Geschrieben am 8. Mai 2013 von für Bücher, Litmag

William E. Bowman: Die Besteigung des Rum Doodle

William E Bowman_ Die Besteigung des Rum Doodle„What are we doing here?“

Natürlich hat Bill Bryson Recht. „Die Besteigung des Rum Doodle“, das jetzt zum ersten Mal in deutscher Übersetzung erscheint*, ist tatsächlich das lustigste Buch, das Sie je lesen werden.** Aber darum geht es gar nicht. Von Aleks Scholz.

Rum Doodle ist ein zwölftausend Meter hoher Gipfel im Land Yogistan, der gewaltigste Berg der Welt. Zum ersten Mal bezwungen wurde er – natürlich – von einer englischen Expedition, unterstützt nur von ein paar tausend einheimischen Trägern. Es sind die 1950er Jahre, die 8000er fallen, das Wort „Annapurna“ ist im öffentlichen Bewusstsein angekommen, Eric Shipton und Bill Tilman sind englische Volkshelden. Jedes Frühjahr verschwinden die besten Kletterer in Länder mit unaussprechlichen Namen, um die höchsten Gipfel zu erobern. Die Expedition zum Rum Doodle soll die Krönung der englischen Bergsteigergeschichte darstellen.

Unsere einzige Informationsquelle über den Ablauf der Ereignisse ist der Bericht des Expeditionsleiters „Binder“, wie er in Funksprüchen genannt wird. Die notorische Unzuverlässigkeit von solch subjektiven Heldengeschichten gleicht der Autor aus, indem er ausschweifend die Worte und Reaktionen seiner Gefährten dokumentiert. Es scheint überdeutlich, dass Binder der Einzige am Berg ist, der sich ernsthaft für die Besteigung des Rum Doodle  interessiert. Die Einheit der Gruppe zu gewährleisten ist sein oberstes Ziel, denn, in den Worten des weisen Totter: „Den Montblanc kann man vielleicht mit einer zerstrittenen Mannschaft besteigen, den Rum Doodle niemals.“ Ein Ziel, das weitgehend unerreicht bleibt, zu verschieden sind die Ziele der Teilnehmer, zu wenig Toleranz vorhanden für die Interessen der anderen. Es ist eine Geschichte des kommunikativen Scheiterns und Missverstehens.

Denn Rum Doodle gehört nicht nur den Bergsteigern. Man benötigt einen Diplomaten, um mit den einheimischen Trägern in ihrer Sprache zu verhandeln, von der man Magengeschwüre bekommt, einen Arzt, um die Auswirkungen der dünnen Luft zu studieren, einen Techniker für die Funkgeräte und einen Kameramann, um die entscheidenden Szenen der Expedition zu dokumentieren. Die Industrialisierung hat die Berge erreicht, die Aufspaltung eines Arbeitsvorgangs in Spezialisierungen, und sie kollidiert mit der klassischen Vorliebe der Engländer für den „Geht-auch-so“-Dilettantismus. Ein Konflikt, der schon lange schwelt. So äußert sich Tilman im Jahr 1937 in seinem Bericht von der Erstbesteigung des Nanda Devi, eines der Vorbilder für Rum Doodle, sehr kritisch zur Gefahr der Mechanisierung des Bergsteigens und freut sich, den Gipfel ohne technische Hilfsmittel erreicht zu haben.***

Die Industrialisierung frisst ihre Kinder. Erst sorgt sie dafür, dass die Mittelschicht genügend Geld und Freizeit zur Verfügung hat, um aus Spaß Berge zu besteigen, dann verfolgt sie diejenigen, die vor ihr in die Berge fliehen, in Form von Kameramännern und Funkern. Bei der Besteigung des Rum Doodle wird der Konflikt zwischen dem geheiligten Amateurdasein und der notwendigen Spezialisierung dadurch gelöst, dass jeder der Experten auf seinem Gebiet völlig untauglich ist. Geht auch so.

Rum Doodle gehört außerdem den Wissenschaftlern, der Entourage der industriellen Revolution. Das Verhältnis zwischen Bergsteigen und Wissenschaft ist kompliziert. In viktorianischen Zeiten gehörten Messinstrumente zur Standardausrüstung von englischen Bergsteigern, das minutiöse Protokollieren von Beobachtungen war Ehrensache. Zum Teil diente die Naturwissenschaft als „Feigenblatt“, damit es nicht so aussieht, als seien Bergsteiger nur auf Spaß und Nervenkitzel aus. Mit der goldenen Generation der englischen Bergsteiger, Whymper, Mummery, und so weiter, gilt Wissenschaft am Berg allmählich als unzulässige Kontaminierung des männlichen Abenteuers. Sie taucht erst wieder in den 1920ern auf, als man sie für die allerhöchsten Berge des Himalaya benötigt. Akklimatisierung ist jetzt das Thema, es wird weniger die Umgebung beobachtet und mehr die Bergsteiger selbst, ihre Schlafqualität, ihre Atemfrequenz.

Der schon erwähnte Tilman macht sich noch 1937 über die Fragebögen der Wissenschaftler lustig. Bezeichnend, dass der Arzt auf Tilmans Expedition kein Engländer war, sondern Amerikaner: Charles Houston, derselbe Mann, der 1953 nach einem Sturz am K2, im Schnee sitzend und im Zustand geistiger Umnachtung, erstmals die entscheidende Frage stellte: „What are we doing here?“ Nur vor diesem historischen Hintergrund lassen sich die endlosen Diskussionen verstehen, die sich am Rum Doodle an der Rolle der Wissenschaft entzünden. Erbitterte Streitereien, die Binder nur unter Kontrolle hält, indem er wieder einmal Totter zitiert: „Kein vernünftiger Bergsteiger wird die Hilfe der Wissenschaft ablehnen, aber es gibt Grenzen.“

Schließlich wäre die Expedition unmöglich ohne die hart arbeitenden Träger, die aus den umliegenden Gegenden rekrutiert werden, die Sherpas des Rum Doodle. Bergsteigerrassismus durchdringt das Verhältnis zwischen Sahibs und Trägern. Die Einheimischen existieren nur als Masse, die wenigen, die einen Namen tragen, heißen Bing, Pong, So Lo und Lo To. Zwar sind die Yogistani eindeutig die besseren Kletterer, ausdauernder, geschickter, stärker, aber eben auch ein bisschen dumm. Es ist die Aufgabe der kultivierten Engländer, die rohe Kraft der Bergmenschen im Zaum zu halten. Zudem interessiert sich der Yogistani natürlich gar nicht für die Berge, sondern besteigt sie nur, weil er dafür bezahlt wird, wofür er wiederum vom Engländer belächelt wird. Erst Tenzing Norgay bricht aus diesem Schema aus und wird zum ersten Sherpa, der man als Bergsteiger ernst nimmt. Es erscheint logisch, dass am Ende die Träger auf dem Rum Doodle stehen, gelangweilt, hunderte von ihnen, selbstverständlich nur, weil sie eine Anweisung missverstanden hatten, während Binder versehentlich den falschen Berg besteigt.

Natürlich ist folgerichtig, dass Rum Doodle, der Berg der vielen Interessen, des Durcheinanderredens und Missverstehens, der Berg, auf den so viele verschiedene, gegensätzliche Hoffnungen projiziert werden, eine menschgemachte Fiktion ist. Genau wie Nanda Devi, Annapurna und Mt. Everest im Übrigen. Sie sind „Mountains of the Mind“. Im Vorwort zu seinem genau so betitelten Buch schreibt Robert MacFarlane: „The way people behave towards mountains has little or nothing to do with the actual objects of rock and ice themselves. (…) Mountains have been imagined into existence down the centuries.“

Berge nehmen von Menschen Besitz, sie machen sich breit in den Vorstellungen und werden zu einem kulturellen Konzept, das sich für den, der es mit sich herumträgt, so hart anfühlt wie Granit. „Man besteigt“, so Kathrin Passig im Buch „Verirren“, „nicht den Berg, sondern ein Objekt, das den berühmten Namen trägt.“ Und natürlich können in verschiedenen Menschen sehr unterschiedliche Bergkonzepte wohnen, wobei jedes von ihnen ganz genau weiß, wie der Berg zu behandeln ist. Rum Doodle ist nicht ein Berg, sondern mindestens fünf, oder sagen wir sicherheitshalber zehn, die alle um ihre Existenzberechtigung ringen und sich dabei lächerlich machen. Binder und seine Kameraden führen uns lediglich vor, wie albern unsere imaginierten Berge sind.

Aleks Scholz

* „Rum Doodles“ billige Sprachwitze zu übersetzen ist so gut wie unmöglich, deshalb darüber keine Klagen. Leichtes Unwohlsein stellt sich nur an einer Stelle ein, nämlich dort, wo aus „will it go?“ in der Übersetzung „ist der Berg zu schaffen?“ wird. Das englische „will it go“, eine klassische Diskussionsgrundlage bei der Planung von Bergexpeditionen, verschiebt die Verantwortung für das Gelingen des Unternehmens interessanterweise auf den Berg, der Erfolg oder Misserfolg wird eine Eigenschaft des Berges, der Berg geht, nicht die Expedition, was das Verhältnis des Menschen zum Bergsteigen gut charakterisiert. Nicht nur in England übrigens. „Geht das?“ fragen Deutsche, die vor einer steilen Felswand stehen.

** Vielleicht abgesehen von Stephen Potters „One Upmanship“, das im Übrigen auch ein Kapitel zum Thema Bergsteigen enthält. In „The Art of Not Rock Climbing“ katalogisiert Potter sorgsam die okayen und nicht-okayen Redewendungen für Möchtegern-Bergsteiger. Sehr okay zum Beispiel, direkt aus dem Mund des Experten Odoreida: „I always thought the wall on Craig Yr Ysfa would go.“

*** In einem Statement, das auch für „Rum Doodle“ passend wäre: „It is therefore pleasing to record that in climbing Nanda Devi no mechanical aids were used – apart that is from the Apricot Brandy. Our solitary oxygen apparatus was fortunately drowned, pitons were forgotten at the Base, snow shoes and crampons were solemnly carried up only to be abandoned.“

William E. Bowman: Die Besteigung des Rum Doodle (The Ascent of Rum Doodle, 1956). Aus dem Englischen von Wolfgang Colden, bearbeitet von Michael Hein. Rogner & Bernhard 2013. 180 Seiten. 19,95 Euro.

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