Geschrieben am 4. September 2013 von für Bücher, Litmag

Ulf Poschardt: 911

Ulf Poschardt_911Ist das Kunst oder kann man damit auch fahren?

Anmerkungen von Peter Münder zu Ulf Poschardts Porsche 911-Studie anlässlich des 50jährigen 911-Jubiläums. Zuerst ein Prolog für rasende Praktiker, dann die Exegese für sensible Ästheten:

PROLOG: Als der Hamburger Proktologe Erik Brandenburg sich mit seinem Porsche 911-Safari, Baujahr 1975, vor zwei Jahren auf die 6000 km lange, durch Mauretanien nach Dakar führende Afrika–Eco-Rallye vorbereitete, bretterte er erstmal durch meterhohes Schilfgras und abgelegene Steinbrüche in Hamburgs Außenbezirken. Er donnerte über schmale Waldwege und steile Autobahnböschungen und fand auch nichts dabei, mit seinen weichen, aber unempfindlichen Wüsten-Spezialreifen in hohem Tempo über innerstädtische Kantsteine zu nageln, ohne sich dabei zu überschlagen: „Du musst immer daran denken, dass der Porsche eigentlich nix weiter ist als ein VW-Käfer mit luftgekühltem Heckmotor – er ist genauso robust, hat nur zwei Zylinder mehr und ein paar extra PS, das ist aber auch alles“, erklärte er mir, als ich als sein Beifahrer diese sagenhaften Spritztouren voll auskosten konnte, während er den Brandgeruch des am Heckmotor kokelnden Schilfgrases genießerisch inhalierte und sich mit linker Hand am Lenkrad kurbelnd bei maximalem Schlingerkurs aus dem Kaffeebecher einen großen Schluck genehmigte.

Der für besonders schwieriges Terrain bei der Kenia-Rallye konstruierte 6-Zylinder 911- Safari (3,2 Liter Hubraum, 265 PS, 230 km/h schnell) hat eine enorme Bodenfreiheit von 30 Zentimetern und einen extrem wulstigen, aus massiven Rohren gebauten Sicherheitskäfig- es ist ein Sportwagen-Panzer, dem man alles zumuten kann. Und an dem der sympathische Porsche-Fan Brandenburg auch lange selbst bastelte, um aus dem ohnehin nur 1100 Kilogramm leichten Vehikel mit chirurgischen Eingriffen und Umbauten noch einige Kilo heraus zu sezieren: Dämmung raus, Heizung raus, Rücksitze raus, leichtere, nur drei Kilo wiegende Kohlefaser-Türen rein. Aber Platz für einen Wüsten-Anker war auch noch da: „Den schmeiß ich in den Sand, wenn ich steckenbleibe und wühle mich dann mit einer Winde wieder frei“, erklärte Erik strahlend. Zum Schluss wog diese so herrlich röhrende eierlegende Wollmichsau nur halb so viel wie ein normaler SUV.

Porsche Brandenburg

Ein Blick in den Wüsten-Safari 911 von Erik Brandenburg/ Hamburg (Photo PM)

Das Porsche-Faszinosum zeigte sich hier in all seiner Pracht: Ob geländegängiger Safari aus den 1970er Jahren, der Turbo 911 der 1990er Jahre oder der neueste 911 GT2RS mit 620 PS und Vmax 330 km/h: Ein 911 ist zwar schnell und alltagstauglich, aber eben doch kein Allerwelts-Mobil. Er bietet jedem enorme Projektionsflächen; er ist kein filigranes Status-Symbol, dessen Zündung etwa vom leichten Nieseln bereits in die Knie gezwungen wird, wie dies früher beim hypersensiblen Lamborghini 12-Zylinder der Fall war, dessen sechs Doppelvergaser bei jedem Regenschauer neu eingestellt werden mussten.

Und ein 911er verleitet trotz seiner berückenden Form auch nicht zu Spekulationen darüber, ob das Auto etwa „das genaue Äquivalent der großen gotischen Kathedralen“ sei, wie es der französische Kulturphilosoph Roland Barthes 1955 tat (in „Mythen des Alltags“), als der neue Citroen DS in Paris vorgestellt wurde und er vom kompromisslosen, revolutionären Design dieser Limousine so überwältigt war, dass er das Auto zum „magischen Objekt“ mit einer neuen Phänomenologie hypostasierte.

Auch ein 911 hat zweifellos ein aufregendes Styling, aber man erkennt darin doch auf den ersten Blick das Prinzip „Form follows function“. Und dieses Prinzip hat sich inzwischen über fünfzig Jahre bewährt: 1963 wurde der 911 auf der IAA in Frankfurt als Nachfolger des 356 vorgestellt und mit diversen Modifikationen wird er bis heute produziert – kein anderes Automodell, nicht mal der VW-Käfer oder Henry Fords T-Model wurde so lange gebaut wie dieser Porsche. Kein anderer Typ wurde aber auch so behutsam und konsequent modifiziert auf den neuesten technischen Stand gebracht: Jetzt gibt es den 911 sogar als extrem sparsamen Hybrid, außerdem noch einen Turbo S mit Hinterradlenkung. Grund genug, dieser Auto-Ikone zum 50. Geburtstag jeden Monat, wie die FAZ es in diesem Jubiläumsjahr macht, eine eigene Kurzgeschichte zu widmen oder ein 294 Seiten starkes literarisches Denkmal zu setzen, wie es Ulf Poschardt, 46, „Welt“-Redakteur, ehemaliger SZ-Magazin Chefredakteur und Auto-Kolumnist der Schweizer „Weltwoche“, in einem liebevoll gestalteten Band tut, der dem anspruchsvollen puristischen Porsche-Geist sehr entgegen kommt.

EXEGESE: Damit also zur 911-Studie von Ulf Poschardt. Er ist promovierter Philosoph und hat sich in seinem Band vor allem auf ästhetisch-kulturkritische und soziologische Aspekte kapriziert. Man merkt ihm zwar gelegentlich den Stolz an, besonders schöne Apercus und Sentenzen gedrechselt zu haben, auf die selbst der elegante Wiener Meister-Stilist Alfred Polgar mit glückseliger Schöpfer-Wonne geblickt hätte. Aber Poschardt hat gründlich in den Porsche-Archiven recherchiert und kann mit vielen kaum bekannten Fakten all die plumpen Vorurteile und Klischees widerlegen, die Öko-Stalinisten, Umwelt-Aktivisten, Klassenkämpfer, Autohasser u.a. gegen einen Porsche als rollendes Feindbild immer noch so engagiert pflegen.

Wer weiß schon, dass Porsche ein Elektro-Mobil mit vier in den Radnaben eingebauten Motoren 1900 auf der Pariser Weltausstellung vorführte? Das dann jedoch ein ziemlicher Flop wurde, weil Probleme wie die geringe Reichweite und das enorme Gewicht der Akkus – wie heute auch noch – als kaum lösbar erschienen. Und welcher Umwelt-Aktivist kann sich schon mit der Nachricht abfinden, dass ausgerechnet Porsche lange Zeit ein Modell mit dem niedrigsten CO2-Ausstoß aller deutschen Autos produzierte? Und Nachhaltigkeits-Apostel dürften sich auch wundern, dass von allen seit 1963 gebauten 911-Modellen noch ca. 80 Prozent zugelassen sind. Solch ein Gefährt wird eben nicht, wie irgendeine Allerwelts-Plastikschüssel auf Rädern, nach spätestens zwölf Jahren abgestoßen und ersetzt.

Aber ist ein 911er nicht ein Bonzen-Bolide, ein „Auto der Ferkel“, wie es Bodo Kirchhoff im Roman „Erinnerung an meinen Porsche“ mit dem Abziehbild des Widerlings Daniel Deserno als Hauptfigur holzschnittartig vorführen möchte? Ist der 911er nicht besonders beliebt bei Profilneurotikern, die ihre charakterlichen Defizite mit einem rassigen Renner kompensieren müssen?

Poschardt outet sich selbst als Porsche-Fan der frühen Jahre, er war schon als Kind vom Porsche betört, hatte sich offenbar schon selbst als viel zu 911-affin und als beinah abhängig eingeschätzt und daher bei einem Psycho- Analytiker Rat auf einer „tiefer gelegten“ Couch gesucht. Der Professor, offenbar ein verständnisvoller Spezialist für Porsche-Fahrer, erteilt dem unter Schuldgefühlen leidenden 911-Fan Absolution: „Sie müssen sich keine Sorgen machen, wenn Sie ein Auto lieben“, beruhigt er den Patienten, „ erst recht nicht, wenn es ein Auto mit weiblichen Rundungen, einem knackigen Hintern und einem Dekollete´ ist, das sogar Autohasser milde stimmt“.

Und überhaupt: Kann man all diese vermeintlichen Schwächen- den Neid der Zeitgenossen, die Fixierung auf ein Lustobjekt, den Rausch der Geschwindigkeit, den Todestrieb, die Symbiose mit einem Hi-Tech-Objekt- kann man all das nicht auch positiv wenden? So sprach der PS-Therapeut, und wahrlich: Das hört sich alles sehr plausibel an. Warum nicht einfach mal ordentlich Gas geben und all den Schuldgefühlen und profanen Niederungen des tristen Alltags unbeschwert, mit einem gesunden Narzissmus davonfahren? Narzissmus sei auch keine krankhaft-übersteigerte Selbstverliebtheit, sondern Ausdruck eines angemessenen Selbstwertgefühls. Und was spricht gegen die These des französischen Ethnologen George Devereux, dass Angstfreiheit beflügelnd wirke und angstfreies Beobachten den Erkenntnisprozess stimuliere? Folglich müsste angstfreies Porsche-Fahren eigentlich die optimale Form der Fortbewegung darstellen…

Mit Hochgenuss lesen sich diese mit lockerer Selbstironie und stilistischem Glanz formulierten Passagen, die zwar meistens mit kulturphilosophischen Anspielungen und Reflexionen unterfüttert sind, aber nie in einen belehrenden Experten-Jargon abdriften. Es sind die gegen den Strich gebürsteten Thesen und kulturphilosophischen Einsichten, mit denen plumpe Vorurteile so lässig konterkariert werden, die Poschardts 911-Buch so spannend machen.

Er versucht sich zwar auch an einer Typologie des „typischen“ Porsche-Fahrers, den es gar nicht gibt, indem er Prominente von Karajan bis zum Comedian Seinfeld in dieses Klassifikationsraster zwängen will. Doch das wirkt ziemlich weit hergeholt. Wie auch die Einblicke in die Münchener Party-und Disco-Szene mit dem Volldröhn-Dom P1, wo sich viele junge und schicke Porschefahrer tummeln sollen- aber wen interessiert schon das Getue dieser urbanen Schnösel ? Ebenso aberwitzig muten seine Waterkant-Impressionen an: In wohlhabenden hanseatischen Alsterkreisen will er nämlich mit Beginn des 21. Jahrhunderts (der Ethnologe hat das Wort!) eine 911-Monokultur ausgemacht haben, die dazu führte, dass der 911er in Hamburg „zum Kaschmirpullover unter den Sportwagen“ wurde. Die Mode-Diva Jil Sander, selbst enthusiastische Porsche-Fahrerin, soll diesen Trend initiiert haben. Vielleicht hat Poschardt in dieser Recherche-Phase die „Gala“-Lektüre zu intensiv betrieben?

Viel spannender sind die Diskussionen über ästhetische Aspekte, über ein neues Design, das die „Gemüter der Gusseisernen“ in Wallung versetzte oder über revolutionäre Neuerungen wie die 1998 eingeführte Wasserkühlung – so etwas Abartiges konnte eingefleischte 911-Fahrer schon vom Glauben abfallen lassen. Doch der Fortschritt war nicht aufzuhalten und wurde auch schnell akzeptiert. Bald wurde der geliftete und runderneuerte 997er zur neoklassizistischen Ikone.

Poschardt geht auf den 911 im Film (Steve McQueen im Rennfahrer-Epos „Le Mans“, „Depart“ vom polnischen Regisseur Jerzy Skolimowski) ebenso ein wie auf Künstler und Schauspieler (Karajan, Anne Sophie Mutter, Jerry Seinfeld), die für den 911er schwärmten oder etwa, wie Seinfeld, eine Porsche-Sammlung aufbauen und sich entschieden weigern, je einen Fuß in einen dezent summenden elektrischen Tesla zu setzen, weil es nichts Authentischeres und Schöneres gebe als stampfende Kolben.

Faszinierender als diese Promi-Meldungen sind aber Exkurse, in denen es etwa um ein unbekanntes Max-Frisch-Fragment geht („Skizze eines Unglücks“), das den Arzt Viktor als verunsicherten Porsche-Fahrer während eines Urlaubs-Trips zeigt. Viktor hält die Kritik seiner Geliebten an seinem Fahrstil für völlig unangemessen und fährt unbekümmert und flott weiter, bis er an einer Kreuzung ungebremst in einen Lkw kracht. Seine Beifahrerin stirbt bei dem Unfall – „aber er hatte Vorfahrt“. Will Frisch den Porschefahrer dämonisieren? Soll hier, nach dem Bericht des Club of Rome 1972, schon in Hinsicht auf Öko-Fragen gegen Sportwagen-Fahrer moralisiert werden? Keine Frage: Poschardt hat auch ein Gespür für die Krisen, von denen Porsche gebeutelt wurde (Dollarkrise, Ölkrise, sensibleres Umweltbewusstsein usw.) und er geht adäquat auf sie ein.

Die Beziehung Mensch-Maschine als wichtiges Kapitel der Kulturgeschichte bringt Poschardt – trotz etlicher überdrehter Apercus – locker und brillant auf den Punkt. Sein Mix aus historischen Rückblicken, technischem Know-How und Design-Geschichte ist so rasant wie die Beschleunigung im neuesten 911GT3 (O-100 km/h in 3,5 Sekunden, roter Drehzahlbereich erst bei 9000 U/min, 6-Zyl.-Boxermotor mit 475 PS, 315 km/h Spitze).

FAZIT: Man kann den 911 als Protest-Ikone gegen gesichtslose Volumenmodelle verstehen und seinen hohen Individualisierungsgrad als Alleinstellungsmerkmal betonen, wie Poschardt es macht. Man kann es vielleicht auch nicht fassen, wie Poschardt schreibt, dass es in dieser „oft genug unansehnlichen, rüden, unfeinen Welt etwas derart Aufregendes und Anmutiges gibt, das Haltung und Eleganz so unwiderstehlich verbindet“. Und man könnte trotzdem immer noch alle möglichen anderen, singulären Aspekte beleuchten, um die Aura dieses faszinierenden Autos zu analysieren.

Ebenso angeregt von der 911-Lektüre wie auch überwältigt vom 911-Mythos fragen wir daher mit Ulf Poschardt in seinem letzten Satz dieser fulminanten Studie: „Warum hört es nicht auf, umwerfend zu sein?“

Peter Münder

Ulf Poschardt: 911. Klett-Cotta, 2013, 294 Seiten. 22,95 Euro.

Ulf Poschardt veranstaltet am Dienstag, 10. Sept. 20 Uhr zusammen mit Albert Ostermaier und Dieter Landenberger (Leiter Historisches Archiv Porsche-Museum) einen 911-Abend im Porsche-Museum, Stuttgart, Porscheplatz 1. Besucher sollten die Gelegenheit nutzen und sich die gleichzeitig präsentierte Sonderausstellung „50 Jahre Porsche 911“ ansehen!

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