Bayerische Nomenklatura
In der Realpolitik des Freistaats Bayern sind heute nur noch Endmoränen einer Demokratie erkennbar, deren Ideale und Werte offensichtlich dahingeschmolzen sind wie das Gletschereis in den Alpen. Ein Stoßseufzer von Carl Wilhelm Macke.
Lange hat es gedauert, bis ich das Wort ‚Nomenklatura’ überhaupt aussprechen konnte. Mir gelang es schließlich, das Wort fließend zu sprechen, wußte dann aber nicht so recht, was es überhaupt bedeutete. Als auch den Inhalt des Wortes richtig zu deuten wußte, waren die Gesellschaften, in denen die kommunistische Nomenklatura herrschte, zerfallen. Warum also sollte ich mir den Begriff für den alltäglichen politischen Sprachgebrauch merken? In einer demokratischen Gesellschaft, in der ich – den Müttern und Vätern des Grundgesetzes sei Dank – aufgewachsen bin und auch weiterhin lebe, hatte und hat ein Wort wie Nomenklatura scheinbar keinen Sinn. Das Führungspersonal dieses Systems wird in einem regelmäßigen Rhythmus in freien Wahlen neu gewählt oder – was immer mehr der Fall ist – bestätigt. Die staatlichen Institutionen werden nach demokratischen und den ortsüblichen Karriereverfahren personell ausgestattet – jedenfalls wünsche ich es mir als vielleicht etwas naiver Bürger. Wer jedoch im Freistaat Bayern nolens volens lebt, hatte an der Realisierung dieser demokratischen Ideale immer schon seine leisen Zweifel. Hier herrscht – demokratisch legitimiert versteht sich – seit ‚Menschengedenken’ eine einzige Partei, die mal machiavellistisch, mal ‚hinterfotzig’, mal autoritär, mal elegant im Wittelsbacher Stil, aber immer mit großem Pomp ihre jeweiligen Pfründe verwaltet, erweitert, verteidigt.
Dieser Politikstil, wie brachial er gelegentlich auch praktiziert wird, lässt sich aber trotzdem nicht mit dem eines diktatorisch gelenkten Regimes vergleichen. Es gibt ein Parlament mit einer demokratischen Opposition. Es gibt vollkommen frei agierende Medien, die ohne Pression die Regierungspartei kritisieren können. Es gibt eine Zivilgesellschaft, die sich zum Beispiel durch das Instrument eines Volksentscheids, gegen die Entscheidung einer Parlamentsmehrheit artikulieren kann. Und die allgemeine Lebensqualität ist, jedenfalls für die Loden- und Laptop-Klasse, über jede Kritik erhaben.
Trotzdem: in diesen ersten Wochen des Jahres 2007 konnte man hier auch lernen, was eine Nomenklatura ist und wie sie unter formal demokratischen Verhältnissen funktioniert. Eine kleine Kaste von Berufspolitikern, die jeden Kontakt zu den Spannungen, Widersprüchen und Verwerfungen der Gesellschaft um sie herum verloren hat, pokert scham- und geistlos um nichts anderes als um Einflüsse für sich und den ihnen jeweils zugeordneten Regionalfürsten, Gebirgsschützen, Kofferträgern, Nichten und Neffen. Jede noch so banale Presseerklärung und persönliche Stellungnahme wird garniert mit staatsbürgerlichem Pathos oder rhetorischem Leergut. Es wird nicht einmal mehr der Versuch gemacht, eventuelle politische Differenzen anzudeuten. Oder wer ist in der Lage, zwischen den politischen Ideen der Herren Stoiber, Beckstein, Huber, Seehofer, Ramsauer und anderen Spezln des Augenblicks nachvollziehbare klare politische Unterschiede aufzuzeigen? Die durch alle Medien vom ‚Flensburger Tageblatt’ bis zum ‚Miesbacher Anzeiger’ unentwegt zitierten Namen bilden seit Jahren schon eine christsoziale Nomenklatura in Bayern, für die sich, außer den professionellen Politikbeobachtern, niemand mehr interessiert. In der Realpolitik des Freistaats Bayern sind heute nur noch Endmoränen einer Demokratie erkennbar, deren Ideale und Werte offensichtlich dahingeschmolzen sind wie das Gletschereis in den Alpen.
Und die Journalisten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, begleiten diesen politischen Vor-Fasching in Bayern mit einem Feuerwerk an immer neuen Metaphern und Privat-Episoden. Das journalistische Dreckbaggern im Privatleben des Ministers Seehofer war da nur ein Tiefpunkt in einer Reihe ähnlicher Schmutzkampagnen. Wo hat man zum Beispiel in den letzten Wochen einen Kommentar, geschweige denn eine Recherche gelesen, die das Auseinanderbrechen des sozialen Fundaments der bayerischen „Erfolgsgesellschaft“ zum Thema gehabt hätte? Wer hat die zeitliche Parallelität der Aufdeckung des Korruptionssumpfes im Umfeld des SIEMENS-Konzerns und der schwelenden CSU-Agonie bemerkt? Wer ist auf die Idee gekommen, über die Folgen der Ausländerabschreckungspolitik eines Günter Beckstein mit einem der auf diesem Feld besonders engagierten katholischen Jesuiten zu sprechen?
Wer heute ‚im alten Stil’ noch versucht, politische Entwicklungen wie aktuell südlich vom Weißwurst-Äquator, jenseits von Personality-Shows und inszenierten Scoops zu analysieren, hat heute einen schweren Stand. Die Politik verbunkert sich von Skandal zu Skandal mehr in einer sich nur noch selbst zitierenden Nomenklatura, um die herum sich immer unkritischer werdende journalistische Wegelagerer gruppieren. Vielleicht wird es endlich Zeit, sich auch in rechtsstaatlichen, demokratischen Gesellschaften mit der „Antipolitik“ (György Konràd) der Opposition gegen die kommunistische Nomenklatura unseligen Angedenkens zu beschäftigen. Bayern bietet dazu derzeit überreichlich viele Anläße.
Carl Wilhelm Macke