Geschrieben am 13. März 2004 von für Bücher, Litmag

Ulrike Draesner: Mitgift

Seitenwechsel

Ulrike Draesner schafft es, schon auf den ersten Seiten, mit der bloßen Schilderung eines belanglosen Kindergeburtstages die Leser für sich zu gewinnen und Spannung aufzubauen. Und mit welcher fragilen Wucht (sic!) sie Magersucht in Prosa fasst, kann einem schier die Sprache verschlagen.

„Bedingungslose Hingabe an ihren Freund ist Aloes Wunsch, aber Lukas, Astronom von Beruf, denkt in intergalaktischen Entfernungen, weniger in alltäglicher Nähe. Auch Aloe, so aufgeklärt sie ist, leidet unter den Heimlichkeiten ihrer Kindheit: Was verbirgt sich hinter der Schönheit ihrer Schwester?“
Mal ehrlich: Hätten Sie das Buch, auf dessen Rücken dieses unbeholfene Stück Klappenprosa zu lesen ist, überhaupt aufgeschlagen? Sie sollten es aber tun, denn zwischen den Buchdeckeln versteckt sich ein schier überwältigender deutschsprachiger Roman. Ulrike Draesner, preisgekrönte Lyrikerin und Übersetzerin, erhielt 1997 den foglio-Preis für einen Prosatext, der ein Jahr später in dem beeindruckenden Roman „Lichtpause“ zu finden war. Keine leichte Kost bot dieser Roman um ein elfjähriges Mädchen, das an der Welt der Erwachsenen zerbricht. Mit gekonnt asymmetrisch gesetzten Sprachbildern schuf Ulrike Draesner einen Lesewiderstand; sie lockte jedoch gleichsam mit ungemeiner sprachlicher Virtuosität. Nicht zuletzt dieser Leseerfahrung ist zu verdanken, dass mich der Klappentext nicht von der Lektüre ihres neuen Romans abhalten konnte.

„Mitgift“ ist ein ausgeklügeltes Geflecht unterschiedlichster Zeitebenen, doch grob lässt sich der Roman in zwei Handlungsstränge untergliedern, die vielfach miteinander verknüpft sind. Da ist zum einen die besagte Beziehung Aloes zum Astronomen Lukas, zum anderen die schwierige Beziehung zu Eltern und Schwester. Aloes Schwester Anita war immer die schönere, die verhätschelte, der kleine Liebling. Doch was waren das für Krankenhausaufenthalte, was waren das für Tabletten, die Anita nehmen musste, was verbarg sich unter dem Verband unter ihrem Nabel und weshalb musste sie mit fünf neu pinkeln lernen?
Die „Familienschande“, der Hermaphrodit der Familie, wird mit einem Tabu belegt, erst nach und nach erfährt Aloe das Geheimnis ihrer Schwester, beginnt sie zu durchschauen, warum die Eltern Anita allein für ihr bloßes „Tochtersein“ bevorzugen.
Dadurch, dass Ulrike Draesner nicht die Sicht Anitas, sondern die Perspektive der mittelbar betroffenen Schwester wählt, gelingen ihr mit Leichtigkeit zwei Dinge: Anita bleibt auch für den Leser ein undurchschaubares und rätselhaftes Wesen und gleichzeitig gewinnt Anitas Schicksal im Spiegel von Aloes Augen eine weitere Dimension: Wenn Aloe sich weit nach der Pubertät in die Magersucht flüchtet, ist dies eine zwar späte, aber dennoch eindringliche Reaktion auf das Dasein im Schatten der „Monster“-Schwester.

Ulrike Draesner findet für die aufgewühlte Psyche ihrer Protagonisten stets die richtigen Worte. Gegenüber „Lichtpause“ hält sie zwar ihre sprachliche Experimentierfreude ein wenig im Zaum, doch auch „Mitgift“ besticht durch eindringliche Bilder und gestochen scharfe Prosa. Ulrike Draesner schafft es, schon auf den ersten Seiten, mit der bloßen Schilderung eines belanglosen Kindergeburtstages die Leser für sich zu gewinnen und Spannung aufzubauen. Und mit welcher fragilen Wucht (sic!) sie Magersucht in Prosa fasst, kann einem schier die Sprache verschlagen.
„Mitgift“ ist schlicht und einfach der beste deutschsprachige Roman, der mir in diesem Frühjahr bislang in die Finger geriet.

Frank Schorneck

Ulrike Draesner: Mitgift. Luchterhand 2002. Gebunden. 378 Seiten. EURO: 22,50. ISBN: 3630871178