Geschrieben am 21. August 2006 von für Bücher, Litmag

Ugo Riccarelli: Der vollkommende Schmerz

Schmerz und Leidenschaft

Eine barocke Hymne auf das Leben.

Schon in der den Roman einleitenden Widmung wird dem scheinbar nur Trostlosigkeit und Depression verheißenden Titel ein anderer Ton entgegengesetzt. Ugo Riccarelli zitiert einen Satz von Carlo Emilio Gadda, einem der Großen der literarischen Moderne Italiens: „Gadda ist nicht barock. Barock ist die Welt.“ Es erwartet den Leser also kein Trauerbuch, sondern eine barocke Hymne auf das Leben, aber auf ein Leben, in dem der Schmerz immer gegenwärtig ist. Leidenschaft und Gewalt, Liebe, Geburt und Tod. Versuchen wir in wenigen Worten die Erzählhandlung zusammenzufassen:

In zweiter Ehe heiratet die Witwe Bartoli einen aus dem Süden Italiens in die Toskana gekommenen Lehrer und Anarchisten, genannt ‚il Maestro‘. Die vier Kinder der Beiden erhalten sehr heroische Namen, mit denen der anarchistische Gesinnung der neuen Familie auch an die folgenden Generationen weiter getragen werden soll: Ideale, Libertà, Michail (benannt nach dem vom Vater verehrten russischen Anarchisten Michail Bakunin) und Cafiero (in Erinnerung an einen italienischen Anarchisten). Cafiero, auch Nocciolino genannt, heiratet Annina, die einer weniger romantisch-anarchischen als geschäftstüchtig, gerissenen Schweinezüchter-Familie entstammt. Für die großen Ideale des italienischen Risorgimento, geschweige denn des Anarchismus haben die Bertorellis wenig Sympathie. Stattdessen lieben sie es, ihren Kindern Namen aus griechischen Heldensagen zu geben: Odysseus, Hektor, Äneas oder Helena. Annina ist die Tochter des in geschäftlichen Dingen wie in der Liebe kruden, aufbrausenden Odysseus und der verträumten, etwas weltfremden Rosa. Annina, so hat auch Ugo Riccarelli einmal in einem Gespräch bekannt, trage die Züge seiner geliebten Großmutter. Eine Frau, immer wieder niedergeschlagen vom ‚vollkommenen Schmerz“ schwerer Schicksalsschläge, aber auch eine begnadete Erzählerin, der er als Autor vieles, fast alles verdanke. „Mit diesen Erzählungen machte sie mir ein kostbares Geschen: sie vererbte mir die Erinnerung, einen Stoff, der Bestandteil meiner, unserer Identität war, zugleich Bestandteil einer ‚condition humaine’, die nicht auskommt ohne die „Erkenntnis des Schmerzes, wie es der römische Schriftsteller Carlo Emilio Gadda gesagt hat. Und von dieser ‚Erkenntnis des Schmerzes’ wird auch die ausufernde Geschichte der einzelnen Familienmitglieder zusammengehalten. Irgendwann in deren Leben kommt es immer zu Situationen, in denen sie nicht mehr nur die kleinen alltäglichen Schmerzen spüren, sondern den einen „vollkommenen Schmerz“. Der Schmerz aber ist es auch, der die Figuren nicht in trostlosem Schweigen verharren lässt, sondern sie zum erzählenden Erinnern bringt. „Durch seine Krankheit lernte der kleine Sole gründlich das langsame Zeitmaß der Wörter und den Zauber des Erzählens kennen, die Möglichkeit, in den Meeren der Phantasie und in der Erinnerung an die Vergangenheit einen freien Atem zu finden, das Herzklopfen im Mut längst verschwundener Menschen, den ungezügelten Lauf zu fernen und faszinierenden Orten oder zu Plätzen ganz in seiner Nähe, die durch die verflossene Zeit nun unwiederbringlich verändert waren.“ Spätestens bei dieser wunderschönen Hommage auf das Erzählen muß man aber auch die Übersetzerin Karin Krieger lobend erwähnen, die den für Riccarelli typischen, zwischen Realismus und magischer Verzauberung variierenden Erzählton gelungen in die härtere deutsche Sprache übertragen hat.

Ein empfehlenswertes Buch für alle Freunde des ‚großen Familienromans’, denen aber auch etwas zugemutet wird, in dem Gewirr an Namen und Verwandtschaftsbeziehungen die Übersicht zu behalten. Sehr hilfreich ist da der am Schluß des Buches publizierte Stammbaum der beiden Familien, in denen, wenn auch literarisch versteckt, vieles aus der Familien-Geschichte des Autors aufscheint. Und präsent, mal direkt erwähnt, mal nur angedeutet ist auch die ‚große Geschichte Italiens’ in der die Figuren zu handeln gezwungen sind. Besonders hervorzuheben ist hier die Erinnerung an den italienischen Anarchismus, den es in der heute in Italien vorherrschenden ‚Nationalgeschichte’ scheinbar überhaupt nicht gegeben hat. In der Figur des Maestro hat Riccarelli ihn mit starken Pinselstrichen wieder in die Wahrnehmung der Leser zurückgeholt. Wann hat man zum letzten Mal in italienischen Romanen etwas gelesen von Rebellion, vom Kampf ausgebeuteter Arbeiter gegen den ‚Padrone’? Faschismus, Krieg, Kapitalismus, jene ‚harten Themen’ waren in der italienischen Literatur nach den heißen sechziger und siebziger Jahren vollkommen aus der Literatur verschwunden. Riccarelli holt sie zurück, aber nicht in jener heroischen, heute nicht mehr erträglichen Verklärung, sondern als Rahmen zum Erzählen einer Familiengeschichte, die ansonsten ausufern würde in unendlich vielen kleinen Alltagsdetails und Haushaltssorgen. In seinen ‚Geschichtsthesen’ schreibt Walter Benjamin an einer Stelle: „Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.“ Das hätte auch, neben dem Zitat von Gadda, diesen so irritierend altmodisch geschriebenen Roman von Ugo Riccarelli einleiten können.

Carl Wilhelm Macke

Ugo Riccarelli: Der vollkommende Schmerz. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Zsolnay-Verlag, Wien-Muenchen, 2006. Gebunden. 415 Seiten. 23,50 Euro. ISBN: 3552053875