Grandioser Kunst-Krimi
„Ungeheuer ist viel – doch nichts ungeheurer als der Abgrund, der das Gewesene vom Verstehen trennt“
Dieser dunkle Sinnspruch führt in das tiefe Zentrum eines ganz und gar außergewöhnlichen Kunst- und Kriminal-Romans, der in höchst raffinierter Komposition ein kulturgeschichtliches Panorama von der Frührenaissance bis zur Gegenwart spannt und dabei von der ersten bis zur letzten Seite bannt.
Ausgangspunkt der Geschichte ist eine spontane Wette des niedersächsischen Oberstudienrates Dr. phil. Wernfried Hübschmann mit der exzentrischen Musikwissenschaftlerin Antonietta Riccioli: Es geht darum, das verschollene Requiem Guillaume Dufays – eines der führenden Komponisten der Frührenessaince – „anhand sämtlicher verfügbarer Quellen, und gemäß umfassender Kenntnis der Musik seiner Zeit… qua Analogieverfahren … zu rekonstruieren“.
Hübschmann, der in diesem Roman als Ich-Erzähler und Tagebuchschreiber auftritt, ist ein feinsinniger Bildungsbürger alter Schule mit einem exzeptionellem Kunst- und Sprachhorizont. Ein Leben lang hat ihn der „Schatten der Antiquität“ begleitet, so dass er sich „zum Zeitgemäßen nur noch mühsam versehen“ kann und trotzig das „Unnütze, Verquere, bewusst Abweichende“ seines Tuns behauptet. Entsprechend pflegt er in seinen Berichten auch einen durch und durch anachronistischen Stil, der auf die Schachtelsätze von Tacitus oder das manierierte Rokokko eines Gottschedt verweist. Tief vergräbt dieser Hübschmann sich im Laufe der Wette in die Musikgeschichte, paukt Altfranzösisch, Mensuralnotation und Kontrapunkt, wühlt sich durch mächtige Monographien und die Messen des 15. und 16. Jahrhunderts – diese aus „einer unheimlichen Komplexion von Barbarei und Kultiviertheit erwachsenen, imitatorisch verflochtenen, kanonisch verschlungenen Eisblumenstücke“.
In die holden und höchst faszinierenden Verschlingungen der Kunst und Wissenschaft platzt plötzlich ein mysteriöser Drohbrief an Antonietta Riccioli: „mal heur me bat“ – Unglück schlägt mich. Und nun erinnert sich der Leser auch wieder an den szenischen Tod eines britischen Soldaten im Jahre 1927, mit dem das Buch unvermittelt einsetzte und der in geheimnisvoller Verbindung mit Dufays Requiem zu stehen scheint. Bedrohlich knisternd steigt jetzt die Spannung, sickert schwarz-schaurig aus den Zeilen – bis es schließlich zu einem schockierenden Todesfall kommt.
In Analogie zu den Kompositionen Guillaume Dufays verflicht Wolfgang Schlüter in seinem vielschichtigen Roman die verschiedensten Stilelemente zu einer „polyphonen Synthese“, zu einem kaleidoskopischen Sprachuniversum. In den ohne Zentralperspektive zusammengestellten Briefen, Berichten, Tagebuchaufzeichnungen und Dialogen wimmelt es von lateinischen, (alt-) französischen, (alt-) englischen und italienischen Sentenzen, von Slangausdrücken und Dialekten. Virtuos reizt der lange Zeit für die Arno Schmidt-Stiftung tätige Autor die unendliche Fülle und Opulenz der Sprache(n) aus. Unter der Handlungs- und Spannungsebene sind die so heterogenen Textteile dabei durch eine Vielzahl von verborgenen Kanälen, Anspielungen und assoziativen Verweisen verbunden. Und hinter all dem lauert eine „Parallelwahrheit“, die sich in einem spektakulären Showdown im Wiener Narrenturm mit seinen schauerlichen Exponaten offenbart – und erst in des Rätsels völlig überraschender Lösung entpuppt sich auch die ganze „ars combinatoris“ dieses grandiosen Romans.
Karsten Herrmann
Wolfgang Schlüter: Dufays Requiem. Eichborn-Berlin, 432 S., 49,80 DM