Kempo: Auf dem Weg zum Autor
– Frühe Aufzeichnungen von Walter Kempowskis sind nun postum erschienen. Von Wolfram Schütte.
Den vier von ihm edierten Tagebuchbänden folgt nun, herausgegeben von seinem Freund & Biografen Dirk Hempel, ein dicker Band mit “Aufzeichnungen” des Bautzen-Häftlings, Heideschulmeisters und Biographien-Sammlers Walter Kempowski, der 2007 gestorben ist. Die Aufzeichnungen stammen aus der „Vorzeit” des Schriftstellers, also aus den Jahren, als er noch ein literarischer Nobody war.
Kempowski hat seine Tagebücher, die er seit seiner Haftentlassung aus dem DDR-Gefängnis im März 1956 in der Bundesrepublik von 1956 bis 1970 geführt hat – als er zugleich mit zwei Büchern in zwei Verlagen debütierte: Mit „Im Block“ – der Literarisierung seines mehrjährigen Bautzen-Inhaftierung bei Rowohlt – & „Tadelloser & Wolf“ – dem erste Band seiner mehrbändigen „Deutschen Chronik”.
Während seine DDR-Knast-Erfahrungen (auch aus politischen Gründen) kaum wahrgenommen wurden, wurde er mit seiner minutiöser Rekonstruktion & epischen Erinnerung an seine Rostocker Familie (gewiss auch durch Eberhard Fechners TV-Adaption des Buches 1975) bundesweit bekannt & zu einem Erfolgsschriftsteller. Der literarische Querkopf & -Einsteiger einer ungewöhnlichen Ästhetik des kompilierten, „trivialen” Dokuments wurde von der bundesdeutschen Kritik jedoch weitgehend ignoriert & der bei Bremen auf dem Land in einer Volksschule lehrende Autor „links liegen gelassen”, was ihn in seinen vier Tagebüchern sowohl zu polemischen Angriffen als auch zu sentimentalischen Beschwerden über Kritik & Politik reizte.
Das nun von Dirk Hempel, nach gemeinsamen Vorarbeiten zusammengestellte Buch besteht nicht nur aus Tagebuch-Auszügen, sondern auch aus Briefen – vor allem (in seinem dritten Teil) aber aus dem Briefwechsel mit Fritz J. Raddatz, dem damaligen Rowohlt-Verlagsleiter & strengen Lektor des (gleich ihm) Ex-DDR-Debütanten. Hempel hat aber auch noch Raddatz´ literarische Rückversicherungen beigefügt, die der Lektor & Verleger über diesen Bautzen-Bericht bei H.M. Enzensberger, Joachim Kaiser & Peter Rühmkorf als Expertisen einholte. So entsteht im letzten Teil von „Wenn das man gut geht!” eine hochinteressante literarische Diskussion zur Literaturgeschichte der BRD. Sie allein schon lohnt die Lektüre.
Die zwei anderen, diesem vorgelagerten Schwerpunkte zentrieren sich um die ersten Jahre des Freigelassenen & nach Hamburg abgeschobenen siebenundzwanzigjährigen, weltfremden & -unerfahrenen jungen Mannes, der nun das Abitur nachholt & an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen studiert, um als Volkschullehrer sein Brot zu verdienen.
Während dieser Göttinger Zeit lernt er die gleich ihm dort studierende Hildegard Janssen kennen. Sie heiraten 1960, als er stolz sein Staatsexamen ablegte und traten bald darauf gemeinsam eine erste Arbeitsstelle in dem Weiler Breddorf an, bevor sie 1965 nach Nartum zogen, wo sie fortan lebten & sich der „abendlich Schreibende” sein durch immer neue Anbauten erweitertes Lebensnest & seine Arbeitsstätte baute.
Mit dem Telegrammsatz: „ICH BIN FREI”, aufgegeben in Wittenberge (DDR) & verschickt an die in Hamburg lebende Mutter, beginnen diese Aufzeichnungen. Während er sich zu seinem nachmaligem Berufsweg aufmacht & vergeblich versucht, als politisch Verfolgter anerkannt zu werden, verblasst der offenbar ursprüngliche Wunsch, in ein evangelisches Pfarramt zu kommen & wechselt hinüber zum Ziel eines Volkschullehrers, der offenbar gut & gerne mit Kindern seine „pädagogische Provinz” führen möchte. So denkt er sich für seine Zöglinge „Planspiele” aus, die seine glücklichen erzieherischen Neigungen belegen.
Aber der durch seine lange Abschließung in Bautzen (1948/56) um seine Jugend gebrachte „Idealist”, Chorsänger & Jazzhörer bildet sich autodidaktisch & führt ein heute kaum noch vorstellbares „naives” , „unschuldiges” Leben als Spätstudent mit harmlosen kleinen Freuden – unter mit studierenden Freunden. Er hält auch den Kontakt mit den ehemaligen Bautzener Mitgefangenen, auf die er in der Bundesrepublik immer wieder trifft. Vor allem sammelt er sowohl Erinnerungen an die Zuchthauszeit (es sind Vorarbeiten für „Im Block“) – als auch jede Art von Bildern, Dokumenten, Redensweisen & privaten Eigenarten seiner Familie & deren Mitglieder, vor allem aber von seinen 1945 gefallenen Vater, von dem er auch oft träumt – wie er überhaupt seine Träume sammelt, um aus diesen Stoffen sich Erzählungen zurechtzuschneidern. Gleichzeitig schreibt er mit seiner Mutter deren Biografie & arbeitet an einem Roman, der ein Kafka-Imitat zu sein scheint. D.h. der Walter Kempowski, den wir da als Lehrer & Vater in spe kennen lernen, ist auch schon auf dem Weg zum Schriftsteller der „Deutschen Chronik”, der Hitler-Befragung & sogar des „Echolots”.
Sein Weg zu sich deutet sich hier schon in breiter Front als konsequente literarische & archivarische Entwicklung an, deren literarische Wiedergewinnung der persönlichen, familiären & zuletzt kollektiven (deutschen) Erfahrungen aus kleinsten Partikeln & Spurenelementen sein Oeuvre ausmacht – auf eine deutsch-schulmeisterliche Art ein Prousts „Recherche” verwandtes, wenn auch ästhetisch ganz anders geartetes Unternehmen.
Diese Aufzeichnungen, zu den auch die Zeugnisse des Briefwechsels mit dem Beuys nahen , befreundeten Bildenden Künstlers Klaus Beck gehören (von dem einige Zeichnungen hier reproduziert werden) wirken heute wie geistige Fossilien aus einer vollkommen versunkenen Welt, die man als jüngerer Leser aus ihren notierten Zeugnissen von Filmen, die Kempowski besucht hat & kommentiert, nur erahnen kann, als älterer jedoch wie ein Sammlung von Leitfossilien für Proustsche Madelaines goutiert.
Unter den vielen Namen, die bei dem jungen Kempowski auftauchen, dürfte der Theodor W. Adornos der verwunderlichste sein – erst recht, weil „Teddie” von „Kempo” (wie ihn später seine Freunde nur nannten) nicht nur problemlos verstanden worden ist, sondern auch positiv bewertet wird. Das wird wohl kaum jemand auf Anhieb vermutet haben! Was für eine Überraschung!
Wolfram Schütte
Walter Kempowski: Wenn das man gut geht!. Aufzeichnungen 1956- 1970. Zahlreiche Abbildungen. Knaus-Verlag 2012. 624 Seiten. 29.99 Euro. Eine Leseprobe finden Sie hier.