Geschrieben am 13. März 2013 von für Bücher, Litmag

Wilhelm Genazino: Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands

Wilhelm Genazino Tarzan am MainDie Frankfurter Poetik-Fußwanderung

– Als „hart zu nehmender, unmenschlicher“ Ort habe Frankfurt in den 70er Jahren gegolten, erinnerte sich der Schriftsteller Eckhard Henscheid anlässlich der Vorstellung seiner Memoiren – ein Vorurteil, das immerhin „halber Unsinn“ gewesen sei.[1] Eine Erklärung, warum sich trotzdem gerade an diesem scheinbar amusischen Ort Henscheid und nicht wenige andere Literaten freiwillig niederließen, versucht sein Zeitgenosse und Kollege Wilhelm Genazino in seinem neuen Prosaband „Tarzan am Main“: „Ich denke, die Künstler waren mit der Unauffälligkeit ihrer Existenz einverstanden beziehungsweise: hielten diese Unauffälligkeit für eine Art Schutz.“ Von Joe Paul Kroll

Unauffälligkeit ist Schutz für verschrobene, sensible Existenzen wie den Protagonisten von Genazinos Roman „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001). Der englische Titel des Romans – „The Shoe Tester of Frankfurt“ – zeugt von der Not des Autors, eine Figur zu erfinden, die einen guten Grund hat, am helllichten Tag ziellos die Straßen zu durchwandeln, aber kein Schriftsteller sein soll. Doch Frankfurt ist ohnehin, wie schon Siegfried Kracauer festgestellt hat, nicht der natürliche Lebensraum des Flaneurs, denn es „besitzt nicht die Unermesslichkeit, die eine Vorbedingung des Flanierens ist.“[2] In seinem neuen, so schmalen wie reichhaltigen Buch hilft Genazino diesem Mangel mit einer Schärfung des Blicks ab, mit der Fähigkeit zu raschen Perspektivwechseln auf kleinem Raum, und mit der Gabe, den Raum der Stadt imaginativ mit ganz anderen Orten und schließlich der eigenen Biografie zu verknüpfen.

„Ich glaube nicht, dass es außer Frankfurt noch eine andere Stadt gibt, in der sich die folgende Szene abspielen kann“, leitet Genazino eine Episode ein. Damit ist schon eine Bedingung für ein Buch über eine Stadt genannt, wenn es nicht in Beliebigkeit oder Folklore abgleiten soll: Ort und Ereignis müssen in einem innigen Verhältnis zueinanderstehen. Schon in seinem Frühwerk scheint der Autor diese Regel bedacht zu haben: Bahnhofsviertel und Betonsiedlungen sind Orte, wie es sie anderswo zwar gab, die aber doch in besonderem Maße für den vermeintlichen Moloch Frankfurt in den 70er Jahren stehen. In Genazinos „Abschaffel“-Trilogie (1977–1979) bilden sie einen Hintergrund, der dem Protagonisten bisweilen feindselig entgegentrat, vor allem aber eine Art Vertrautheit erzeugte. Die Figur des Abschaffel zeigte sozusagen den richtigen Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Schon um 1930 hatte Kracauer im großstädtischen Angestellten den Typus der Zeit ausgemacht, eine Entwicklung, die jedoch durch Nationalsozialismus, Krieg und den „Provinzialismus“ (Karl Heinz Bohrer) der bundesdeutschen Nachkriegszeit zurückgeworfen wurde.

Frankfurt-Sachsenhausen. Foto: Joe Paul Kroll

Frankfurt-Sachsenhausen. Foto: Joe Paul Kroll

Auch heute schildert Genazino Frankfurt als „spezifische Angestelltenstadt“. Frankfurt ist ein Ort, an dem gewisse Dinge passieren, weil er gewisse Menschen anzieht, dies wiederum aus primär ökonomischen Beweggründen. Es ist eine Stadt, die zu einer materialistischen Weltsicht verleitet und auch zur Illusionslosigkeit über die Stadt selber. Dem idealistischen, dem Überzeugungs-Frankfurter, ist zu misstrauen. Dafür ist Frankfurt eine Stadt, in der es sich aushalten lässt. Sie fordert keine Liebe, erhebt keinen Anspruch auf Vollendung. Zu viel in ihr existiert auf Vorbehalt – seien es nun die Angestellten, deren Stellen den Fluktuationen der Wirtschaft unterworfen sind, oder die Gebäude, in denen diese Angestellten arbeiten, und die jederzeit einem neueren und höheren, wenn nicht immer schöneren, Glasturm weichen können.

Autor Wilhelm Genazino

Autor Wilhelm Genazino

Dem Besucher rät Genazino, eine Bereitschaft zur Desillusionierung mitzubringen. Und wie es die Besucher beinahe unweigerlich tun, fängt auch er beim Hässlichen an, bei Rotlicht- und Bankenviertel, den Orten also, die den schlechten Ruf Frankfurts ausmachen. Doch gerade dort findet sich, was Frankfurt eigentlich so bemerkenswert macht, es von einladenderen, gemütlicheren Städten abhebt: „Wer Frankfurt für ungenießbar hält, hat nicht verstanden (oder: nicht hinnehmen können), dass die Dynamik des Kapitals eine Macht ausstrahlt, die selber längst ästhetische Formen angenommen hat.“ Die Stadt bietet nicht das liebliche Bild, das den Touristen beglückt. Wenn sie doch Respekt und gar Zuneigung gewinnen kann, dann ist es eher Zufall: „Die Dynamik des Kapitals ist nicht darauf fixiert, dass sie gefällt.“

Demgemäß pflegt man in Frankfurt einen lockeren Umgang mit dem eigenen Erbe, mit Baudenkmälern wie mit der intellektuellen Tradition. Man mag natürlich darüber streiten, ob die Lage gar so arg ist, wie Genazino behauptet: „Niemand spricht von Goethe, niemand von Adorno.“ – Nun, dass nach beiden Preise benannt sind, die Frankfurt vorzugsweise an prominente Intellektuelle von außerhalb verleiht, könnte Genazinos Behauptung eher noch Stützen. Auch, dass es neben dem üblichen Goethe-Nippes inzwischen auch Produkte mit dem Konterfei Adornos zu kaufen gibt (diese in den Hipster-Boutiquen Alt-Sachsenhausens) taugt nicht zum Gegenbeweis. Genazino scheint aber zu ahnen, dass Frankfurts unterlassene Selbstvermarktung als „Literaturstadt“ immerhin eine peinliche Musealisierung vergangenen Ruhmes erspart.

Die Wunde, die der Wegzug des Suhrkamp-Verlags im intellektuellen Selbstbewußtsein Frankfurts schlug, ist keineswegs herbeifantasiert, doch ist dieser eher Symptom denn Auslöser dessen gewesen, was Genazino als „eine Art Bedeutungsverlust“ bezeichnet: „Bis zur Wiedervereinigung war Frankfurt ein auffälliger Glanzpunkt im kleinen Westdeutschland. […] Jetzt läuft Frankfurt in seinem zu groß geratenen Anzug herum und will nicht recht wahrhaben, dass es heimlich herabgestuft wurde.“ Fern die Zeiten, da Frankfurt (in der Erinnerung Karl Heinz Bohrers) sich anschickte, „zum politischen und intellektuellen Zentrum der ganzen Republik“ zu werden: „[N]ie war eine westdeutsche Großstadt der Überwindung provinzieller Bedingungen näher als das Frankfurt der späten sechziger Jahre.“[3]

Das Provinzielle strömt täglich in Gestalt hunderttausender Pendler nach Frankfurt hinein, und auch diesen widmet Genazino einige zärtlich mitfühlende Zeilen. Doch das Provinzielle gehört auch zu Frankfurt selbst, nicht nur an den Rändern, in den teils noch dörflichen, teils schlicht unbelebten Stadtteilen. Problematisch ist daran, dass die Stadt diesen Aspekt nicht in ein harmonisches Bild ihrer selbst einzufügen vermag: „Zum einen gefällt sich die Stadt in ihrer hausbackenen Eppelwoi-Seligkeit, zum anderen will sie als Mainhattan gelten. Man muss annehmen, dass Menschen, die derlei Verschmelzungen angemessen finden, noch nie in New York gewesen sind.“ Es sind aber gerade solche Widersprüche, die Frankfurt für den flanierenden Schriftsteller interessant machen und die fehlende Unermesslichkeit der Stadt zu kompensieren vermögen. Da schildert Genazino „Diskontinuitäten“ wie die parallel zur Zeil („Frankfurts vielleicht heikelstes Kapitel“) verlaufende Töngesgasse, in deren kleinen Geschäften sich „die Atmosphäre der Nachkriegszeit“ bewahrt, oder die Fortsetzung der Zeil östlich der Konstablerwache, wo eine der umsatzstärksten Einkaufsstraßen Deutschlands unvermittelt in ein Niemandsland aus Imbissen, Ein-Euro-Läden und Bordellen sich verwandelt.

genazino_abschaffel_neu.indd„Die Belebung der toten Winkel“, wie Genazino seine Frankfurter Poetikvorlesungen überschrieb, leitet auch hier sein Tun und weist ihm als Aufgabe die Wege durch die Stadt. Es sind die banalen bis halbseidenen Orte, an denen er seine Beobachtungskunst schult. Sein Revier ist die Straße, allenfalls noch das Ladengeschäft: „Der Supermarkt ist die kleinste mögliche Erlebniseinheit der Stadt.“ Er interessiert sich nicht für die mondänen Restaurants, für die Theater oder andere Einrichtungen des „guten Lebens“, die sich in Frankfurt ohnehin eher selten in den Vordergrund drängen. Lieber beobachtet er einen fliegenden Händler, der aus dem Bahnhofsschließfach eine Flasche Cognac holt, daraus trinkt und sie wieder wegstellt – eine Episode, die auch zeigt, was uns an Mikrokultur verloren ginge, wenn man die Schießfächer (wie andernorts bereits geschehen) Sicherheitsbedenken opferte.

Manchmal verweigert Genazino die Nennung von Schauplätzen – gerade, wenn dort etwas schönes, eine stilles Glück suggerierende Begebenheit stattgefunden hat, eine besonders wohlig dösende Katze im Schaufenster erspäht wurde. Diese Orte genießen den Schutz der Diskretion. Andere erfahren eine Sonderbehandlung durch den eigentümlichen Gebrauch von Bindestrichen: Nicht nur Rotlint-Straße, sondern auch Rotlicht-Viertel, als müssten Gattung und Art zur eindeutigen taxonomischen Zuordnung klar getrennt werden – so auch im Fall der Konstabler Wache, nicht aber der Töngesgasse. Dafür findet, jenseits der ersten Seiten, recht wenig Reflexion über die physische Beschaffenheit Frankfurts statt; auch Geschichten um Gebäude und Denkmäler, die von touristischem Interesse wären, werden nicht referiert. Eher überrascht, dass auch über die äußeren Bedingungen des Flanierens, über Wetter und Schuhwerk, auf diesen Seiten wenig nachgedacht wird – höchstens über die unschönen Frankfurter Toiletten, die man dabei manchmal aufsuchen muss.

Dennoch schreibt Genazino, auch als Essayist ein zwar luzide formulierender, in der Sache aber nicht ohne Weiteres dingfest zu machender Autor, hier vielfach überraschend konkret und pointiert, und das zu vielerlei Themen. Schönes liest man zur Selbstfindung des Schriftstellers am Morgen – „Ich werde derjenige, der in Kürze schreiben wird “ – zum Literaturbetrieb, über Kleinbürger und Neuankömmlinge, und aus Genazinos eigener Frühzeit in Frankfurt als Redakteur der Zeitschrift „Pardon“. Es entsteht so eine Art Autobiografie dieses begnadeten Spaziergängers und Sich-kurz-Fassers, der sein Leben im Spiegel der Wahlheimat resümiert. So zeigen auch Erinnerungen aus der Kindheit, die mit Frankfurt scheinbar nichts zu tun haben, wie sich der Blick des Autors geschärft hat, wie spätere Wahrnehmungen geprägt wurden und wie er zu dem wurde, der jetzt durch Frankfurt streift.

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Frankfurt-Sachsenhausen. Foto: Joe Paul Kroll

Dass sich in alledem auch eine Poetik des Genazino’schen Schaffens sich andeutet, ist in diesen Ausführungen vielleicht zu kurz gekommen. Der Rezensent, der selbst noch nicht Frankfurter sich nennen mag, aber doch gerne Bewohner der Stadt ist, muss gestehen, hier doch zuvorderst aus der lokalen Perspektive geschrieben zu haben. Dazu mag passen, dass „Tarzan am Main“ schon längst in den Regalen für Frankfurtiana der hiesigen Buchhandlungen gelandet ist. Dies liegt zwar nahe, doch auch Leser Genazinos, die noch nie in Frankfurt waren oder es nie wieder sehen wollen, können sich an diesem Buch freuen.

Genazino hat etwas Vielschichtigeres vorgelegt als eine Sammlung mit Lokalkolorit untermalter Alltagsbeobachtungen, das auch dann noch interessiert, wenn man seine Romane zuletzt für ein wenig verwechselbar gehalten hat. Eine Liebeserklärung wird man dieses schmale Bändchen nicht nennen, doch steht im Vordergrund der Versuch, den Reiz dieser auf den ersten Blick so wenig anheimelnden Stadt auf den Begriff zu bringen. Auf die Spur kommt der Autor dabei schließlich sich selbst.

Joe Paul Kroll

Wilhelm Genazino: Tarzan am Main: Spaziergänge in der Mitte Deutschlands. München: Hanser Verlag 2013. 144 Seiten. 16,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Leseprobe. Wilhelm Genazino im SWR2 Kulturgespräch. Porträt: Wilhelm Genazino, 2007. © Annette Pohnert/Carl Hanser Verlag.


[1] Zit nach. Florian Balke: „Spitzentöne: Eckhard Henscheid liest im Frankfurter Mousonturm“. FAZ Nr. 34. 9. Februar 2013. Seite 47 (Stadtausgabe).
[2] Zit. nach Wolfgang Schopf: „,bin ich in Frankfurt der Flaneur geblieben …‘. Siegfried Kracauer und seine Heimatstadt. Berlin: Suhrkamp 2013. Seite 11.
[3] Karl Heinz Bohrer: „Provinzialismus. Ein physiognomisches Panorama“. München: Hanser 2000. Seite 83.

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