Geschrieben am 15. Oktober 2011 von für Bücher, Crimemag

Tom Rob Smith: Agent 6

Fehler!

Wenn man je versucht hat, aus einem sehr mittelmäßigen, irgendwie schon akzeptablen Autor einen Großmeister zu machen, dann bei Tom Rob Smith. Max Annas rückt die Dinge zurecht.

Leo Demidow ist wieder da, mag man zuerst denken, wenn man den neuen Tom Rob Smith in der Hand hält. Demidow, der in „Kind 44“ und „Kolyma“ schon die allerfinstersten Seiten der UdSSR sowohl repräsentiert als auch durchlitten hat. Aber er ist gar nicht so sehr zurück, sondern vielmehr immer noch da. Die Geschichte des dritten Thrillers um den sowjetischen Polizisten beginnt im Jahr 1950, also schon wieder in dieser sehr, sehr kalten Zeit, in der selbst der Unterdrücker vor nichts mehr Angst hat als davor, unterdrückt zu werden – vor Stalins Tod und vor einer Zeit relativer Entspannung. Diesen Trick, die Uhr weiterzudrehen, seinen Helden altern zu lassen, und ihn trotzdem an die stalinsche Angst zu binden, hat Smith schon in „Kolyma“ angewendet.

Tom Rob Smith

Und um genau diese Angst erneut fühlbar zu machen, begeht Smith gleich zu Beginn von „Agent 6“ einen dramatischen Fehler. Er erzählt eine schlechte Geschichte. Sie handelt davon, wie die russische Geheimpolizei, die so geheim gar nicht ist, Tagebücher liest, auswertet und interpretiert, um Leute in Keller, Folterkammern und Gulags zu schleppen. Für Demidow und seine Kollegen ist dies ein wirkungsvolles Mittel, den falschen und bösen Gedanken im Volk auf die Spur zu kommen und Leute, die sich verdächtig machen, zu eliminieren. Warum aber die Sowjetmenschen im Angesicht dieser tödlichen Bedrohung anhaltend Tagebücher produzierten und sich auf diese Weise angreifbar machten, erklärt er nicht. War der Mensch in der Sowjetunion nicht lernfähig?

Fehler auf Fehler

In diese Eröffnung webt Smith den Anlass für den Thriller, der in Moskau, New York und Afghanistan spielt und dessen Handlung über etwas mehr 30 Jahre reicht. Jesse Austin, ein US-Sänger, der leicht als dünner Ausschnitt Paul Robesons erkennbar ist, besucht die UdSSR, um seiner Liebe zum Kommunismus und zum sowjetischen System Ausdruck zu verleihen.  Dabei lernt er sowohl Demidow kennen als auch dessen spätere Gattin Raisa. Mitte der 60er Jahre dann, wir erleben einen von mehreren radikalen Zeitsprüngen, reist sie mit den beiden Töchtern des Paares in einer Kultur- und Friedensdelegation nach New York, wo es zu einigen Todesfällen kommt und das Personal des Thrillers prominent dezimiert wird, in einem Spiel, das von US-Agenten und ihrer Desinformationspolitik beherrscht wird. „Agent 6“ ist beinah zur Hälfte vorüber, und jetzt begeht Smith den nächsten gravierenden Fehler.

Klar ist, dass der Fall in New York aufgeklärt werden muss und wird. Wer sich allen dramaturgischen Schwierigkeiten zum Trotz diesem Helden ausliefert, der so viel Blut an den Händen hat, muss ihn auch dorthin schicken. Anstatt aber die Zeitspanne zwischen den Morden in New York und ihrer Aufklärung einigermaßen übersichtlich zu halten, schreibt er Demidow eine Flucht in Richtung USA ein, die an der Grenze scheitert, und einen epischen Erzählbogen samt zweier weiterer gewaltiger Zeitsprünge in Afghanistan unter sowjetischer Besetzung. Dabei erklärt er mehr in als zwischen den Zeilen Weltpolitik, bevor Demidow endlich New York erreicht. Und hier ist das Buch beinah auch schon zu Ende. „Agent 6“ ist das schwächste Buch der Trilogie, und Smith macht in Interviews nicht den Eindruck, als wolle er die Reihe fortsetzen. Seine Sprache ist endgültig frei von Eigenschaften und ohne Wiedererkennungswert; er charakterisiert Figuren, die kurz auftauchen, beständig mit Klischees; und er schindet Seiten mit ausufernden Beschreibungen, die weder den Figuren dienen noch dem Plot. Zu Harlem in den 60ern fällt Smith schließlich auch nicht viel mehr ein als Arbeitslosigkeit und Drogen. Damit fällt er auf genau jene Politik der Desinformation herein, die er eigentlich doch geißelt. Denn nicht nur in der UdSSR waren Demagogen am Werk.

Max Annas

Tom Rob Smith: Agent 6 (Agent 6, 2011). Roman. Deutsch von Eva Kemper. München: Manhattan 2011. 540 Seiten. 21,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Offizielle Website von Tom Rob Smith. „Kind 44“ bei cultmag, besprochen von Jörg von Bilavsky.