Zwischen heute und gestern. Jenseits von morgen.
Anlässlich eines Sammelbands über den Iran macht sich Matthias Penzels Gedanken zu einer Nation, die fasziniert und verschreckt – und das nicht erst seit 1979. Von Matthias Penzel.
Im angloamerikanischen Kulturkreis gibt es diese mantra-artige Frage: „Where were you when Kennedy died?“ Das Konversationsklischee ist so weit verbreitet, dass es häufig recyclet wird. Wenn mich also popkulturelle Gecken fragen: „Wo warst du, als der King starb?“, (was sie leider nie tun), dann habe ich darauf eine Antwort: „Ich kann mich ganz genau erinnern! Ich war im Iran, mein Vater hatte die vorige Nacht im Gefängnis verbracht, und als die Nachricht von Elvis’ Tod im Fernsehen kam, saßen wir in einem amerikanischen Hotel in Yazd, wo es eigentlich alle überraschte, dass der King noch kurz zuvor am Leben gewesen sein sollte.“ Er hatte eben einfach zu viel von allem.
Ich war damals ziemlich jung und glücklich darüber, endlich mal in einem richtigen Hotel geschlafen zu haben. Zwischen dicken coolen Amischlitten und Mopeds mit handgewebten Satteltaschen für Maultiere war der Kulturclash im Iran 1977 auch für einen 11-Jährigen ziemlich beeindruckend. Dass der Schah foltern ließ, habe ich erst später gelernt. Dass die Reichen von dem Westen profitierten, Straßen mit ihrem Familiennamen besaßen, sah auch ich. Ebenso deren Besitztümer mit Leibeigenen und Männerrunde um die Opiumpfeife. Ich sah auch die durch Gotteshäuser strömenden Touristen, Unmengen an grauenhaften Verkehrsunfällen (von der Steinzeit in die Moderne in Blitzgeschwindigkeit!), sah auch Persepolis und in Isfahan die Wiege universitärer Forschung. Verschleierte Frauen dagegen sah ich sehr wenige, meistens in Ortschaften, wo die Hütten aus Kuhkacke zusammengeleimt waren. Aber auch dort irgendwo ein sechs Meter langer Oldsmobile, glitzernd unter dem niedrigeren und irgendwie breiteren Himmel …
Multikultur mit prekärer Identität
Anders als die meisten arabischen Länder ist der Iran schiitisch und nicht sunnitisch. Islam, aber nicht arabisch. Unterjocht, aber selbstbewusst. Mit Momenten wie vor 4000 Jahren, aber auch hochmodern. Der Iran war immer ein reiches Land, ein Land des Überflusses wie Mesopotamien bzw. der Irak mit seinen unter semi-sozialistischen Bedingungen nationalisierten Ölvorkommen. Aber kein Land kann sich seine Vergangenheit aussuchen. Da größer als der Irak wurde Persien jahrtausendelang aus allen Himmelsrichtungen angegriffen.
Aufgrund, ja tatsächlich DANK der vielen Belagerer wurde Persien über tausende Jahre hinweg eine reichhaltige (Multi-)Kultur, eine Nation, deren Identität immer prekär war, immer neu verhandelt wurde. Wie ich später lernte, und heute eigentlich jedes Kind wissen sollte, erhielten die mit dem Reichtum verwobenen und verknüpften Probleme im 20. Jahrhundert eine neue Dimension. British Petroleum (BP) ist auf den Bodenschätzen Persiens errichtet. Ungeachtet der Tatsache, dass man in Isfahan Lehre und Bildung organisierte, als unsere Vorfahren noch mit Knüppeln aufeinander losgingen, wenn sie mal von den Bäumen kletterten, ist das festzuhalten. Denn als wir in die Moderne galoppierten und andere Nationen dazu als Steigbügelhalter benutzten, war es vollkommen logisch, dass dort Gegenbewegungen entstanden.
Hierzu eine Abschweifung nach Ägypten:
1928 wurde dort die Muslimbruderschaft gegründet. Die Ägypter, auch immer eine Kultur-Nation mit Führungsansprüchen, wussten, wie damit umzugehen ist: Als Radikal-Islamisten gegen Kolonialismus und Werteverfall nicht nur wetterten, sondern schließlich sogar Ägyptens Premierminister Mahmud Fahmi Nuqrashi umbrachten, machten sie mit dem Führer der Muslimbrüder kurzen Prozess. Kurz darauf, 1949, wurde der Attentäter von der Geheimpolizei erschossen.
1952 putschte sich Gamal Abdel Nasser an die Macht in Ägypten. Er balancierte zwischen West-Kritik, Versprechen von Sozialismus und einer arabischen Nation, zunächst unter Duldung der Radikalen. Deren extremster Rädelsführer Sayyid Qutb wetterte dagegen. Die Bruderschaft ging in den Untergrund bzw. nach Jordanien, Syrien, Saudi Arabien und Libanon. 1965 wurde Qutb gefasst – und dann gehängt.
Empörung im Westen: Über Jahre predigten die USA, England, amnesty international und andere gegen solcherlei Justizgebaren. (Anmerkung: Zu den anderen Ideologen für Islamischen Radikalismus nach Hassan al-Bannas »Zwischen Gestern und Heute« gehörten neben Sayyid Qutb auch Pakistans Hetz-Prediger Mawlana Mawdudi und Ayatollah Khomeini.)
Um meine Gedanken aus 1001 Nacht abzuschließen und zu dem Band zu kommen, den ich hier rezensieren möchte: Es ist persönlich motiviert, wenn bei mir schon im Vorwort zu Marjane Satrapis Persepolis die Hände zittern und wenn mir auch beim achten Gucken der Verfilmung schon nach Minuten Tränen die Sicht versperren. Ebenso wenn die Frauenbilder, diese ganze wilde Schönheit, eingekerkert und desorientiert, von der Fotografin Shirin Neshat Überlegungen wecken, wie ich ihre Werke klauen könnte, um sie zu besitzen und heimlich zu bewundern.
Aber Stop!
Kein duselndes Umschreiben der Geschichte: alles nur Steinchen in diesem vielschichtigen Mosaik. So wie die Artikel und Bilder im Spiegel-Sonderheft Persien. Supermacht der Antike, Gottesmacht der Mullhas vom letzten März. Genauso Der Himmel über Iran in der jüngsten Ausgabe von Lettre aktuell (Nr. 1/2010):
„Iran steht im Mittelpunkt der Weltaufmerksamkeit. Eine erstarkende Opposition wehrt sich mutig gegen die Machthaber. Die durch das iranische Atomprogramm ausgelöste Krise scheint sich zuzuspitzen. Von Boykott bis zu Bombardierungsandrohungen reicht das verbale Arsenal des Westens. Von Raketenangriffen auf Tanker und feindliche Länder bis hin zu einer Welterdölkrise reichen die Gegenszenarien. Trotz dieser explosiven Lage ist das Wissen im Westen über eine so vielschichtige Gesellschaft wie die iranische bescheiden geblieben.“
Es wird leicht zu viel von allem. Eigentlich hätte es niemanden überraschen sollen, als der Schah 1979 aus seinem Reich flüchtete, als der ganze Hass auf die Amerikaner ausbrach, und Exilanten aus der ganzen Welt in dieses Land im Umschwung zurückkehrten.
Als das Schah-Regime zusammenbrach, war vor allem überraschend, dass es so lange gehalten hatte. (Demokratie und Verstaatlichung hielten nicht so lange – bis Briten und Amerikaner eingriffen). Die Gründe fürs Exil kann sich niemand aussuchen, und so strömten aus der Sowjetunion die hoffnungsvollen Kommunisten, und aus Paris kam Khomeini. Das Chaos brach aus, und an die Macht kam eine Minderheit. Mit Gewalt. Dass so etwas wider alle Vernunft passieren kann, weiß man hierzulande.
Potpourri der Positionen
Aus all diesen Gründen habe ich den Sammelband Verratene Freiheit. Der Aufstand im Iran und die Antwort des Westens mit viel Neugier gelesen. Anders als angekündigt, beschäftigt sich die Sammlung in Essays und Aufsätzen eher beiläufig mit dem „westlichen Verrat“ am Iran und der jüngsten Freiheitsbewegung. Das „Plädoyer von Autorinnen und Autoren aus Europa, dem Iran und den USA für einen neuen Säkularismus und gegen den Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ist nicht annähernd so funkelnd und spannend, wie von mir erwartet.
Einige Steinchen dieses Mosaiks sind sogar matt. Da wird – gänzlich ohne Ironie – seitenweise dargestellt, warum der Neokonservativismus fehlerlos und für die ganze Welt und das Gute in ihr richtig ist. Auch für die Iran-Krise ist er – laut Michael Rubin – „die beste Lösung“. Andere Schreibtischtäter, die ihre Informationen offenbar aus sehr einseitigen Quellen beziehen, wettern gegen Fehler der Alt-Linken gestern und heute (sprich: 1968, 1979, 2009), behaupten, Exil-Oppositionelle seien „nach wie vor unfähig zu reflektieren“ und verblüffen und erschrecken zugleich in ihrer Freude am grob geschnitzten Schwarz-Weiß.
Fast, so der Kennerblick von Menschen aus dem Verlagswesen, kann man annehmen, dass sich auch die Herausgeber dieser Probleme bewusst sind: Ganze drei Leute haben dieses Potpourri der Positionen zusammengewürfelt. Zu finden sind denn auch Presseschnipsel in einer Chronik, Positionen von jungle world– ebenso wie Die Welt-Autoren, am Ende dann noch ein Blick in die Kristallkugel, mehr oder minder inspirierte Fiction-Fingerübungen zu Zukunft und Utopien oder Schreckensszenarien. Bevor ich den Band angewidert weglege: Im zweiten Teil (Texte und Interviews mit Iranern) kommen wir dem Wissen und den Erkenntnissen näher.
Das allermeiste davor und danach scheint mir lieblos hingehunzt. Nicht zuviel von allem, sondern – was vielleicht nur mich überrascht – zu viele Zeigefinger, die sich erheben statt gewisse Linien nachzufahren und auf erkenntnisbringende Details zu deuten. Von der Melange aus Desinteresse und Ignoranz zeugen schon viele der Überschriften und Teaser („Obama, die Saudi-Demokraten und Israel“, „Warum die Mullahs Deutschland lieben und die Bundesrepublik Israel im Stich lässt“…).
Achse des Harmlosen?
Gleich im Geleitwort steuert Henryk M. Broder auf Israel zu und gegen die Überbleibsel der deutschen Friedensbewegung, wobei er bei der Kritik am Teheraner Terror-Regime und Atomprogramm ausblendet, dass Israel seit über vierzig Jahren ein Nuklearwaffenarsenal pflegt, dessen Größe unbekannt ist. Auf der Achse-des-Bösen (Nordkorea, Irak und Iran) existieren ungleich weniger Nuklearwaffensprengköpfe.
Nuklearwaffensprengköpfe im Besitz der…
USA 9000 9400
Russland 9000 12000
Frankreich 340 300
China 250 240
Großbritannien 185 185
Israel 100-200 80
Indien 30-50 60-80
Pakistan 30-50 70-90
Nordkorea 1-2 0-10
(Anmerkung: LINKE SPALTE: Michael Mann: »Die ohnmächtige Supermacht« (Campus, Frankfurt/Main 2003). RECHTE SPALTE: ‘The Federation of American Scientists‘ in Time, Vol. 175, No. 15/2010)
Dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitzen könnte, war Vorwand genug für einen Krieg. Eines der Argumente für den Tod vieler ist, war und bleibt, dass Hussein nicht ganz zurechnungsfähig war. Über bestimmte Waffen, so der angenommene Konsens, sollte nur verfügen, wer normal ist. Als Ronald Reagan beim Mikro-Check witzelte, die UdSSR werde angegriffen, führte das zu keinem Krieg. Doch die Argumentation, dass die einen Atomwaffen haben dürften, andere – da wohl verrücktere – Nationen nicht, ist zumindest – schwierig.
Oftmals eine gewisse Hysterie
An der Dämonisierung der „Ayatollahs“ arbeiten einige seit längerem. Wer darauf hinweist, ist nicht – wie Essays des hier zu besprechenden Buchs sagen – blind gegenüber den Gefahren. Auch nicht „unfähig zu reflektieren“ oder den Islamismus verharmlosend. Vielmehr wurde in einem Iranbericht der amerikanischen Geheimdienste schon Ende 2007 aufgedeckt, dass der Iran bis 2003 ein militärisches Atomprogramm betrieben und aufgrund der Kosten-Nutzen-Einschätzung aufgegeben hatte. Außerdem wurde zu dem Zeitpunkt aufgedeckt, dass bei Berichten über Zentrifugen für hochangereichertes Uran oftmals eine gewisse Hysterie die heißen Federn spitzte. Seltsam. Tatsächlich ist die Situation inzwischen eine andere. Kann man also vergessen. Muss man aber nicht.
Auch lange her, auch vielleicht ein bisschen irrelevant: Der von der Security-Firma Blackwater (inzwischen: Xe Services LLC) verursachte Schmutz im Irak und Somalia war gerade unter den Teppich gekehrt, die UN-Menschenrechtskommission brütete noch über ihrem Sonderbericht zum Guantánamo-Lager, da bewiesen fünf Monate alte – und bis dahin kaum beachtete – Karikaturen aus Dänemark, dass mit dem Iran nicht zu spaßen ist. Aber genug der Abschweifungen.
Viele Informationen, viel Geschichte, viele Fragen
Ich kenne die Antworten nicht, hätte aber gerne mehr Aufklärung und weniger Rhetorik. So wird in der Sammlung wacker für oder gegen die Grüne Bewegung gewettert, mangelnde Solidarität bei den Demonstrationen letztes Jahr, den Wahlbetrug, ja selbst gegen Che Guevara-T-Shirts! Dass an der Kriegsmaschine unverändert viele außerordentlich verdienen, auch die Deutschen, hat – wie dieser Band belegt – auch mit der Iran-Politik zu tun. Aber aus meiner Sicht sollte man über die Rüstungsindustrie anders nachdenken als in einem Iran-Reader wie Verratene Freiheit, selbst wenn dieser Band einige bereichernde Informationen zu Vorläufern der Grünen Bewegung, dem Schachern und Lavieren des Regimes und dem Wahlbetrug enthält.
Doch viele Steinchen in dem Mosaik der Beiträge sind für Diskussionen zu simplifizierend. Ja, lache da wer will! Ich meine, es ist nach wie vor gewinnbringender, den Geschichten manchen Taxifahrers zu lauschen. Wie sagte Schopenhauer? Besonders jene Gelehrten seien interessant, die nicht nur in Bücher blickten, sondern in die Welt.
Matthias Penzel
Thomas von der Osten-Sacken, Oliver M. Piecha und Alex Feuerherdt: Verratene Freiheit – Der Aufstand im Iran und die Antwort des Westens. Berlin: Verbrecher Verlag 2010. 280 Seiten. 14 Euro.