich nur um UnterdrückungUnd Ausbeutung. FreudEs variierenNur die Legitimationen wechselnderIdeologien, Religionen, KastenOder Egos. (So denken sich gewisseAffen immer neue Mythen
Read More (… klingt fastwie Akte X) 1 Auf demAlten Friedhof,Am Mittag Mein SchattenWandernd mitDen SchattenDer Bäume Hinter unsDie Sonne 2 Die ZeitErinnert sichAn die Toten,Verwundert,Als wäre sieEin TeilVon ihnen Gewesen. IchWundere michÜber das Leben,Verwundet,So als ob esMeines wäre.Allzu vertraut,Um das FremdeDarin zu vergessen.Wunder und Wunde. 3 Testen live Lange, lange Schlange; ich armes SchweinMit Schwerbehinderung; kein Stuhl.Los, mit Handy sich anmelden … okay, mein HandyKann das nicht, außerdem gibt es hier keine Verbindung.Fazit: Pech gehabt. Und was eine Kollegin erlebte: von A nach BGeschickt, von B zu C durch die halbe
Read More 1 Corona ZwingtUnsHinter Masken Reißt sie zugleichDer gesamtenGesellschaft VomGesicht (Was früher wieGeschmiert lief oderWegefaket wurde, dasRächt sich brutal: DieseNegativ-AuslesenNachOben Die in BürokratienTransparent-blindeStatthabendeSerienmäßig gesteigerteProduktion von OhnmachtUndVertuschung Freiheit fürLehre und Forschung?Totgespart. Geiz seiSo was von geil.Hat sich ja jetztRichtig gutIn der PandemieAusgezahlt. Fabrikation vonDementia digitalis[1] bzw.Beförderung des Weltunwissens:Strom kommt aus der Steckdose.Die Kuh aus der MilchUnd dem Supermarkt.Und wenn ich spazieren gehe,Muss ich aufpassen, nicht vomRand der Scheibe zu fallen.Wäre sowieso wichtiger, dieRichtige Meinung zu haben. Und der Liebe GottKnipst abends dieSterne an. Krass,Wie viele Follower Der hat … PS: Vielleicht könnte
Read More Franz Dobler: Ich will doch immer nur kriegen was ich haben will (Gedichte 1991 – 2020) (AM) Am Anfang, sagt Franz Dobler in dem in diesem Buch enthaltenen – SENSATIONELLEN – Interview, das Herausgeber Manfred Rothenberger mit ihm geführt hat (Textauszug hier weiter unten), am Anfang wisse er nie, was in einem Text alles drinsteckt. Er fängt mit einem Bild an oder einem Moment, korrigiert, überarbeitet, schmeißt die Hälfte wieder weg, manchmal ist das Bild unscharf und er muss erst dahinterkommen, was da eigentlich alles drinsteckt. „Ah, ok, da hinten,
Read More Corona-Gedichte 4 1…ist so still. Da!Mauersegler sirren,Rasende,Schwarze FunkenÜber rötlicheDächer hinweg. Stille. In purpurnenSchleiern wogtEin weißerMond vorbei.Alle Farben desSommers, desAbends: lila, Rosa, helles Blau,Dunkleres BlauKommen, schwinden.Der Mond Leuchtend: vonHier einGlühwürmchenIm Baum der Nacht.Aber auch Schatten,Kraternarben,Fossilien aus ZeitGravitationEnergieMasse. Sein Licht wandert,WandertDurch ein finsteresTal zu mir. MeineNeuronen übersetzen,Suchen Bilder, deuten:Die Nacht nahm fastAlles, alles. Jetzt bin ichAllein mit dem Mond. Es ist so still. Zerstörung machte ihn,Diese karge, ferne,Schönheit. Ein Flüstern,Ständig, stille Sätze,Traumartig,Reiht Kosmos An Kosmos, Dichten meine Seele,Sich auflösend, zuSammeln sich, Als wäre ich dort … 2Dichter, das bin ich also,Oder auch nicht.Werde es von Tag
Read More Einsamkeit in Zeiten von Corona (Inspiriert von einer Zeile bei Tomas Tranströmer) 1Vor Deiner Tür Schlange stehenAber unsichtbarBin ich habe Keinen KörperGleich dem Winde Nur ein Hauch Ich … ich weine, Du hörst es nicht. Zu viel Lärmen derAnderen Wartenden 2Das Glück, Vergessen zu werden,Dies Unglück. Die Gnade, Vergessen zu können. Der Schmerz,Vergessen zu haben. 3Dieser Schock, dass Wälder, Alleen, Seen,Meere und Wolken, SonnenuntergängeUnd Morgennebel, Schmetterlinge undNachtigallen die gleichen GefühleAuslösen wie Menschen. Dass ZahlenMein Universum beschreiben. 4Eine vollkommene Schönheit sehen …Und darüber nur ein unvollkommenesGedicht schreiben können. 5Selbst die Toten Vergaßen meiner:Wo gingt ihr hin? Oft gehe ich allein über den Alten Friedhof. Als ob
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