Geschrieben am 7. Mai 2009 von für Bücher, Litmag

Val Tyler: Die Greenwich-Chroniken. Zeitenwirbel (ab 9)

Wehe, die Zeit stünde still!

„Das heißt, mein Junge, dass die Menschenzeit sich von der Hüterzeit abgespalten hat. Während unsere Zeit weiterläuft wie gehabt, durchleben die Menschen nun immer und immer wieder denselben Tag, bis es uns gelingt, ihre Zeit wieder an unsere zu koppeln …“ von Stefan Linster.

Nach Die Zeitdiebe ist nun auch der zweite Roman der Greenwich-Chroniken aus Val Tylers witzig-phantastischer Welt erschienen, in der neben den Menschen zwei uralte Völker, die rauen Wrackas und die friedlichen Zeithüter, leben. Und wenn die beiden letzteren gewissermaßen Wurzel und Krone desselben Baumes sind, ganz wörtlich die „Drunterwelt“ und „Drüberwelt“ bevölkern und sich in gegenseitigem herzlichem Misstrauen möglichst aus dem Wege gehen, spielen die Menschen hier für einmal keine große Rolle, es sei denn als Zeitstörer. Ja, sie sehen die anderen erst gar nicht und bekommen sowohl von den an Gemüt und Intellekt recht schlichten Wrackas, die unter der Erde hausen und ständig Krieg führen, als auch vom Hütervolk kaum etwas mit, obwohl gerade diese doch dafür sorgen, dass die Zeit und somit ihr Dasein nie aus den Fugen gerät…

Der Wobbel

Genau das aber passiert nun eines schönen Tages in Greenwich, wo der Oberste aller Hüter, Zeitvater Tim, an der Zeitlinie (dem Nullmeridian der Menschen) über die Synchronizität von Menschen- und Hüter-Wracka-Zeit wacht. Ein heftiger „Wobbel“ tritt auf, ein Zeitbeben! Irgendetwas hat den synchronen Zeitfluss aus dem Takt gebracht, weshalb die Menschen nun denselben Tag wiederholen müssen, wobei tunlichst darauf zu achten ist, dass alles genauso verläuft wie tags zuvor. Dies misslingt jedoch, unter anderem, weil ein Hüterkind verbotenerweise mit einem Menschenkind in Kontakt gekommen ist, worauf ein zweiter Wobbel folgt, der so ungeheuer heftig ausfällt, dass die Zeit nicht nur gestört, sondern offenbar dem Stillstand nahe zu sein scheint.

Neben dieser Verbotsübertretung wirken zu allem Übel auch noch die Wrackas nach Kräften an der drohenden Katastrophe mit. Da die Männer getrennt von den Frauen in schmutzigen, verwahrlosten Erdstollen leben, beschließen sie, die vor Urzeiten angelegten Steinhöhlen der weiblichen Wrackas einzunehmen – weil diese ja so viel sauberer und schöner sind, man ahnt den Trugschluss … In ihrer unnachahmlichen Beschränktheit und aggressiven Sturheit graben sie sich also durchs Erdreich und dringen dann auch in das Labyrinth der Frauen vor, lösen „exkavatorische Kräfte“ aus, die das Räderwerk der Zeit mithin so nachhaltig stören.

Rette die Zeit wer kann!

Um die Katastrophe abzuwenden, ruft Zeitvater Tim alle anderen über die Erde verteilten Hüter zusammen. Nach dem Studium alter Schriften (den Chroniken des Hütervolks) kommen sie zu dem Schluss, dass Tim den „Gemetbur“, die geheime Mess- und Regelkammer der Zeit, die Tempus – der Urvater allen temporären Geschehens – dereinst unter der Erde angelegt hat, unverzüglich aufsuchen muss, um die offenbar defekte Weltenuhr wieder zu reparieren. Und hier, mit dem Aufbruch von Zeitvater Tim und seiner Getreuen in die Drunterwelt, beginnt die tatsächliche, die spannende Geschichte der Zeitenwirbel. Denn auch Tims Enkel, Sofie und Tid, sowie der Zeithüterschüler Shelton – alle drei bereits in den Zeitdieben maßgeblich aktiv – beteiligen sich an ihrer aller Rettung. Sofie nämlich hat aus dem geheimnisvollen Buch „Tempus und der Gemetbur“, dessen Inhalt sich je nach Leser und Konstellation des Lesens verändert, erfahren, dass besagter Gemetbur nur mit einem ganz besonderen Schlüssel zu öffnen ist und dass der Tod unweigerlich all jene ereilt, die ohne ihn, ohne diese „tiefe Einsicht“ hineinzugelangen versuchen. So steht also nicht nur Zeitvater Tims Leben auf dem Spiel, sondern mit ihm, da nur er die Zeit zu richten vermag, das Leben aller, als die drei Jugendlichen sich ebenfalls in die Drunterwelt aufmachen. Nur soviel sei über alles Weitere verraten: Natürlich spüren sie den richtigen Schlüssel auf, trotzen allerlei Gefahren und Widrigkeiten in der Unterwelt (unter anderem den marodierenden Wrackas) und retten schließlich die Retter der Zeit vor dem Verderben, so dass die Weltenuhr wieder in Gang kommt und letzten Endes auch der Krieg der Geschlechter geschlichtet werden kann.

Herrlich Altbewährtes

Wenn Tylers erste Greenwich-Chronik bereits zum Lieblingsbuch vieler junger Leser wurde, so dürfte dies auch Zeitenwirbel beschert sein. Eine überaus spannende Story bietet sich ihnen hier, mit allerlei Wechselfällen und Wendungen, ein Abenteuer für die drei Helden, die dieses durch Schläue, Mut und letztlich auch durch treue Freundschaft und Geradheit (allesamt ach so altbackene, für Kinder aber sicher wichtige Tugenden) bestehen. Tatsächlich haben sie ja nicht nur etliche Rätsel wie etwa Anagramme und gefährliche Prüfungen zu bewältigen, sondern auch eigene Vorurteile (im ersten Band war einer der drei, nämlich Shelton, noch der Schurke, der sich hier nun bewähren muss) und das Misstrauen der Er-wachsenen zu überwinden, die von ihren Erkenntnissen und Fähigkeiten ja nicht unbedingt gleich überzeugt sind. Bis dahin also verlässliche Ingredienzien eines Kinder- und Jugendbuchs …

Doch bereits auf dieser Ebene erwächst aus Tylers Erfindungsreichtum das Besondere, wenn sie etwa in der Unterwelt die Schatten loslässt, doch, doch! die Schatten längst Verstorbener – böse wie gute, die die Retter der Zeit zum Ziel oder ins Verderben führen können. Oder ihnen einen „Trüben See“ zum Hindernis macht, ein vermeintlich knietiefes, in Wahrheit aber grundloses und todbringendes Gewässer, das jedem, der sich hineinwagt, Lebenswillen und Kräfte raubt.

Lugten da nicht auch noch Einstein und Wittgenstein um die Ecke!

Regelrecht begeisternd wird es jedoch, wenn Tyler in verständlichen Worten anschaulich macht, wie relativ das Phänomen Zeit doch tatsächlich ist, und welche Gefahren drohen, sollte die Zeit zum Stillstand kommen! Und wenn sie diese Relativität auch noch zum Konstruktionsmuster des Romans erhebt, indem sie auf wunderbare Weise vier synchrone und recht komplexe Handlungsstränge miteinander verwebt, nämlich den Geschlechterkrieg der Wrackas, die Bemühungen der drei Helden sowie die der erwachsenen Hüter und letztlich die Anstrengungen aller übrigen Beteiligten zur Schlichtung des Wrackakriegs und zur Unterstützung der Zeitenretter. Virtuos springt die Erzählung von einem Schauplatz zum anderen, lässt diesen Faden fallen, um jenen aufzugreifen, Spannungsbogen um Spannungsbogen entsteht, bis man endlich schier atemlos zum großen Finale, zur Auflösung gelangt.

Und zu guter Letzt muss unbedingt noch ein Wörtchen zur Sprache verloren werden – ein Verdienst der Autorin wie auch der Übersetzerin. Neben dem herrlich verständlichen, doch nirgendwo zwanghaft kindgerechten Stil der Erzählung an sich, der Tylers Fabulierkunst aufs beste stützt, gibt es in den Chroniken ja noch die Sprache der Wrackas, ein wirklich eigenwilliges Idiom, das bei aller Einfalt der Sprecher jedoch eine feste Grammatik und Syntax besitzt – getreu der These, dass es keine falsche Sprache gibt, nur Fehler im Gebrauch! Was im Übrigen auch für die Tylersche Neologismen (etwa „Wobbel“), Anagramme und altenglischen Einsprengsel gilt, wurde diese Kunstsprache so gekonnt wie stringent und daher auch ungemein witzig übertragen, durch konstant eingehaltene Abweichungen vom Standartdeutsch, ganz eigene Wortstellung … und ohne Überbeanspruchung eines bestimmten Dialekts, wohlgemerkt! Sicherlich ein großer Spaß und zugleich Ansporn zu spielerischer Korrektur – oder doch zur fröhlichen Nachahmung? – für junge Leser. Ein wahres Vergnügen!

Stefan Linster

Val Tyler: Die Greenwich-Chroniken. Zeitenwirbel (ab 9).
Aus dem Englischen von Britta Waldhof.
Coppenrath 2009. Gebunden. 448 Seiten. 16,95 Euro.