Verstörend wie die Wirklichkeit
–Der neue Roman von Viktor Jerofejew lässt einen irritiert und ratlos zurück. Und es braucht eine gute Weile, bis einem die Erkenntnis dämmert, dass dies ja auch für die Zeit, in der wir leben, gilt. Und damit hat der Autor, aller Absurdität seines Texts zum Trotz, dann schließlich doch seine Hand am Puls der Gegenwart. Von Andreas Pittler
Also einmal ganz ehrlich: „Die Akimuden“ sind alles andere als ein leicht verdauliches Buch. Schon der Plot ist mehr als bizarr. Da wird in Moskau die Botschaft eines Staates – die „Akimuden“ eben – eröffnet, den man auf der Landkarte vergeblich sucht. Dann stehen ganz plötzlich und unerklärlich die Toten wieder auf und mischen sich mitten unter die Lebenden, verdrängen diese aus ihren angestammten Bereichen und übernehmen quasi deren Lebenswelt. Damit kommt auf einmal dem Botschafter des imaginären Landes eine besondere Rolle zu. An ihm scheiden sich die Geister. Die (noch) Lebenden sehen in ihm und seinem Staat die Ausgeburt des Teufels und wollen ihn beseitigen, naturgemäß (ist man versucht zu sagen) mittels einer ebenso überwältigend schönen wie libidinös veranlagten jungen Geheimagentin namens Katja, die auf den Kampfnamen „Fink“ hört. Andere aber, und da sind die Grenzen fließend, erblicken in „Akimud“ eine Art Erlöser, der allein Russland – und damit vielleicht die ganze Welt, wer weiß – aus dem Chaos erretten kann.
Bonze, Dissident, Kultautor
Viktor Jerofejew blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Geboren 1947 als Sohn eines der einflussreichsten Diplomaten der damaligen Sowjetunion, wuchs er gleichsam wohlbehütet im Glashaus auf, abgeschottet von dem kriegsbedingten Elend seiner „gewöhnlichen“ Landsleute. Papa Jerofejew ging bei Stalin und dessen treuesten Paladin Molotow ein und aus, und auch der Filius hatte mannigfach Gelegenheit, die Größen des realsozialistischen Lagers aus nächster Nähe zu studieren. Selbiges tat er dann auch an der Lomonossow-Universität, wo er mit einer Arbeit über Dostojewski promovierte. Danach versuchte er sich selbst als Literat, eckte aber bald mit seinen unkonventionellen Ansichten bei der Obrigkeit an, sodass er sich Anfang der 80er Jahre ins Dissidententum abgedrängt sah. Erst am Ende der UdSSR konnte er sich wieder dem Schriftstellertum widmen, wobei sein erster Roman, „Die russische Schönheit“ (Ruskaja Krasavica) im Jahr 1990 den Nerv der Zeit traf. Das Buch wurde in 27 Sprachen (darunter 1994 auch ins Deutsche) übersetzt und machte Jerofejew zu einer Art Kultautor, vergleichbar mit Viktor Pelewin („Generation P“) oder Edvard Limonow (bevor dieser „beschloss, Politiker zu werden“). 14 Jahre ließ er sich Zeit, ehe er mit „Der gute Stalin“ (Charaschi Stalin) wieder für Furore sorgte. Und nun, wiederum beinahe ein Jahrzehnt später, legt Jerofejew einen Endzeitroman vor, der sich – ungeachtet aller Übersetzungen – wohl primär an die eigenen Landsleute richtet.
„Ulysses“ auf Russisch
Denn genau an dieser Stelle muss eine Kritik angebracht werden, die vielleicht gar nicht so sehr den Autor selbst als den Hanser-Verlag betrifft, und auch dies nur unter Vorbehalt, da wohl jeder Herausgeber dieses Werkes an dem zu kritisierenden Manko scheitern müsste. Nicht nur, dass sich der Roman durch seine zahlreichen Volten dem Leser ohnehin schwer erschließt, dass man immer wieder innehalten muss, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie die Erzählpassage jetzt gemeint sein könnte, er strotzt auch dermaßen von Anspielungen auf die russische Geschichte der letzten 200 Jahre, dass selbst ein Russist irgendwann kapitulieren dürfte.
Zwischen den einzelnen Kapiteln tummeln sich Myriaden russischer Schriftsteller – chronologisch geordnet von Gawrili Derschawin und Alexander Puschkin über die Klassiker Tolstoi, Dostojewski und Gogol sowie die Ikonen der Sowjetliteratur wie Majakowski, Gorki und Platonow bis hin zu Jerofejews Zeitgenossen – gar nicht erst zu reden von den sonstigen Promis (von Bucharin über Molotow bis, kaum verklausuliert, Putin), die sich ein Stelldichein geben. Und Jerofejew dreht seine Schrauben noch zusätzlich an, indem er sich in Anspielungen ergeht, die man bestenfalls dann versteht, wenn man sich wirklich gut mit russischer Geschichte und Literatur auskennt. Die Bettszene etwa erschließt sich einem erst dann, wenn man „Oblomow“ kennt, die „Ines Armand“ wird einem erst dann ein wissendes Lächeln entlocken, wenn man um die (angebliche) Affäre zwischen ihr und Lenin weiß – da capo al fine.
All das müsste nun eingehend in einem Anmerkungsapparat erklärt werden, doch dann hätte der Hanser-Verlag (und damit sei er an dieser Stelle auch gleich wieder exkulpiert) ein Buch vorlegen müssen, dass statt 461 Seiten wohl 922 Seiten umfassen müsste. Mithin also ein Werk für „Fachleute“. Die aber werden es mit nicht geringem Genuss lesen können.
Andreas Pittler
Viktor Jerofejew: Die Akimuden. Aus dem Russischen von Beate Rausch. Hanser-Verlag, München 2013. 461 Seiten. 24,90 Euro. Foto von Anton Nossik, Wikimedie Commons 3.0, Quelle.