Pralles Sittengemälde des tiefen amerikanischen Südens
Elf Jahre nach seinem Welterfolg „Fegefeuer der Eitelkeiten“ hat Tom Wolfe wieder einen Roman vorgelegt, der den Leser von der ersten bis zur letzten Seite in seinen unwiderstehlichen Erzählsog zieht. Der notorische Dandy im weißen Anzug, der seit Jahren auf den reflexiv-experimentierfreudigen „magersüchtigen Roman“ schimpft, erweist sich hier als der Prototyp des realistischen amerikanischen Erzählers.
Charlie Croker ist in einer nüchtern kalkulierenden, technokratischen Welt das letzte Exemplar einer aussterbenden Menschengattung: „Er war ein Spieler, ein Spekulant, ein Hasardeur, der den hohen Einsatz mehr liebte als die Gewinne. Wenn er alles verlor, was wäre schon dabei?“
Charlie Croker ist der Protagonist – nein, der Held! – von Tom Wolfes neuen Roman „Ein ganzer Kerl““ Aus dem Nichts stieg Charlie Croker zum legendären Footballspieler und zum sagenhaft reichen Immobilienspekulanten auf.
Wie ein Sprößling aus der Sklavenhalter-Dynastie unterhält er „südlich der Kriebelmückenline“ die Plantage Turpmtime: 29.000 Morgen Feld, Wald und Sumpf. Hier fängt „Cap’m Charlie Croker“ immense Klapperschlangen mit der Hand, züchtet 3-Millionen-Dollar-Pferde und jagt mit Inbrunst seine Wachteln, die „mit einem überwältigenden Schlag“ aus dem Gras der Plantage hochschnellen.
Während die Welt auf Turpmtime noch in Ordnung ist, versinkt die „Croker Global Corporation“ im Schulden-Morast. Von eiskalten Krisen-Managern mit Totenkopf-Hosenträgern wird der große selbstherrliche Tycoon „zu einem schwitzenden, stotternden, angeschlagenen Scheißkerl“ erniedrigt.
Aufstieg, Niedergang und Wandlung dieses guten alten „Baker-County-Georgia-Boys“ Charlie Croker bilden die Hauptschlagader eines prallen Sittengemäldes des tiefen amerikanischen Südens. Tom Wolfe brilliert in seinem neuen Roman mit einer ungeheuren Facettenvielfalt und setzt ein furioses Karussell aus Personen und Schauplätzen in Gang: Da wird die „jeunesse doorée des Schwarzen Amerika“ mit ihren „Ghettoplünnen“, Slangs und wummernden HipHop-Rythmen ebenso genau und dicht porträtiert wie die Crack-Slums, die Glitzerwelt des „Piedmont Driving Club“ oder die politischen Ränke und Machtspiele in Atlanta. Tom Wolfe, Mitbegründer des „New Journalism“, erweist sich hier immer wieder als ein Meister der genauen Recherche und Beobachtung. Stück für Stück legt er dabei das hochkomplexe Nervensystem von Atlanta mit seinen unzähligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verästelungen frei. Exemplarisch wird „the Atlanta way“ mit seinen schwelenden Rassenkonflikten am schwarzen Football-Superstar Fareek Fanoon aufgezeigt, der die Tochter eines der reichsten und prominentesten Männer in Nord-Atlanta vergewaltigt haben soll – ein Fall, der die Synapsen in Atlanta glühen läßt und auch für Charlie Croker zur Schicksalsfrage wird.
Als heimlicher Held entpuppt sich im Laufe der Geschichte der von „Croker Global Foods“ in Kalifornien entlassene Kühlhausarbeiter Conrad Hensley. Aus einem gesitteten Familienleben stürzt er in einen manischen Strudel der Ereignisse und findet sich im gewaltstrotzenden Knastalltag von Santa Rita wieder: „Er hatte alles verloren, jeden Cent, seine Freiheit, seinen guten Namen, jedes Fünkchen Ansehen, um das er gekämpft hatte, sogar seine Träume.“ Doch dank eines Buches über die Stoiker und eines Erdbebens entkommt Conrad und trifft als Aushilfskrankenpfleger auf den hinfälligen Charlie Croker – hier schließt sich der Kreis und leitet eine erstaunliche Wandlung ein.
Elf Jahre nach seinem Welterfolg „Fegefeuer der Eitelkeiten“ hat Tom Wolfe wieder einen Roman vorgelegt, der den Leser von der ersten bis zur 921. Seite in seinen unwiderstehlichen Erzählsog zieht. Der notorische Dandy im weißen Anzug, der seit Jahren auf den reflexiv-experimentierfreudigen „magersüchtigen Roman“ schimpft, erweist sich hier als der Prototyp des realistischen amerikanischen Erzählers.
Von Karsten Herrmann
Tom Wolfe: Ein ganzer Kerl. Dtsch. v. Benjamin Schwarz. Taschenbuch. Rowohlt Tb. 2001. 1079 Seiten. 12,50 Euro. ISBN: 349922920X