Geschrieben am 17. Dezember 2014 von für Bücher, Litmag

Wolfram Schütte über Autobiografica von Hans Stilett, H.P. Piwitt & Jochen Schimmang

Stilett_EulenrodSprich, Erinnerung (zu & von mir)

– Neben H.M. Enzensbergers autobiographischen „Tumult“(- Fragmenten) & Botho Strauss´ Bemerkungen zu seiner „Herkunft“ sind jetzt noch einige andere Autobiografica deutscher Autoren erschienen, die zeigen, wie jeder einen anderen Weg eingeschlagen hat – beim literarischen Memorieren der eigenen Biographie. Von Wolfram Schütte

Ich meine Hans Stiletts „Eulenrod“, Hermann Peter Piwitts „Lebenszeichen mit 14 Nothelfern“ & Jochen Schimmangs „Grenzen, Ränder, Niemandsländer“. Die Autoren sind 1922, 1935 & 1948 geboren, sie gehören nicht zu den bekanntesten oder gar erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.

Epiphanischen Kindheitsaugenblicke

Hans Stilett, der Methusalem unter ihnen, war 30 Jahre lang bis 1983 im Bundespresseamt tätig. Er hat nach seiner Pensionierung ein Studium an der Bonner Universität begonnen & es mit der Promotion zum Dr. Phil. mit 67 Jahren abgeschlossen. Erst danach erschien das Buch, das den bis dahin nur als Lyriker Hervorgetretenen auf einen Schlag berühmt machte: die erste vollständige, zu recht hoch gerühmte Übersetzung von Montaignes „Essais“. Der große Humanist ist nun auch der „Schutzheilige“, der Stiletts „Biographisches Mosaik“ mit diesen Worten absegnet: „Ein kleiner Mensch ist ein ganzer Mensch, genauso wie ein großer“.

Der neunzigjährige Autor greift von allen deutschen Autobiographen am weitesten zurück: in seine Kindheit, also in die späten Zwanziger – & frühen Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts – und er beginnt mit einem Memento Mori: „Kein Zweifel: ich werde gewesen sein. Woraus folgt, daß ich, da gewesen, sein werde. Denn alles, was je war, bleibt dem Buch des Lebens eingeschrieben. Wie die Menschen, von denen hier die Rede sein wird. Wie jedes Glühwürmchen auch. Wie jeder Stern. Noch wese ich im Hier und Jetzt, doch der Abschied naht. Desto dichter drängen nun Gestalten heran, die ich längst vergessen glaubte, und Szenen aus dem Dämmer meiner ersten Lebensjahre leuchten wieder auf“.

Allein das ist schon schön & ruhig gesagt. Dieser Ton kehrt in den 24 Kapiteln wieder, deren rätselvolle Titel mehr als ein dreiviertel Hundert Miniaturen voranstehen, die aus der Kindheit des Verfassers wie aufgesammelte Fundstücke erscheinen, welche ihm die unwillkürliche Erinnerung ins Sprach- & Phantasiezentrum geworfen hat. Was Stilett unter Titeln wie z.B. „Wir leben arm, doch sehr gesund“ oder „Frau Stadelmanns Brüste“, „Todesfallen“, „Hände“, „Ein Riesenschluck Luft“ & „Streik“ vor sich hin memoriert, sind winzige Augenblicke, in denen „Gestalten und Szenen“ aufleuchten, die ihm – vaterlos als Kind zwischen Mutter & Großmutter in ärmlichen Verhältnissen lebend – zustießen.

Das Anekdotische, wenn es denn eines wäre, ist pointenlos erzählt; die kleine Welt im (offenbar) Thüringischen hat Züge Grimmscher Märchenwunderlichkeiten – wenn da nicht der frühkindliche (unschuldige) Sexus dazwischen aufträte, Großmutter gerne einen fahren läßt oder unterwegs beim Wandern zurückbleibt & auf den Weg pinkelt; oder wenn nicht Arbeitslosigkeit ebenso auf der Tagesordnung stünde wie das Treiben der „Braunen“ & „Kommunisten“: die Weimarer Republik en miniature in der Thüringer Provinz.

Für die literarische Dichte dieser epiphanischen Kindheitsaugenblicke sorgt zum einen, dass der Autor aus der Perspektive des kleinen Jungen nach oben in die Erwachsenenwelt blickt; und zum anderen, dass er konsequent in Verben das „e“ verschluckt also z.B. „knalln“ statt „knallen“ , „lieg“ statt „liege“ oder „fahrn“ statt „fahren“ schreibt & auch „Kinderjargon“ benutzt wie „pissen“ oder „luchsen“.

So entsteht durch diese stilistischen Minimalisierungen eine einheitliche Beschwörungsatmosphäre & man schaut wie durch einen dialektalen Gazeschleier auf Hans Stiletts zarte Evokationen aus der Tiefe der Zeit eines anderen Jahrhunderts.

Besonders berührt hat mich dabei das jeanpaulinische Pathos, mit dem der alte Herr seine kleinen Fluchten gewissermaßen „ausläutet“, seinen Ort Eulenrod mit den Fernen des Weltalls verbindet & sich über seinen nahen „Abschied“ tröstet, indem er mit eminentem Kunstverstand sein „ich“ ans Ende seines Nussschale großen kleinen Buchs setzt: „Die Erde selber wird gewesen sein. Woraus folgt, daß sie, da gewesen, sein wird: ein Stern, der an fernen Himmeln leuchtet. Und fremde Wesen werden rufen: Schaut, die Erde! Wunderbar! Und ein Astronom, wie noch keiner ihn je sah, wird von anderswo her ihr Licht zerlegen, immer weiter, weiter, bis er plötzlich ausruft: Da ist´s, da ist es! Er hat fürwahr Eulenrod entdeckt – im grünen Dunkel der Wälder ein heller Fleck, mit Straßen, mit Häusern, mit Stuben und mit Bodenkammern, und in einer träumend ich.“

Piwitt_lebenszeichenRücksichtsloser innerer Monolog

Wie ganz anders klingt doch da, was der 79jährige Hermann Peter Piwitt unter dem Titel „Lebenszeichen mit 14 Nothelfern“ vorgelegt hat. Seine „Geschichten aus einem kurzen Leben“ erwecken immer mal wieder den Eindruck, der tief depressive Autor habe sie widerwillig kolloquial von sich gegeben & wenig überarbeitet. Obwohl Piwitt auf der ersten Seite schreibt: “Ich will mich auf die ersten zehn Jahre beschränken, wenn ich aus meinem Leben erzähle“, also wie Stilett nur die früheste Kindheit anpeilt, hat er dann doch auf den 143 Seiten der „Lebenszeichen“ sein ganzes Leben vor Augen.

Piwitts „Wurstigkeit“ dem eigenen Leben & Schreiben gegenüber wird einem schon mit den ersten Passagen des Buches deutlich. Dort spricht er von seinen Eltern („Und immer herrschte ständig dicke Luft“), die wochenlang nicht miteinander sprechen – nachdem sie sich regelmäßig Sonntagmittags in ihr Schlafzimmer zurückgezogen hatten. Obwohl der Vater nur ein kleiner Beamter & durchschnittlicher Nazi war, lebte die Familie in einem großen Haus mit vielen Zimmern – zumindest, als sie noch in der Nähe Hamburgs in einer Kleinstadt wohnten.

Nachdem er ein paar Anekdoten seiner Kindheit erzählt & seinen Hass auf seine Mutter erklärt hat, bemerkt der Autor, dass er derlei schon vor fünfzig Jahren „schöner erzählt hat“ – als „jetzt, wo ich nicht mehr ganz bei Sinnen bin“. Dennoch gelingen ihm schöne kleine Momentaufnahmen der Erinnerung, wie z.B. die Briten kamen oder die Jungs deren Warenlager immer unverschämter plünderten. Oder die Skizze seiner Studentenfreundschaft mit dem früh verstorbenen Lyriker Wolfgang Maier oder der unaufhaltbare Niedergang eines umbrischen Dorfs…

Wovon er auch immer spricht, es geschieht gleichsam als ein innerer Monolog – ohne auf den Leser auch nur die geringste Rücksicht zu nehmen, Piwitt-Kenner, die seine im letzten Jahrzehnt bei Wallstein wieder aufgelegten, immer schlanken Romane & Erzählungen gelesen haben, werden sich in den „Lebenszeichen“ so zuhause fühlen wie der mit starkem Selbstbewusstsein durch seine Biografie umherschweifende & auch gelegentlich -taumelnde Autor. Die Hamburger „Martha Pulvermacherstiftung“, hat diese ultimativen Erinnerungen wie auch die Wiedervorlage seines Oeuvres bei Wallstein gefördert.

Zur Bitterkeit, nicht nach eigenem literarischem Wert erkannt worden zu sein – nur Ror Wolf habe besser als er geschrieben –, kommt der Verlust eines einst idyllischen umbrischen Refugiums. Auch schauen „die Mädchen“, denen er sein Leben lang hinterhergelaufen sei, dem älteren Herrn nun nicht mehr erwartungsfroh entgegen; als bekennender „Kommunist“ sieht er sich beruflich stigmatisiert von der „bürgerlichen Presse“ & deren publizistischen Organen, bei denen frühere Gesinnungsgenossen „Karriere gemacht“ hätten. Vornehmlich porträtiert er sich als einsamen Hamburger Kneipengänger, der seine Bierchen an den Theken schluckt, verlassen von den ehemaligen Freunden & Kollegen (ob gestorben oder erfolgreich spielt keine Rolle). Wie erfreut ist er aber, als ihn vor einer Prostata-Operation in der Hamburger Klinik der Arzt als „den“ Schriftsteller Piwitt erahnt & die Ärzte ihm googelnd als „Promi“ auf die Spur kommen!

So bewegend der Autor sein Leben in diesen Skizzen beklagt – & besonders gegen Ende des Buches häuft sich dessen (Alters-)Elend –, zum Adieu des frühen Atheisten wird der Blick des Alten auf das Herumbalgen von Jungen & Mädchen im Stroh auf einem Marktfest im Schleswig-Holsteinischen Heide gerichtet: „Das ist ein Nachrennen, Lachen, Unterwerfen und Sich-unterwerfen-Lassen. Und ein schönes Sichumschauen, ob´s auch jeder sieht, wie man sich mit den Händen das Stroh aus den schönen Haaren kämmt“.

Schimmang_GrenzenUmherschweifende autobiografische Streifzüge

Jochen Schimmang ist mit seinen 66 Jahren der jüngste dieser hier betrachteten Autobiographen. Seine „51 Geländegänge“ unterscheiden sich kategorial von den zuvor betrachteten Autobiografica. Sein Buch mit dem abstrakten Titel „Grenzen, Ränder, Niemandsländer“ bewegt sich assoziativ-thematisch zwischen autobiografischen Reminiszenzen & essayistischen Ausschweifungen. Im Vergleich mit Stilett & Piwitt, die beide einen je eigenen Stil besitzen, ist Schimmangs Prosa ebenso unscheinbar wie glanzlos, ohne stilistische Verdichtungen oder Spezifika, um nicht zu sagen bieder. Der Autor war lange Zeit Hochschullehrer & ist erst seit rund 10 Jahren ein Freier Schriftsteller & Übersetzer. Nahe der niederländischen Grenze im Emsland geboren, in niedersächsischen Northeim aufgewachsen, hat er in West-Berlin studiert, in Köln unterrichtet & lebt heute in Oldenburg.

Der Autobiograph Schimmang ist stolz darauf, nicht in der BRD, sondern 1948 noch in der „britischen Zone“ geboren worden zu sein. Denn sein Misstrauen gegenüber seinen mitdeutschen Landsleuten ist nachdem, was er von ihren Taten schon früh & traumatisch durch den Klassenbesuch von Erwin Leisers „Hitler“-Dokumentation erfahren hatte, bis in sein heutiges Alter ihm präsent geblieben. Zwar habe er verstanden, dass für DDR-Bewohner Mauerfall & Entgrenzung eine überfällig-notwendige Befreiung war, aber den Jubel über das „wieder vereinigte Deutschland“ konnte er nicht teilen.

Lieber als im Zentrum, bzw. bei der Mehrheit hat der Schriftsteller von Kindesbeinen an die Ränder & Niemandsländer gesucht. Über die Grenze nach den Niederlanden ist er schon als Schuljunge einfach so gegangen & eines seiner ersten Bücher war 1968 das literarische Debüt „Ränder“ des diesjährigen Büchnerpreisträgers Jürgen Becker; auch er „ein Liebhaber des Halbschattens“, wie Alfred Andersch den Typus nannte. Schimmang sieht seine persönliche Utopie der zurückgenommenen Existenz im Abseits von Peter Handke verwirklicht, den er zweimal in dessen Haus am Rande von Paris (ehrerbietig wie ein Pilger einen Eremiten) besucht; und hätte er den (auch von Handke geschätzten) Julien Gracq nicht erst entdeckt, als er schon tot war, hätte er ihn auch als Bewunderer heimgesucht.

Das Schöne an Jochen Schimmangs umherschweifenden autobiografischen Streifzügen, die ihn scheinbar „vom Hundertsten ins Tausendste“ führen, ist ihr Charakter einer fortlaufend erzählten geistigen Biografie: sowohl von Orten (wie z.B. den nahe Köln lange Zeit brach gelegene Mediapark als eines der vom Autor geschätzten „Niemandsländer“) als auch von Büchern oder Autoren wie (neben den schon erwähnten) Emmanuel Bove, Reinhard Kaiser & Petri Tamminen. So bewegt der Reflektierende z.B. sich einmal von Siegmund Freud & über den Terminus „Angstlust“, die Schimmang in einem einsamen Vogesental als Autofahrer ereilte, bis zum verabscheuten „heimatbesoffenen Gemütlichkeitssumpf“ des nicht nur bayrischen Identitätsgeschwafels vom „Mir san mir“. Edgar Reitz´ filmisches „Heimat“-Epos nimmt er zurecht davon aus. Oder er berichtet als Zeitzeuge & recherchierender Beobachter von der Tragödie der hoffnungslos geschlagenen Bergarbeiter Yorkshires, den ersten sichtbaren Opfer des radikalen Neoliberalismus der Maggie Thatcher. Schimmang beschreibt vielfältig & sensibel, wie der allseitig um sich greifende Kapitalismus seine geliebten Rückzugsorte, alle Grenzen, Ränder & Niemandsländer in Deutschland & Mitteleuropa durchdringt, bzw. abschafft. Schimmangs essayistisch-reflektiertes Memento Mori gilt nicht der eigenen Existenz, sondern der sie umgebenden alltäglichen gelebten Welt.

Wolfram Schütte

Hans Stilett: Eulenrod. Biographisches Mosaik. Kunstmann Verlag, München 2013. 107 Seiten. 14,95 Euro.
Hermann Peter Piwitt: Lebenszeichen mit 14 Nothelfern. Wallstein-Verlag, Göttingen 2014. 143 Seiten. 17,90 Euro.
Jochen Schimmang: Grenzen Ränder Niemandsländer. Nautilus Verlag, Hamburg 2014. 154 Seiten. 19,90 Euro.

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