Plädoyer für die Fünf-Minuten-Lektüre
Von meiner U-Bahnstation bis zur Stadtmitte dauert die Zugfahrt etwa fünf Minuten. Rechne ich die Wartezeit auf dem Bahnsteig hinzu, werden es vielleicht einige Minuten mehr sein. Gelegentlich kommen Unpünktlichkeiten hinzu. Aber alles in allem habe ich keine Veranlassung, an der Schnelligkeit der städtischen Verkehrsbetriebe herumzumäkeln. Und zu Verspätungen im öffentlichen Verkehrswesen habe ich ohnehin ein anderes Verhältnis als die Mehrheit der Fahrgäste. Aber dazu später mehr. Da ich für das Auto stets besondere Sympathie nur empfunden habe, wenn ich von anderen gefahren werde, gehöre ich trotz ständiger Preiserhöhungen zu den leidenschaftlichen Kunden öffentlicher Verkehrsmittel. Dass diese Fortbewegung auch ökologisch besser zu verantworten ist, habe ich auch schon gehört, aber mein ganz besonderes Verhältnis zum Massenverkehrsmittel berührt diese Einsicht nur sekundär. Ich liebe es einfach ‚öffentlich‘ zu fahren, weil in den Bahn das Leben bunter ist als in der beengten Kabine eines Autos. Und wer einmal Marc Augès „Ethnologie der Metro“ gelesen hat, kann sich nie mehr langweilen in Bus, Straßenbahn und Metro. Man sieht dort fremde Stämme ein- und aussteigen, beobachtet die Vielfältigkeit moderner Abschiedsriten, vergleicht das Kommunikationsverhalten betrunkener Touristen mit denen nüchterner Jung-Banker, erstaunt über diverse Paarungsannäherungsformen, registriert geschlechtsspezifische Sitzhaltungen und dergleichen urbanen Exotismen mehr. Aber auch diese ethnologischen Vorlieben begründen noch nicht ausreichend meine Liebe zu den öffentlichen Verkehrsmitteln. Für einen Freund des Lesens geht es ums Grundsätzliche: fördert oder behindert Bahn, Bus, Schiene die Lektürebedürfnisse dieser gesellschaftlichen Minderheit.
Wer in der U-Bahn fährt oder mit einem Bus oder mit einer Strassenbahn, kann einfach so vor sich hin dösen, kann im Geiste die anstehenden Ratenzahlungen addieren, über seine nächsten Amouren phantasieren, oder sich neue Küchenrezepte ausdenken. Die Phantasiepotentiale öffentlicher Verkehrsmittel sind ungleich größer und weniger lebensgefährlich als die eines Automobils. Der Autofahrer hingegen kann nur seine Aggressionspotentiale ausleben, mit allerdings größten Gefahren für Leib und Seele seiner selbst und der Langsamfahrer auf der rechten Fahrspur. Zum traditionellen Inventar in öffentlichen Verkehrsmitteln gehört auch der Zeitungsleser. Für eine vernünftige Lektüre bleibt aber, gestehen wir uns das offen ein, selten ausreichend Zeit. Aufblättern, einige Schlagzeilen überfliegen, schon muß man wieder aussteigen. Einmal ganz abgesehen von der Massenverkehrsuntauglichkeit der Zeitungsformate. „DIE ZEIT“ , „FAZ“ oder „SZ“ – eine einzige Katastrophe für den Bus- und U-Bahnfahrer nicht nur im morgendlichen oder abendlichen Stoßverkehr. Kommen wir also zu den gebundenen Formen geistiger Brennstofflieferung im öffentlichen Nahverkehr.
Neulich beobachtete ich eine Frau, die in die Lektüre einer roten Broschüre versunken war. Es handelte sich, soweit ich den Titel entziffern konnte, um eine Einführung in die Naturheilkunde für Haustiere.Warum nicht? Aber ich habe so meine Zweifel, ob ein derart komplexes Thema im nervösen Gewühl der U-Bahn auch ausreichend gewürdigt werden kann. Soll man stattdessen vielleicht einen Roman lesen? Thomas Manns „Zauberberg“, „Das Schloss“ von Kafka oder etwa Tolstois „Krieg und Frieden“ zerrissen in eine Fünf-Minuten-Lektüre das wäre wohl ein Akt von Kulturbanausentums. Die Zeiten der großen Kunst sind nicht die Zeiten des städtischen Verkehrsverbundes. Also fallen die großen Klassiker schon mal aus unseren Lektüreempfehlungen im Zeitalter der öffentlichen Verkehrsmittel heraus.
Was dem literarisch interessierten Kunden der öffentlichen Verkehrsbetriebe wirklich fehlt, sind Tipps auf eine dem Takt der Bahnfahrten angepaßte Lektüre. Auf die besonderen Lesebedürfnisse im öffentlichen Nahverkehr wird in den Rezensionen der Zeitungen oder in der Auswahl der Verlagslektorate viel zuwenig Rücksicht genommen. Dabei wäre doch eine Spalte ‚Untergrundliteratur‘ oder ‚Bus-Bücher pro Monat‘ auf den Rezensionseiten der Zeitungen wirklich nicht zu viel verlangt. Oder, adressiert an die Verlage: Ließe sich nicht wenigstens ein Büchlein, das der Massenverkehrslektüre in Form wie Inhalt angepaßt ist, pro Saison im Programm unterbringen? In dem von der „Sueddeutschen Zeitung“ zusammengestellten Bibliothek des XX. Jahrhunderts findet sich kein einziges ‚massenverkehrstaugliches‘ Buch. Fahren die verantwortlichen Feuilleton-Redakteure dieser Zeitung denn nie mit U-und S-Bahn in ihre Redaktion an der Sendlinger Strasse inmitten der Münchener Innenstadt? Ihnen und den Lesern im Minutentakt könnten einige Leseempfehlungen gegeben werden, die auch intellektuell dem Niveau der Spitzentechnologie des deutschen Waggon- und Busbaus angemessen sind.
Aus meiner eigenen, auf langjährigen Kurzstreckenfahrten zusammengelesenen kleinen Bibliothek an Hochgeschwindigkeitsliteratur könnten folgende Titel genannt werden: „Das Geheimherz der Uhr“ und die „Provinz des Menschen“ von Elias Canetti. In seinem Opus Magnum „Masse und Macht“ findet man zwar kluge Ausführungen über Masse und Meute auf öffentlichen Plätzen, aber als Lektüre umgeben von der U-Bahn-Masse ist es nicht geeignet. Als Klassiker seien etwa genannt die „Sprüche und Widersprüche“ von Karl Kraus oder – für den deutschen Massenverkehrs-Bildungsbürger verpflichtend, „Maximen und Reflexionen“ von Goethe. Bücher in Versform wie die „Ilias, die Metamorphosen des Ovid oder Dantes „Göttliche Komödie“ sind große Literatur für die langen Winterabende, aber für kurztaktike Fahrten in der Metro gänzlich ungeeignet. Kurzgedichte, etwa von den Haikus über die „Svendborger Gedichte“ von Bertold Brecht hin zu den Liebesgedichten von Erich Fried sind intellektuelle Zuckerstückchen im öffentlichen Schnellverkehr. Giorgio Manganelli „Irrläufe – Hundert Romane in pillenform“ sind geradezu ein moderner Klassiker der schnellen Literatur. Sehr zu empfehlen für die Anreicherung seines lexikalischen Wissens ist die „Neue Enzyklopädie“ von Alberto Savinio mit einem wunderbaren Kurzartikel über das „Automobil“: „Ich finde es immer merkwürdig und traurig, dass man um den mechanischen Fortschritt der Welt so viel Aufhebens macht und so wenig um ihren moralischen.“ Hinzuweisen ist auch auf die „Heimatlosen Geschichten“ von Julio Raimòn Riberyro, weil sie teilweise auf Fahrten in der Pariser Metro geschrieben wurden.
Etwas für Kenner sind von Karl Dedecius herausgegebenen „ 2222 polnischen Aphorismen – Bedenke bevor du denkst“ zu empfehlen. Aphorismen sind ohnehin ideal für Kurzstreckenleser. Selten länger als zwei Sätze, immer und überall, selbst im dichtgedrängten U-Bahn-Gewühl lesbar, stets von nachhallender Weisheit. Phantastisch hier die „Aphorismen“ von Georg Christoph Lichtenberg. „Die Neigung der Menschen, kleine Dinge für wichtig zu halten, hat sehr viel Großes hervorgebracht.“ Als ein anderer, um vielleicht zwei oder drei Gedanken bereicherter – aber um das Geld einer Fahrkarte ärmerer – Mensch wird man nach der Lektüre der vorgeschlagenen Literatur die Verkehrsmittel des öffentlichen Nah- und Schnellverkehrs wieder verlassen. Verleger, Lektoren, Schriftsteller, laßt Euch etwas einfallen. Die Zeit drängt. Bis zur nächsten Haltestation sind es nur noch zwei Minuten.
Carl Wilhelm Macke