Geschrieben am 13. März 2004 von für Bücher, Litmag

Will Self: Wie Tote leben

Nach dem Tod ist vor dem Tod

Großartige literarische Abrechnung mit unserer Gesellschaft und ein Heidenspaß für alle, die nicht zu empfindlich sind.

Er ist so etwas wie das enfant terrible der britischen Literaturszene. Tabubrüche sind sein Markenzeichen und nichts scheint ihm eklig genug zu sein – dennoch ist Will Self alles andere als ein Trash- oder Underground-Autor, sondern gehört zu den Bestsellern. Er spielt mit literarischen Traditionen, weiß mit Sprache virtuos umzugehen, offenbart trotz seines Hangs zur Provokation eine Menge Feingefühl.

Sein neuer Roman „Wie Tote leben“ ist eine Generalabrechnung mit unserer Konsumgesellschaft und ein riesiger makabrer Spaß. Self hebelt alle gängigen Theorien über ein Leben nach dem Tod und über Wiedergeburt aus. In seinem Roman bedeutet Sterben, in einen besonders öden Vorort Londons ziehen zu müssen…

Seine Heldin Lily Bloom stirbt 1988 im Alter von 66 Jahren an Krebs. Doch was sie nach dem Tod erlebt (!) widerspricht so ziemlich jedem herkömmlichen religiösen Verständnis von Paradies, Hölle oder gar Wiedergeburt. In einem heruntergekommenen Taxi mit dreiköpfigem Wackeldackel auf der Hutablage kutschiert sie ein griechischer Zypriot durch die Straßen Londons, hin zu einem Stadtteil, der auf keiner Karte existiert und in den sich nur selten Lebende verirren. Wie in George Romeros Kultfilm „Dawn of the Dead“, in dem es die Zombies aus alter Gewohnheit in Shopping Malls zieht, können auch bei Self die Toten nicht von alten Gewohnheiten lassen: Man zahlt Miete, geht arbeiten, einkaufen, ja sogar essen – obwohl man nach dem Kauen die Speisen wieder ausspuckt.

Einiges an Selfs Bild einer ätherischen, körperlosen Welt hält logischen Fragestellungen nicht stand, doch angesichts seiner überbordenden Phantasie dringen solche Zweifel in den Hintergrund. So muss Lily ihren Tod teilen mit allerlei seltsamen Wesen: da ist Lithy, der wenige Zentimeter große Embryo, der in den 60er Jahren abstarb und unbemerkt in Lilys Eileiter versteinerte – nun wuselt er stets um Lilys Beine und trällert mit Vorliebe Pop-Songs der Siebziger. Schlimmer setzt ihr „Kotzbrocken“ zu, ihr Sohn, der im Alter von neun Jahren durch ihr Verschulden starb und der sich nun jeder Erziehung widersetzt. Harmlos hingegen sind die „Fetten“, die sich aus all den im Laufe von Diäten verlorenen Kilos zusammensetzen und blind durch die Wohnung schleichen.

Bei all den liebevollen Details, die Self für die Welt der Toten aufwendet, spielt dennoch der überwiegende Teil des Romans im Diesseits. Wenn Lily boshaft über ihre Mitmenschen herzieht, den Ex-Mann, die Töchter, von denen eine drogensüchtig und die andere langweilig ist, dann erinnert ihr Zynismus an die Stimme von Barney Panowski aus Mordecai Richlers fabelhaftem Roman „Wie Barney es sieht“.

„Wie Tote leben“ ist eine großartige literarische Abrechnung mit unserer Gesellschaft und ein Heidenspaß für alle, die nicht zu empfindlich sind.

Frank Schorneck

Will Self: Wie Tote leben. Deutsch von Klaus Berr. Luchterhand, 447 Seiten.