Pack den Derrida in den Tank!
„Rendezvous mit dem Weltgeist“ heißt das schöne Erinnerungsbuch, das der Schriftsteller, Europapolitiker und Erotomane Nicolaus Sombart über seine Heidelberger Studienjahre schrieb. Nun mag Sombart, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit studierte, vielleicht tatsächlich ein gewisses Recht gehabt haben, sich mit dem Weltgeist auf Du und Du zu wähnen. Verbreiteter ist wohl das Missverständnis, die Zeit des eigenen Erwachsenwerdens und die darin gemachten Entdeckungen mit den Weihen gesamthistorischer Bedeutsamkeit zu verstehen. Sympathisch wirkt dagegen der Ansatz Ulrich Raulffs: Raulff, der heute das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar leitet, immatrikulierte sich Anfang der 70er Jahre in Marburg. Zu jener Zeit bedrückte ihn das Gefühl, die Aufregungen von 1968 knapp verpasst zu haben. Allenfalls zum „Flakhelfer von 68“ hätten er und seine Zeitgenossen es noch gebracht. Um den Vergleich zu Ende zu führen, könnte man aber auch mit Helmut Kohl von einer „Gnade der späten Geburt“ sprechen, die vor allerlei Torheiten schützte. Zu den gerade im roten Marburg noch lange nachwirkenden „Irrungen“ der Zeit zeigt Raulff in der Rückschau denn auch ein abgebrühtes Verhältnis, das als Ergebnis weniger eines Lernprozesses denn einer frühen Immunisierung erscheint.
Raulffs Erinnerungen beschreiben, wie bei einem der prominentesten offiziellen Hüter der literarischen Kultur in Deutschland nur passend, einen durch das Lesen bestimmten Bildungsweg – „Bildung“ hier im umfassenden, den Charakter einschließenden Sinn verstanden. Hier erliegt Raulff tatsächlich der Versuchung, die eigene Lebenszeit mit der globalen Entwicklung zur Deckung zu bringen: Eine letzte Blüte der Print-Kultur vor der Digitalisierung scheint er zu beschreiben. Doch zentraler als die bloße Medialität sind für Raulff die Inhalte. Die Durchsetzung und Dominanz der französischen Theorie, v.a. des Poststrukturalismus, als leitendes Paradigma in den Geisteswissenschaften könnte tatsächlich das vorerst letzte ideengeschichtliche Ereignis seiner Art gewesen sein. Verbunden damit ist auch die Bedeutung der Romanistik als Disziplin und der französischen Sprache, die seitdem ebenfalls geschwunden ist. „Als das Lesen noch geholfen hat“ überschrieb die Welt ihre Rezension dieses Buches; statt „Lesen“ hätte man noch treffender „Franz-Lernen“ sagen können. Bevor das Werk von Foucault, Derrida, Lyotard und anderen in nennenswertem Umfang übersetzt wurde, waren Französischkenntnisse unerlässlich, wenn man theoretisch auf der Höhe bleiben wollte. Als Übersetzer hat Raulff damals viel zur Verbreitung dieser oft noch als „irrationalistisch“ verfemten Denker in Deutschland getan. Theoretisch eingeleitet wurde damals aber auch der Bedeutungsschwund des gedruckten Wortes: „Die Siebziger begannen als ein Jahrzehnt des Textes, sie endeten als eines des Bildes.“
Doch solche ins allgemeingültige gehenden Aperçus stehen eher am Rande in diesem Buch, das man auch als eine Reihe von Kamingesprächen lesen kann, als eine Serie von Monologen vor einem jüngeren, leicht verschmitzt lächelnden aber doch respektvollen Publikum. Nicht fehlen dürfen das genretypische Bestiarium der schrulligen Professoren oder Schilderungen zugiger, notdürftig möblierter Mansardenwohnungen. Auch Amouröses kommt zur Sprache, das sich allerdings mit dem Geistigen verbindet: „Sie hatte Benjamin hinter sich gelassen und war auf dem Umweg über Adornos ‚Ästhetische Theorie‘ zu Schelling zurückgegangen.“ Da mitzukommen, hat der junge Mann Mühe. Kaum etwas erfährt man leider über die Beziehungen des Erzählers zu Zeitgenossen und Weggefährten.
Die Erinnerungen enden Anfang der 80er Jahre, schildern also nur die Vorgeschichte einer überaus erfolgreichen Laufbahn in Journalismus und Kulturbetrieb. Wenig überzeugend wirkt deshalb die gelegentliche Selbststilisierung Raulffs als Außenseiter, gar als „homo novus in der Bildungsrepublik“ – nicht, weil Raulff selbst aus bildungsbürgerlichem Haus stammt, sondern weil die Widerstände, wenn auch nur im Rückblick und für den Außenstehenden, so gering erscheinen. Als Zeitbild aber sowie als Ergänzung und Korrektiv zu den zahlreichen Erinnerungen aus der unmittelbaren Vorgängergeneration wird man mit Gewinn zu diesem unterhaltsamen Buch greifen.
Joe Paul Kroll
Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern: Die wilden Jahre des Lesens. Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 170 Seiten, 17,95 Euro.