Geschrieben am 15. April 2007 von für Bücher, Litmag

Tsutsui Yasutaka: Mein Blut ist das Blut eines anderen

Blutige Slapstick-Fiction

Dieses schnelle, grelle und exzessive Metafiktions-Spektakel entstand bereits Anfang der 70er-Jahre – endlich kann dieser moderne Klassiker der japanischen Literatur nun in seiner deutschen Übersetzung entdeckt werden.

Tsutsui Yasutaka gilt als „japanischer Guru der Metafiktion“ und als einer der innovativsten Autoren Japans. Bereits Anfang der 60er-Jahre entwickelte Tsutsui – parallel zu ähnlichen Bestrebungen in Nord- und Südamerika, jedoch ohne von ihnen zu wissen – literarische Methoden, die den Prozess des Schreibens selbst, den Zusammenhang zwischen Fiktion und Realität, in den Mittelpunkt des Textes rückten. Mitte der 60er schaffte Tsutsui den Durchbruch mit dem Science-Fiction-Roman 48 oku no moso (4 800 Millionen Wahnideen), die Karikatur einer durch das Massenmedium Fernsehen deformierten und manipulierten Wirklichkeit ausgelieferten Gesellschaft. In den folgenden Jahrzehnten etablierte er sich als experimentierfreudiger Autor, in seinen Texten verschwammen die herkömmlichen Grenzen zwischen den Genres, mischten sich Kriminalroman, Science Fiction, Parodie und Trash mit anspruchsvollen Erzählstrategien. Ohne Rücksicht auf die oft genug willkürlichen Grenzen zwischen Hoch- und Unterhaltungsliteratur, nutzte er seinen selbst geschaffenen textuellen Spannungsraum, um kritische Entwicklungen in der japanischen Gesellschaft, aber auch literarische Erzählweisen und die Sprache selbst, zu reflektieren und zu dekonstruieren.

Dies geschieht bei Tsutsui nicht als trockener Diskurs, sondern als bunter Reigen, spielerisch und mit schwarzem Humor. Mein Blut ist das Blut eines anderen beginnt als die japanische Version einer Hard-boild-Kriminalgeschichte und steigert sich zu einem rasenden Inferno, das eine ganze Stadt in Schutt und Asche legt. Kinukawa Ryosuke heißt der ängstliche Held, der seit zwei Monaten als Buchhalter einer florierenden Baufirma in einer gesichtslosen Boomtown arbeitet. Er wohnt in einem winzigen 7-Quadratmeter-Appartement und wenn er nicht arbeitet, trinkt er Bier in einer der ruhigeren Bars des örtlichen Vergnügungsviertels. Der Ärger beginnt, als eine dieser Kneipentouren auf schreckliche Weise aus den Fugen gerät. Von einer handvoll aufdringlicher Kleinkrimineller buchstäblich bis aufs Blut gereizt, verliert der sonst so zurückhaltende Herr Kinukawa vollständig die Kontrolle. Als er wieder zu sich kommt, ist das Lokal verwüstet und die Gangster liegen halb totgeschlagen zu seinen Füßen. Die verschreckten Kellnerinnen bestätigen ihm, dass er bestialisch gewütet hat. Das Merkwürdige dabei: Ihm fehlt jede Erinnerung an seine zerstörerische Gewaltorgie.
Kinukawas fürchterliches Geheimnis: In ihm schlummert ein Mr. Hyde, ein zweites Ich, das, wann immer man es reizt, die Kontrolle übernimmt und den freundlichen Herrn Kinukawa in einen tobenden Berserker verwandelt. Seine übermenschlichen Kräfte sprechen sich schnell herum und er gerät ins Visier zweier rivalisierender Mafia-Banden, die die Stadt unter sich aufgeteilt haben. Die einen wollen ihn als Leibwächter für ihren Boss gewinnen, die anderen schwören blutige Rache. Schnell eskaliert der Bandenkrieg in einer Spirale blutiger Gewalt.

Anspielungen, Querverweise

Tsutsuis anspielungsreicher Roman steckt voller Querverweise. Geschickt variiert er das „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“-Motiv, mit dem schon Robert Luis Stevenson in seiner Erzählung die Folgen einer erzwungenen Verdrängung nicht gesellschaftskonformer Wünsche aufzeigte. Lustvoll sticht Tsutsui mitten hinein in die große Blase verdrängter Emotionen, die gerade eine so überdiszipliniert organisierte Gesellschaft wie die japanische hervorbringt und zerlegt die herrschenden Konventionen in ihre Einzelteile.

Seine Grundstruktur entleiht Mein Blut ist das Blut eines anderen den amerikanischen Hard-boiled-Krimis der 20er- und 30er-Jahre, vor allem Dashiel Hammetts Debütroman Rote Ernte (1928), den ohnehin eine ganz spezielle Rezeptionsgeschichte mit Japan verbindet. Sein Plot – ein namenloser Detektiv säubert eine Kleinstadt vom Verbrechen, indem er gekonnt zwei rivalisierende Banden gegeneinander ausspielt – diente schon Regisseur Akira Kurosawa als Vorlage für dessen Samurai-Film Yojimbo (1961). In einer fruchtbaren kreativen Pendelbewegung gelangte der Stoff dann schließlich über Italien (Sergio Leones Remake Für eine handvoll Dollar, 1964) durch Walter Hills Last Man Standing (1996) zurück nach Amerika.

Doch Tsutsuis „Rote Ernte“ ist deutlich blutiger als sein Vorbild. Anders als Hammetts hart gesottener Held besitzt Kinukawa zu keiner Zeit die Kontrolle über den eskalierenden Bandenkrieg. Ganz im Gegenteil, eigentlich möchte sich der furchtsame Angestellte, dessen größte Angst es ist, in einem seiner Wutanfälle jemanden umzubringen, heraushalten aus allen Machtspielen, aus der Gewalt, den Intrigen und der allumfassenden Korruption. Geführt von einem zunehmend engmaschigeren Netz aus Zwängen und Zufällen gerät der von allen Seiten Manipulierte jedoch immer wieder ins Zentrum der Geschehnisse.
Während in Hammets Krimi am Ende die Bösen gerichtet sind und die gesellschaftliche Ordnung wiederhergestellt ist, versinkt in Tsutsuis apokalyptischer Vision die gesamte Stadt in Feuer und Gewalt. Ein allauslöschendes Inferno, das Gute wie Böse gleichermaßen vernichtet, scheint die einzige Lösung zu sein, um die umfassende Korruption und Kriminalität zu beenden. Auch wenn Kinukawa am Ende die geplante Flucht gelingt, so hinterlässt er Chaos und verbrannte Erde, keine Gerechtigkeit. Dieser apokalyptische Amoklauf der Gewalt ist in seiner blutigen Konsequenz höchstens noch vergleichbar mit Chester Himes Kriminalroman Plan B, der seine Gesellschaftskritik durch ähnlich explizite Gewaltdarstellungen befeuerte.

Ballett der Zerstörung

„Slapstick-Fiction“ nennt Tsutsui, der sich selbst als Komiker sieht („Marx“ bezeichnet er als sein großes Vorbild. „Groucho Marx“), seine Art zu schreiben. Dies meint eine grelle, schockierende Erzählweise, die selbstironisch und verspielt auch vor Versatzstücken aus Trivial- und Popkultur nicht zurückschreckt, die immer auch die Wirkung des Textes als Text mitdenkt und die Machart des Ganzen in den Mittelpunkt stellt.
„Slapstick-Fiction“ meint aber auch im ganz ursprünglichen Sinne des Begriffs eine extrem objekt- und körperbezogene Schreibweise. Die Handlung spielt in gut der Hälfte des Romans vor dem Hintergrund einer im Bürgerkrieg versinkenden Gemeinde. Baumaschinen rollen durch die Stadt, Abrissbirnen zerstören Wohnhäuser, Panzerwagen überrollen Menschen und Gebäude. Die rivalisierenden Banden kämpfen mit Schwertern, Maschinenpistolen und Dynamit, Explosionen und Feuersbrünste verwüsten ganze Viertel. Gekämpft und gestorben wird im schnellen Rhythmus, die Gewaltdarstellung ist dabei explizit, der Tod jedoch selten ein realistisches Drama, sondern vielmehr ein inszeniertes, immer wieder ins Surreale kippendes Ballett der Zerstörung:

Kinugasa schlüpfte hinter dem Pfeiler hervor und rannte mit gellenden Schreien auf die Fahrbahn hinaus. Noch im Laufe feuerte er zwei Schüsse auf einen auf der Straße liegenden Mann ab, der sich wie eine Raupe über den Boden wand und zurückschoss. Von einer Kugel in den Bauch getroffen, krümmte sich Kinugasa zusammen und brüllte etwas, während er abermals feuerte. Der Schuss traf den Mann in die Brust. Der Mann schrie, er wand sich und drückte abermals den Abzug durch, ein Schuss, der Kinugasa in der Schulter erwischte. Kinugasa drehte eine Pirouette um die eigene Achse und fiel dann einfach um. Er kam wieder auf die Beine, langsam, brüllend vor Schmerzen, und feuerte blindlings auf den Mann, der dabei seines Kopfes verlustig ging. Nachdem die letzte Kugel verfeuert war, kippte Kinugasa vornüber auf die Straße und rührte sich nicht mehr.

Parallel zur Intensität der Schlacht steigen auch die Intensität und Häufigkeit der Gewaltbeschreibungen. Von Kugeln durchsiebte Menschen. Herausgerissene Augen, zertretene Gesichter, weggeschossene Schädel, überrollte Körper, zertretene oder zu Brei geschlagene Gesichter – exzessiv die Darstellung der verfremdeten Körper, der verdrehten und verrenkten Körperteile. Wahrhaft eine slapstickhafte Symphonie des Grauens, immer wieder fallen angeschossene Menschen in Ohnmacht, landen dabei mit dem Kopf an Häuserwänden, Schranktüren oder Bettpfosten.

In ihrer Häufung erscheinen die maßlosen Schilderungen der Gewalt jedoch plötzlich als genau das, was sie sind: maßlose Schilderungen von Gewalt, ersonnen von einem Literaten, der dem Leser immer wieder zuzuzwinkern scheint:

Dem Mann fehlte der Hinterkopf, aus seinem Schädel quoll weißes Hirn wie Brei, der überkocht.
’Was ist los mit Ihnen?’
’Mir ist zum Kotzen.’
’Verstehe ich Sie richtig? Sie wollen jetzt kotzen?’

Fleisch und Körperflüssigkeit

Wo keine Moral mehr als zivilisatorischer Mantel die barbarische Natur des Menschen bedeckt, reduziert sich dieser auf Fleisch und Körperflüssigkeit und rückt damit näher zur Tierwelt. Ironisch erscheinen bei Tsutsui die Bewohner seiner grotesk-comichaften Welt als „furchtsame Tierchen des Waldes wie in einem Wald Disney-Film“, die sich getroffen von „Kugeln wie Heuschreckenschwärme“ mit zuckenden Beinen „krümmen wie eine Garnele“ und über den Asphalt winden „wie eine Raupe über den Boden“.
Und diese seelenlosen Hüllen werden von Tsutsui in beispielloser Konsequenz buchstäblich de-konstruiert. Die Körper werden zermatscht, verbrannt, deformiert, pulverisiert. Als erbarmungsloser literarischer Schlachter versucht er den eigentlichen Kern bloßzulegen und findet, nach all dem Kneten, Sezieren und Ablösen: Nichts. Die wahre Natur des Menschen.

Gleichzeitig ist Mein Blut ist das Blut eines anderen eine kraftvolle Meditation über die hippokratische Charakterlehre anhand von Körpersäften. Hippokrates verknüpfte vier Säfte mit jeweils einer Charaktereigenschaft: Blut (Sanguiniker), schwarze Galle (Melancholiker), gelbe Galle (Phlegmatiker) und Schleim (Choleriker). Tsutsuis Roman ist sein sarkastischer Kommentar dieser Theorie, die Körpersekrete eher noch als Gehirn oder Herz für die Taten der Menschen verantwortlich macht (und die Tsutsui bei Bedarf ironisch um die Flüssigkeit „Farbe“ erweitert: „Itamis VW stand auf dem Parkplatz vor dem Haus, lackiert in einer Farbe, die vollkommener Ausdruck seines Charakters war“).

Das schnelle, blutige und exzessive Metafiktions-Spektakel entstand bereits Anfang der 70er-Jahre – endlich kann dieser moderne Klassiker der japanischen Literatur nun in seiner deutschen Übersetzung entdeckt werden.

Jan Karsten

Tsutsui Yasutaka: Mein Blut ist das Blut eines anderen. Aus dem Japanischen von Otto Putz. Bebraverlag 2006, japan edition. 224 Seiten. 22,00 Euro.