Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik. Von Karsten Herrmann
Wenn Sie sich in diesem Moment fragen, wer oder was gerade diese Zeilen liest, würden Sie wahrscheinlich etwas verwundert, aber sehr bestimmt antworten: „Na ich, natürlich!“ Doch dieses ganz fraglos und selbstverständlich angenommene „Ich“ als Kern meiner Person und als zugrundeliegendes Fundament der westlichen Denkschulen scheint mit den neuen Erkenntnissen der kognitiven Naturwissenschaften und auch der Philosophie radikal infrage gestellt: „Ganz im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen glauben, war oder hatte niemand je ein Selbst“, resümiert Thomas Metzinger in seinem neuen Buch „Der Ego-Tunnel“.
Der international renommierte Mainzer Geistesphilosoph versucht, die vielen neuen Erkenntnisse der Neurowissenschaften zu einem Gesamtmodell, zu einem faszinierenden neuen Bild des Menschen zusammenzuführen und die daraus resultierenden gewaltigen Herausforderungen zu diskutieren. Als erstes nimmt Metzinger endgültig Abschied von einem „naiven Realismus“, der noch von einem direkten Weltzugang ausgeht. Alles, was wir von der Welt wahrnehmen und wissen ist ihm zufolge eine im Gehirn entstandene „Repräsentation“: „Unser bewusstes Wirklichkeitsmodell ist eine niedrigdimensionale Projektion der unvorstellbar reichen und gehaltvolleren physikalischen Wirklichkeit.“
Eine Mega-Puzzlearbeit
Die großartige Leistung des Gehirns besteht darin, aus den unzähligen physikalischen Mikroereignissen ein in der Regel kohärentes Gesamtphänomen, nämlich die Einheit des Bewusstseins, hervortreten zu lassen. Doch nicht genug damit, dass das Gehirn quasi in einer „Echtzeit-Simulation“ ständig ein fokussiertes Modell der Welt konstruiert. Nein, es lässt uns dieses auch noch aus einer ganz fraglos und selbstverständlich angenommenen stabilen „Ich-Perspektive“ erleben!
Dieses Phänomen umschreibt Thomas Metzinger in seinem Buch mit der Metapher des „Ego-Tunnels“. Wir besitzen dabei keine Möglichkeit, das Welt- und Selbstmodell aus der Innensicht oder Introspektion als Modell zu identifizieren – für uns sind sie immer unmittelbar gegeben. Wie Thomas Metzinger anhand einer Fülle von Versuchen und Erkenntnissen der kognitiven Naturwissenschaften darlegt, scheint es nun aber gelungen, das Geheimnis unseres faszinierenden inneren Theaters und Schauspiels zu lüften. So konnte beispielsweise in einer einfachen Versuchsanordnung eine Gummihand auf verblüffend schnelle Weise in das innere Körpermodell der Versuchspersonen integriert und über sie ein Streicheln gefühlt werden.
Die Physik des Ego
Neben systematischen Versuchen gaben auch körperliche oder geistige Fehlfunktionen, die auf Defekte in bestimmten Hirnarealen zurückgeführt werden konnten sowie Phänomene wie außerkörperliche Erfahrungen oder der (Klar-)Traum den Wissenschaftlern wichtige Hinweise. Dabei zeigte sich auch, dass kein Regisseur und keine Entität die Fäden in diesem inneren Theater in der Hand hält, sondern dass es sich hier um einen Fall von „dynamischer Selbstorganisation“ handelt: „Das Ego ist lediglich ein komplexes physikalisches Ereignis – ein Aktivierungsmuster in unserem zentralen Nervensystem.“
Thomas Metzinger legt in Der Ego-Tunnel eine wissenschaftlich fundierte und plausible Bestandsaufnahme der derzeitigen Wissenschaft des Geistes vor. Akzeptiert man diese neuen Erkenntnisse und Modelle und nimmt sie zudem auch noch ernst, so steht das Bild des Menschen vor einem Paradigmenwechsel mit weitreichenden Folgen für die gesamte (Geistes-)Kultur. So steht beispielsweise auch die subjektiv erlebte und unserem Rechtssystem zugrunde liegende Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen in Frage. Es deutet sich an, dass das bewusste Erleben einer Absicht nur ein kleiner Ausschnitt aus einem komplizierten Prozess im Gehirn ist und dass „die eigentlichen Ursachen unserer Handlungen, unserer Wünsche und Absichten oft sehr wenig mit dem zu tun haben, was das bewusste Selbst uns sagt.“
Religion per Strom
Metzinger zeigt, dass auch im Hinblick auf die mögliche Manipulation von Bewusstseinsinhalten gewaltige Herausforderungen auf uns zukommen. So ist, was vielen noch wie Science-Fiction klingt, schon Realität: Nicht nur können wir mit Klug- und Wachmachern (z.B. Modafilin, Ritalin) unsere Gehirn-Synapsen zielgerichtet dopen, sondern es ist sogar schon möglich, durch elektromagentische Reizung eines bestimmten Hirnareals religiöse Empfindungen hervorzurufen.
Grundsätzlich scheint es auch keine Grenze mehr zu geben, um künstliches Bewusstsein zu erzeugen und eine „Evolution zweiter Ordnung“ zu starten – allein die ungeheure Komplexität und Synchronisationsleistung des Gehirns gilt hier noch als zu meisterndes Problem. Die Zukunft hat also schon begonnen und es wird Zeit, dass wir uns auf vielen Ebenen ernsthaft damit auseinandersetzen.
Als Trost für die „Entzauberung des Selbst“ hält Metzinger für uns dabei noch die „Einzigartigkeit“ eines jeden geistigen Lebens parat: „Die Menge der möglichen neurophänomenologischen Konfigurationen eines individuellen menschlichen Gehirns … ist so groß, dass Sie im Verlauf Ihres Lebens nur einen winzigen Bruchteil davon erforschen können“.
In der Tradition von „Psychonauten“ wie Aldous Huxley oder William S. Burroughs ermuntert er dann auch dazu, die engen Grenzen unserer rational gefärbten Welt- und Selbstmodelle zu erweitern und die ungeheure Weite und Tiefe unseres Erlebnisraumes zu nutzen – vielleicht sind hier ja noch ganz neue Kontinente zu entdecken!
Karsten Herrmann
Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel.
Berlin Verlag 2010. 380 Seiten. 26,00 Euro.