Geschrieben am 20. Juli 2008 von für Bücher, Litmag

Tim Winton: Atem

Diese unstillbare Gier nach Leben

Klar: Man hat das alles schon gehört, gesehen, gelesen. Man kennt sie auswendig, die Coming-of-age-Geschichten, in denen das Leben einen Jungen zum Mann formt, die Geschichten über eine Freundschaft, die zur erbitterten Rivalität wird, und natürlich kennen wir auch Dreiecksgeschichten mittlerweile bis in die letztmögliche dramaturgische Verästelung hinein.

Tim Wintons bereits neunter Roman Atem ist eine Surfergeschichte, und Fans von „The Big Blue“ oder „Point Break“ werden schon bei der Lektüre des Klappentextes ein massives déjà-vu-Erlebnis haben. Es geht um Adrenalinjunkies auf der Suche nach der immer größeren Welle, dem ultimativen Kick, um eine Jugend in einem Kaff an der Westküste Australiens. Erzählt wird die Geschichte der Freundschaft des Ich-Erzählers Bruce Pike mit dem „wilden Jungen“ Loonie. Schon in der Kindheit wetteifern die beiden Jungs darum, wer am längsten den Atem anhalten kann, später buhlen sie um die Gunst des Surf-Gurus Sando, und um an seiner Seite bestehen zu können, riskieren sie sogar ihr Leben. Es geht um Grenzerfahrungen, die Sucht nach Anerkennung und um die Frage, ob man seiner Leidenschaft nachgehen kann, ohne die Große Liebe zu vernachlässigen.

Urlaubslektüre für Anspruchsvolle

Vieles an der Geschichte, die, solide geplottet, in der Rückschau erzählt wird, ist vorhersehbar, manchmal fühlt man sich an einen Jugendroman erinnert, und bei Sätzen wie „Während ich mein altes Didgeridoo blase, denke ich an jenes erste, das ich neben den Surfbrettern unter diesem großen Hippie-Haus sah“ muss man aufpassen, dass sich die Zehennägel nicht aufrollen.

Dennoch schafft es der 1960 geborene Australier Tim Winton, der bereits zweimal auf der Shortlist des Man Booker Prize stand und zu den erfolgreichsten Schriftstellern Australiens gehört, bekannte Versatzstücke zu einem insgesamt fesselnden und überaus unterhaltsamen Roman zu verbinden. Die Beschreibungen der Wellen und des Gefühls beim Surfen sind einzigartig und sprachlich meisterhaft. Dicht, poetisch und mit philosophischer Tiefe fühlt sich auch der Nichtsurfer hineingesogen in den fiebrigen Rausch des Adrenalins, oft meint man den eiskalten Atem der Gischt über das Gesicht wehen zu spüren, und wenn man das Buch zuschlägt, hat man nicht nur einen guten und süffigen Abenteuerroman gelesen, sondern auch eine vielschichtige Meditation über die unstillbare Gier nach Leben, die am Ende immer auch ein Flirt mit dem Tod ist.

Stefan Beuse

Tim Winton: Atem. (Breath 2008). Roman.

Aus dem Australischen von Klaus Berr. Luchterhand 2008. 236 Seiten. 16,95 Euro.