Geschrieben am 18. April 2005 von für Bücher, Litmag

Tobias Wolff: Alte Schule

Unzeitgemäße Betrachtungen

Der amerikanische Bestsellerautor Tobias Wolff hat nach seinen Kindheitserinnerungen („This Boy’s Life“) nun einen Entwicklungsroman geschrieben. Sein Protagonist glänzt durch literarischen Eifer und blendet damit sich und andere.

Amerika im Jahre 1960. Ein Land, das im materiellen Überfluss zu ersticken droht, wie John Kenneth Galbraith zwei Jahre zuvor in seiner radikalen Gesellschaftskritik „The Affluent Society“ angemahnt hat. Und ein Land, in dem der Kalte Krieg und die Rassenprobleme bei den Bürgern tief sitzende Ängste schüren. Doch von diesen alltäglichen Problemen und Sorgen spüren die Eleven eines traditionsreichen Elite-Internats an der amerikanischen Ostküste in Tobias Wolffs neuestem Roman nichts. Geographisch und mental von der Außenwelt abgeschnitten, werden hier konservative Werte gepflegt: Pflichtbewusstsein, Ordnungsliebe und Solidarität sollen die Teenager zu moralisch gefestigten Mitgliedern der Gesellschaft formen.

In denkwürdigem Kontrast dazu stehen die kulturellen Ambitionen der Schulleitung, die sich in einem alljährlichen Literaturwettbewerb manifestieren, an dem sich die Mehrzahl der Schüler nur allzu gerne beteiligt. Als Belohnung winkt dem Sieger das Treffen mit einem bekannten zeitgenössischen Autor. Der literarische Konkurrenzkampf ruft bei den von Ehrgeiz zerfressenen Jugendlichen von Anfang an Neid und Missgunst hervor, die allen Idealen der Schule Hohn sprechen. Als der angeblich mit dem Internatsdekan befreundete Ernest Hemingway eingeladen wird, eskaliert das Ringen um die Gunst des legendenumwobenen Idols, des „größten lebenden Schriftstellers“, wie es vollmundig heißt.

Der als Erzähler und Hauptfigur fungierende Schüler Tobias, dessen bisherige Prosa nur „erwartbar kompetent und bemüht“ ausgefallen war, läuft trotz psychisch bedingter Schreibhemmungen doch noch zu Höchstform auf. Hemingway und die Lehrer sind von seiner „wahrhaftigen“ und „aufrichtigen“ Erzählung begeistert. Doch eine unerhörte Entdeckung lässt die Stimmung umschlagen und das Leben des Schülers eine unerwartete Wendung nehmen.

Tobias Wolff beschreibt den Lebensweg dieses nach literarischer Anerkennung dürstenden Internatsschülers in einem Ton, der die teils naiven, teils abgeklärten Fremd- und Selbstbeobachtungen einfühlsam abbildet. Er lässt seine Romanfigur aber nicht zu einer wie auch immer gearteten moralischen oder sozialen Reife gelangen. Sie wird sich zwar ihrer Jugendträume als Illusionen bewusst, aber sie ist nicht fähig, sich von ihnen zu befreien. So gerinnen die Ansichten des Schülers Tobias über das unbekannte Wesen Schriftsteller fast zwangsläufig zum Klischee. Dass Literaten ihre Begabung nicht erklären können oder angeblich „eine eigene Gesellschaft außerhalb der üblichen Hierarchie“ bilden, klingt aus dem Munde eines Primaners aufrichtig, als Botschaft eines Künstlerromans dagegen etwas dürftig.

Der Autor und sein Alter Ego bleiben auch sonst einem sehr traditionellen Literaturverständnis verpflichtet. Bei beiden ist nichts von der Rebellion zu spüren, die ihr Vorbild Hemingway zum Schreiben bewogen hat. Keine Suche nach den Herausforderungen des wirklichen Lebens, das bei ihm aller romantischen Gefühle beraubt wird. Kein Bruch mit Erzählkonventionen wie sie die Beat-Poeten Burroughs, Ginsberg oder Kerouac um 1960 vollzogen haben. Stattdessen innere Monologe, die mehr oder minder tiefschürfend um die gesellschaftliche Rolle und die empfindsame Seele des Künstlers kreisen.

„Dass ein Schriftsteller die Zurückgezogenheit brauchte, isolierte ihn nicht automatisch oder machte ihn selbstsüchtig. Ein Schriftsteller war wie ein Mönch in seiner Zelle, der für die Welt betete – das tat er allein, aber für andere Menschen“, heißt es gegen Ende des Romans. Der Erzähler und sein Spiritus Rector bewegen sich jedoch in einer emotional bewegten, aber gleichwohl romantisierten Parallelwelt. Damit haben sie ihre Brücken zur jeweiligen Gegenwart abgebrochen, ohne etwas wirklich Neues entdeckt zu haben.

Jörg von Bilavsky

Tobias Wolff: Alte Schule. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Berlin Verlag. 2005. Geb. 260 S., 19,90 Euro. ISBN 3-8270-0527-2