Geschrieben am 7. November 2009 von für Bücher, Crimemag

Wolfgang Krieger: Geschichte der Geheimdienste

Die Jagd nach dem ,,Vorher“-Wissen

Wolfgang Kriegers Rückblick auf die Geschichte der Geheimdienste, vorgestellt von Peter Münder.

Die Geschichte der Geheimdienste ist wahrlich ein weites Feld, daher erst mal diese Vorbemerkung zur Besprechung von Wolfgang Kriegers neuer Studie (nach dem bei C.H. Beck veröffentlichten Sammelband Geheimdienste in der Weltgeschichte).

Als „The Second Oldest Profession“ hatte der australische, in London lebende Spionage-Experte Phillip Knightley in seinem bereits 1986 veröffentlichten Standardwerk (dt. 1989 als Geschichte der Spionage im 20. Jahrhundert) den Spionage-Job beschrieben. Der bekannte Sunday Times-Enthüllungsjournalist ist sozusagen der Papst der „Spywatcher“: Er hatte den berühmt-berüchtigten britischen KGB-Maulwurf Kim Philby nach seiner Flucht aus Beirut 1963 vier Jahre später in Moskau interviewt und 1968 über ihn eine große Biografie geschrieben. Er hatte die Hintergründe der Anwerbung der „Cambridge Five“ KGB-Maulwürfe und diverse andere Skandale beim britischen MI5 (Inlandsgeheimdienst) und MI6 (Ausland) enthüllt und die Machenschaften beim israelischen Geheimdienst bloßgelegt, als Mossad-Agenten den abtrünnigen Atomwissenschaftler Mordecai Vunanu entführten und inhaftierten, um ihn am Verrat des geheimen israelischen Atomwaffenprojekts zu hindern.

Beeindruckend und wohltuend ist Knightleys skeptisch-pragmatische Grundhaltung gegenüber den mit Milliarden subventionierten Monsterbürokratien von CIA, NSA, FBI, DIA, KGB, GRU, Mossad, BND und wie sie alle heißen: „Was haben die denn schon jemals Entscheidendes herausgefunden?“ ist seine Grundeinstellung. „Haben die Dienste nicht alle wichtigen historischen Ereignisse wie Pearl Harbour und die Korea-Krise, den Bau und den Fall der Berliner Mauer, den Einmarsch der Sowjets in der CSSR und Afghanistan, Saddam Husseins Überfall auf Kuwait und die Terror-Attacken des 11. September verpennt? Und nun, nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Verlust eines über Jahrzehnte vertrauten und gepflegten Feindbildes wollen sie wieder mehr Geld, mehr Leute, mehr Kompetenzen im Kampf gegen den Terror einfordern?“ fragt er entrüstet.

Knightley lässt sich nicht von den Superlativen beeindrucken, mit denen vor allem die amerikanischen High-Tech-Schnüffler der NSA (National Security Agency) gerne protzen: All die unzähligen Tonnen Computerpapier mit geheimen Informationen, die weltweite Satellitenüberwachung, die aberwitzigen Datenmengen, die bei abgehörten Gesprächen, überwachten E-Mails und Fax-Mitteilungen anfallen: „Wer soll das alles auswerten und dann noch die richtigen Schlüsse ziehen?“

Die entscheidenden Fragen nach dem 11. September und dem von George W. Bush angezettelten Irak-Krieg lauteten für Knightley: „Wie unabhängig und objektiv können diese Dienste überhaupt noch operieren? Werden sie nicht, wie von US-Präsident George W. Bush praktiziert, für die politischen Absichten des Regierungsapparats instrumentalisiert, um etwa die Existenz von Massenvernichtungswaffen zu suggerieren, was sich dann als Lug und Trug herausstellte?“ Für den Spionagexperten Knightley steht jedenfalls fest, dass die riesigen Schnüfflerorganisationen systematisch als Erfüllungsgehilfen politischer Instanzen missbraucht werden, viele Pannen produzieren, die systemimmanent bedingt sind und sich aufgrund erbitterter jahrzehntelanger Rivalitäten wie etwa zwischen CIA-FBI-NSA und DIA selbst behindern und das effektive Sammeln und Auswerten von Informationen somit letztlich sabotieren.

Er geht sogar so weit, angesichts einer fast unendlichen Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen die Frage nach der Existenzberechtigung dieser Dienste zu stellen. „Wenn ich wirklich fundierte Informationen brauche, dann ist ein Abo der New York Times jedenfalls ergiebiger und zuverlässiger als irgendein Geheimdienstbericht“, meint Knightley, der für seine aufsehenerregenden Spionage-Berichte in London mehrmals als „Journalist des Jahres“ ausgezeichnet wurde.

Biblische Spähtrupps …

Genug der Vorrede, zur aktuellen Rezension: Der deutsche Historiker Wolfgang Krieger ist auch, wie Knightley, Spezialist für die Geschichte der Geheimdienste, aber er betrachtet die Dienste aus einem rein akademischem Erkenntnisinteresse. Krieger ist Historiker an der Uni Marburg, war Fellow in Harvard und Oxford, ist Mitglied im Beirat des französischen Verteidigungsministeriums und hat den Arbeitskreis „Geschichte der Nachrichtendienste“ mitbegründet. Sein historischer Rückblick zielt ab auf eine „spannende Darstellung der Geschichte der Geheimdienste durch drei Jahrtausende von den Pharaonen bis zum CIA“.

Die ersten spionierenden Spähtrupps wurden schon in der Bibel erwähnt, wie Krieger mit seinem Zitat aus dem 4. Buch Mose zeigt: „ Also sprach der Herr zu Mose: Sende Männer aus, dass sie das Land Kanaan erkunden, welches ich den Israeliten geben will … Sehet das Land an, ob die Bevölkerung stark oder schwach, ob in Zelten wohnend oder in Festungen. Schaut auch, wie es um den Boden steht“. Der Report der Spione über ihre Beobachtungen im Land, wo Milch und Honig flossen, war bezeichnend, denn er illustriert auch das Dilemma der Spionage-Experten unserer Tage, die etwa über die Existenz von Nuklearwaffen im Iran oder über Massenvernichtungswaffen im Irak befinden wollen, dabei jedoch im diffusen Nebel widersprüchlicher Spekulationen stochern. Man konnte sich nämlich nicht auf eine schlüssige Auswertung der Befunde einigen. Sprachen die Indizien des vorgefundenen Wohlstands dafür, dieses Land zu erobern oder war Kanaan zu stark und hochgerüstet, so dass eine Invasion mit einem Fiasko enden würde? Was nützen also umfassende, unter schwierigen Bedingungen ausgespähte Informationen, wenn sie falsch interpretiert oder sogar komplett ignoriert werden, weil sie nicht ins gängige Feindbild passen? Krieger weist zu Recht auf Stalins Trotzki-Phobie hin, die sein Weltbild und fast alle politischen Aktivitäten dominierten, was dazu führte, dass er über hundert präzise Meldungen zum bevorstehenden deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 (mit drei Millionen Soldaten in 152 Divisionen) ignorierte: Priorität hatte auch ein Jahr nach der Ermordung Trotzkis immer noch der Kampf gegen konterrevolutionäre Trotzkisten; außerdem hielt Stalin die Warnungen für eine perfide Desinformationskampagne der Briten.

Spannende Exkurse

Diese historischen Exkurse Kriegers sind meistens informativ und spannend, weil sie bisher wenig bekannte Details über das mühselige Alltagsgeschäft der Spione vermitteln. So beschäftigte etwa während des Ersten Weltkriegs ein belgischer Spionagering zweitausend Trainspotter, die deutsche Waffentransporte an die französische Front ausspähten. Doch leider betrachtet er die Dienste wie ein Paläontologe, der aus Versteinerungen ewig gültige Erkenntnisse beziehen will. Man mag es als kritisch-hermeneutisches Defizit betrachten oder als idealisierende Naivität: Die geballte Ignoranz und Arroganz amerikanischer CIA-Cowboys, die über riesige Etats und enorme Manpower verfügten, in Teheran oder Saigon, in Guatemala oder Moskau eingesetzt waren und weder die Landessprache beherrschten noch mit kulturellen Gepflogenheiten vertraut waren, ist schon atemberaubend. „Sie hatten die beste Zeit ihres Lebens“, meinte ein hoher amerikanischer Beamter im Außenministerium über CIA-Agenten, die 1963 in Saigon den Putsch gegen Präsident Ngo Dinh Diem vorbereiteten. Aber sie hatten eben nichts verstanden vom Befreiungskrieg eines Volkes, das es satt hatte, von korrupten Marionetten regiert zu werden. Darüber verliert Krieger allerdings kein Wort, auch wenn er die jüngsten Verschleppungen und Entführungen von Terrorverdächtigen in illegale Auslandsgefängnisse durch CIA-Agenten für „problematisch“ hält.

Immer wieder: Sunzi

Offenbar hat sich seit den vor 2500 Jahren formulierten Einsichten des chinesischen Philosophen, Generals und Militärstrategen Sunzi wenig geändert hinsichtlich der Ressourcen-Einschätzung und der erforderlichen finanziellen Mittel für die Geheimdienste. Krieger zitiert zustimmend Sunzis Thesen und Forderungen, etwa nach ausreichender Finanzierung der Spionagetätigkeiten: „Feindliche Armeen können sich jahrelang gegenüber stehen und um den Sieg ringen, der an einem einzigen Tag erkämpft wird. Da dies so ist, ist es der Gipfel der Unmenschlichkeit, über die Verfassung des Feindes im Unklaren zu bleiben, nur weil man die Ausgabe von hundert Unzen Silber für Belohnungen und Sold scheut. Wer so handelt, kann Männer nicht führen, kann seinem Herrscher keine wertvolle Hilfe sein, kann den Sieg nicht erringen“. Denn nur mit dem heimlich erworbenen „Vorherwissen“, so Sunzi, sei ein militärischer Sieg möglich. Aus Sunzis Sicht sind hundert Unzen Silber Peanuts, wenn man berücksichtige, dass ein Heer von hunderttausend Männern tägliche Ausgaben von hunderttausend Unzen Silber erforderte.

So ähnlich argumentieren heutzutage auch die Chefs aller großen Geheimdienste. Da kann es auch nicht überraschen, dass Sunzis Schrift Die Kunst des Krieges nach einer Neuausgabe in den 80er Jahren bei einigen US-Generälen und Politstrategen vorübergehend die Bibel ersetzte und der Bestseller-Autor James Clavell (Shogun), der das Vorwort zur englischen Ausgabe verfasste, resümierte: „Hätten mehr US-Generäle schon in den 70er Jahren Sunzi gelesen, dann hätten wir auch den Vietnamkrieg gewonnen“. Es läuft auf das bekannte Lamento hinaus: „Mit mehr Geld, mehr Leuten, modernerer Ausrüstung hätten wir alle Probleme gemeistert“.

Kritik?

Muss der Historiker hier nicht mit kritischen Resümees einsetzen und die Irrtümer und Parallelen zu ähnlichen historischen Situationen (Vietnam!) nachweisen? Krieger fordert zwar im Kontext der Diskussion um brutale Folterexzesse (Waterboarding, Abu Ghraib etc.) mehr Kompetenzen für Kontrollgremien, doch stellt die Existenzberechtigung der aufgeblähten Schnüfflerorganisationen und ihrer unersättlichen Gier nach mehr Mitteln, mehr Personal und mehr Kompetenzen nie in Frage.

In seiner dürftigen Literaturliste werden Phillip Knightleys kritische Standardwerke zur Geheimdienstgeschichte oder über Kim Philby und die „Cambridge Five“ weder erwähnt noch neueste, viel beachtete Studien über das Totalversagen der CIA wie Tim Weiners vernichtende Analyse CIA-Die ganze Geschichte, oder die gnadenlose Abrechnung des Ex-CIA Agenten Robert Baer (Der Niedergang der CIA), die Krieger ebenfalls nicht zur Kenntnis nimmt.

Gerade Weiner stellt ja mit seiner bahnbrechenden Studie der CIA-Machenschaften fast alle Prämissen bekannter Experten auf den Kopf: Schon während der Amtszeit Trumans, als sich die CIA aus einem abenteuerlichen OSS-Haufen zum ersten mit weitreichenden Kompetenzen ausgestatteten US-Geheimdienst entwickelte, hatte sich die US-Regierung weniger auf die Jagd nach wichtigen Informationen kapriziert als vielmehr auf das Liquidieren politisch suspekter ausländischer Staatsmänner und Regierungen. Man plante und realisierte Putschversuche und formierte Killerkommandos, um in Iran, Mittel- und Südamerika, in Afrika, im Ostblock, in Vietnam, Laos und Kambodscha unliebsame Systeme auszuschalten. Diese Tradition setzt sich mit einer beängstigenden, brandgefährlichen Konsequenz bis hin zur US-Invasion im Irak fort, wie Weiner zeigt.

Die Geschichte der Geheimdienste ist also keineswegs eine Nebendisziplin prähistorischer Forschungsgebiete mit mathematisch erfassbaren Größen und Resultaten, wie Krieger suggeriert. Sie führt aufgrund neuer Augenzeugenberichte und nach der Freigabe bisher geheimer Unterlagen vielmehr zu einem fortwährenden Prozess einer Neuorientierung in einem Labyrinth voller neuer, ungewöhnlicher Perspektiven. Gelegentlich liefern Geheimdienstexperten sogar spektakuläre neue Ansichten wie etwa der Amerikaner S. J. Hamrick (Deceiving the Deceivers, Yale Univ. Press, 2004) mit seinen Spekulationen über die „Cambridge Five“: Laut Hamrick wären die nämlich schon 1949 vom britischen Geheimdienst entdeckt, systematisch mit Desinformationen gefüttert und überwacht worden. Aber auch diese Thesen, die ja alle herkömmlichen Ansichten über die britischen Dumpfbacken von MI5 und MI6 über den Haufen werfen, werden vom Historiker Krieger hier nicht diskutiert.

Schade, denn spannende Episoden und faszinierende Fakten liefert Krieger in seinem Buch durchaus. Neben dem allzu dürftigen Literaturverzeichnis muss als weiteres Manko noch das Fehlen eines Personenregisters moniert werden.

Peter Münder

Wolfgang Krieger: Geschichte der Geheimdienste. Von den Pharaonen bis zur CIA.
Becksche Reihe 2009. 362 Seiten. 16,95 Euro.