Blutrotes Havanna
Die Vermutung, Inspektor Larry Holt könnte wieder auferstanden und von London nach Havanna umgezogen sein, ist falsch. Der Titel Die toten Augen von Havanna stammt nicht aus dem Nachlass von Edgar Wallace. Vielmehr verbergen sich dahinter zwei Krimis kubanischer Autoren, die dies Genre nutzen, um die dunklen Seiten des Alltags hinter den charmant-morbiden Fassaden Havannas ans Licht zu bringen. Eine spannende Lektüre nicht nur für Kuba-Reisende, findet Eva Karnofsky
Im Visier (Mirando espero, San José/Puerto Rico 1998) beginnt kryptisch. Ein namenloser Mann legt in Ich-Form dar, dass er einen Mord begehen wird. Man erfährt auch, dass der künftige Killer Freude an seinem Treiben hat. Und dass er für sich in Anspruch nimmt, seinem Opfer einen Gefallen zu tun, weil er ihm mit dem geplanten Schuss die Freiheit schenken wird.
Dann wechselt Autor Justo E. Vasco – er verstarb 2006 in Spanien – die Perspektive. Ein Erzähler führt nun den Leser ins Apartment von Polizei-Leutnant Cartaya. Noch hat der Kripo-Beamte Urlaub, beklagt sich über das langweilige, kubanische Fernsehprogramm und sehnt sich nach seiner Freundin, die mit einem betuchten, deutschen Freier unterwegs ist. Mit Manuel Vázquez Montalbans Detektiv Pepe Carvalho verbindet Cartaya auch die Vorliebe für stilvolles Essen sowie der Frust über die Verhältnisse.
Wir ahnen es schon: Der angekündigte Schuss bereitet Cartayas Müßiggang schnell ein Ende. Opfer ist ein Mann, der im Rollstuhl saß, weil er im Angola-Krieg zum Krüppel geschossen wurde. In seiner Nachbarschaft galt er als Held und vorbildlicher Revolutionär, doch es stellt sich heraus, dass er mit Marihuana dealte. Kaum hat Cartaya im Drogenmilieu Witterung aufgenommen, werden binnen kürzester Zeit drei weitere Morde gemeldet. Ein Transvestit, ein kleiner Dieb und ein Fotograf mussten dran glauben. Sie starben alle an einer Kugel aus der gleichen Waffe wie die, die dem Rollstuhlfahrer das Leben aushauchte. Und die Toten fanden alle im Stadtteil El Vedado ihr Ende.
Der Namenlose hält den Leser über seine Aktionen auf dem Laufenden (wenn auch manchmal ein wenig zu langatmig und mit zu viel Trivial-Philosophie), so dass man immer einen Schritt weiter ist als Cartaya. Es stellt sich allerdings heraus, dass der Killer nicht nur den Polizisten, sondern auch den Leser an der Nase herumführt, dass nichts so ist, wie es scheint. So endet Im Visier höchst überraschend. Nur soviel sei verraten: Es geht um Rache, Geld und die Chance, der Insel den Rücken zu kehren.
Eine Stärke des von Klaus E. Lehmann ordentlich übersetzten Romans von Justo E. Vasco ist die Schilderung der Kunst des erfolgreichen Schlangestehens oder des Verfalls der Esskultur und der Moral angesichts chronischer Knappheit von allem und jedem – eben des Alltags in Havanna. Ein besonderer Reiz des Krimis liegt auch in der Darstellung der Einschränkungen, die die Polizeiarbeit erfährt, sobald politische und militärische Nomenklatura tangiert sind. Da lautet der Befehl von oben dann nicht mehr, die Wahrheit zu finden, sondern diese erfolgreich zu verschleiern.
Eher Hardcore
Der zweite Roman des Bandes stammt aus der Feder des in Havanna lebenden Juristen Roberto Estrada Bourgeois, der bereits mit seinem Krimi Ein Modigliani aus Kuba (Distel Verlag, 1999) auf Deutsch debütierte. Die Nachbarin (La Pelirroya , Barcelona 2004) bedarf starker Nerven, denn das Buch grenzt streckenweise an Hardcore, was jedoch erheblich zur Authentizität des „Falles“ beiträgt, den der Autor entwickelt.
Andux, der Protagonist, verliert seine Potenz, nachdem er in Angola von einer Horde von UNITA-Kämpfern auf das Grausamste vergewaltigt wurde. Seine Familie zerbricht und damit auch seine bürgerliche Existenz, wenn es denn so etwas im sozialistischen Kuba gibt. Hilfe vom Staat bekommt er nicht. Er schlägt sich mit dem Schnitzen von kitschigen, afrikanischen Holzfiguren für Touristen durch und ersäuft seine Einsamkeit in Rum. Doch dann lernt er die Edelnutte Nilda kennen, seine Nachbarin. Zwischen den beiden Außenseitern der Gesellschaft entwickelt sich eine zärtliche Beziehung, die mit Nildas Ermordung ihr jähes Ende findet. Gemeinsam mit Góngora, sein einziger Freund und ehemaliger Angola-Kämpfer wie er selbst, macht sich Andux auf die Suche nach Nildas Mörder.
Estrada Bourgeois arbeitet mit zwei Erzählsträngen. Wie Andux berichtet auch der ehrenwerte, spanische Notar Higuera in der Ich-Form. Und auch er hat aufgrund seiner katholisch-keuschen Erziehung sexuelle Probleme: Er findet lediglich Befriedigung, wenn er nicht nur ejakuliert, sondern dabei auch noch die jeweilige Partnerin ins Jenseits befördert. So mordet er munter bis ihm das Pflaster in Bilbao zu heiß wird und er vorsichtshalber einen Job auf Kuba annimmt. Kaum nötig zu erwähnen, dass sich die Wege der beiden Männer dort kreuzen. Aber der Roman nimmt nicht das Ende, das man nun vermuten könnte.
Estrada versteht es, Emotionen zu wecken – nicht mit Romantik oder sanften Worten, sondern mit einer kühlen Sprache und schonungslosen Bildern. Vor allem die Szenen aus dem Angola-Krieg gehen in ihrer Brutalität und Realitätsnähe unter die Haut. Der Leser schlägt sich sofort auf die Seite von Andux und atmet förmlich auf, als der arme Kerl, dessen Gedanken sich nach seiner Rückkehr nach Kuba nur noch um seinen unwilligen Penis drehen, endlich Nilda findet.
Der Roman führt nicht nur in die verschiedensten Ecken von Havanna, sondern auch in das Milieu der Jineteras, der Frauen, die sich für die Prostitution entscheiden, weil das älteste Gewerbe der Welt im heutigen Kuba zu den wenigen gut bezahlten Jobs zählt. Er geht auf die prekäre Wohnungssituation ein oder schildert, wie schwer es heute kubanischen Eltern – in diesem Fall Góngora und seiner Frau – fällt, ihren Kindern noch irgendwelche Werte zu vermitteln. Doch Estrada Bourgeois erliegt nie der Versuchung, seinen Krimi in eine Sozialstudie umzufunktionieren. Bleibt noch zu erwähnen, dass Monika Heine den kubanischen Slang sicher ins Deutsche übertragen hat und die recht ausführlichen Glossars am Ende beider Romane zum Verständnis beitragen.
Eva Karnofsky
Justo E. Vasco/Roberto Estrada Bourgeois: Die toten Augen von Havanna. Zwei Romane.
Aus dem Spanischen von Klaus E. Lehmann und Monika Heine.
Köln: Edition Köln 2009. 462 Seiten. 13,90 Euro.