Geschrieben am 9. Februar 2011 von für Bücher, Litmag

Thomas Bernhard: Goethe schtirbt

Leid und Leidenschaft

– In den nur vier Erzählungen des Bandes „Goethe schtirbt“ spiegeln sich Werk und Leben von Thomas Bernhard. Von Jörg von Bilavsky.

Hier spricht Bernhard, hätte der schmale Band mit den vier Erzählungen aus den Jahren 1982 und 1983 auch heißen können. In kaum einem dichterischen Werk steckt so viel selbst Gelebtes, Gedachtes und Verdammtes wie in Bernhards. Gewiss sollte man vorsichtig sein, hinter dem Fiktiven immer die Biografie des Autors zu vermuten. Doch Bernhard lässt seinen Lesern nur selten eine andere Chance. Unerbittlich entführt er ihn in seine Lebens- und Gedankenwelt, um die immer wieder die gleichen Fixsterne kreisen. Nur der Blickwinkel verändert sich gelegentlich, wenn er seiner Meinung nach völlig überschätzte Geistesgrößen wie Goethe rhetorisch vom Sockel stößt, ruhelosen Eltern die Schuld am Unglück ihrer Kinder gibt oder auf „alles Österreichische“ flucht, insbesondere auf die Mozartstadt Salzburg. Seine immer auch ironisch verklärten Vorbilder sind vielmehr Philosophen wie Wittgenstein und Montaigne. Am französischen Essayisten des 16. Jahrhunderts schätzt er das Undogmatische, am österreichischen Denker das Radikale. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, lautet wohl das bekannteste Axiom Wittgensteins. Bernhard dekliniert diesen Gedanken in all seiner Prosa und allen seinen Theaterstücken durch. Denn das, was die anderen für geistreich halten, entlarvt er als abgeschmackt. Nicht zuletzt deshalb arbeitet er sich auch permanent an der Gedankenträgheit und Geistlosigkeit seiner Mitmenschen ab. Darüber muss freilich geredet und darf niemals geschwiegen werden, allein um dieser Erkenntnis willen. Bernhard erweist sich auch in „Goethe schtirbt“ einmal mehr als Wittgensteins gelehrigster und konsequentester Schüler.

So gebührt dem Sprachphilosophen in der ersten Erzählung „Goethe schtirbt“ auch die Krone unter Deutschlands Denkern. Das sieht gegen Ende seiner gezählten Tage auch Goethe ein, der sich in diesem Kabinettstück nichts sehnlicher zu wünschen scheint, als den Gelehrten aus Cambridge an seinem Sterbebett in Weimar zu sehen und zu sprechen. Die Ironie des Schicksals möchte, das der Denker des 20. Jahrhunderts den Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts nicht mehr zu Gesicht bekommt. Nicht etwa, weil die Spanne der Jahrhunderte realiter nicht überbrückt werden könnte. Nein, Wittgenstein „stirbt“ kurz bevor ihn Goethes Bote in Cambridge einladen kann. Ebenso genüsslich wie gehässig demontiert er den Mythos Goethe, der in persona selbst einräumt, „der Lähmer der deutschen Literatur“ gewesen zu sein, alle Literatur der Zukunft durch seine Blendung überschattet, wenn nicht sogar vernichtet zu haben.

Vorbilder im Visier

Foto © Andrej Reiser

Vergötterte Vorbilder nimmt Bernhard besonders gerne ins Visier, zerstören sie doch das Selbstbewusstsein, die Eigenständigkeit, für ihn als Schriftsteller vor allem jede sprachliche und gedankliche Originalität des denkenden Individuums. Ebenso radikal, wenn nicht sogar noch unerbittlicher kämpft er gegen die „natürlichen Vorbilder“ und „Vorgesetzten“ an, die Eltern. Die kurzen Erzählungen „Montaigne“ und „Wiedersehen“ rechnen bitter-komisch mit den Erziehungsidealen von Vätern wie Müttern ab. Gäben sie ihren Kindern doch ständig die Schuld an ihrem verpfuschten Leben und verpfuschten so das Leben ihrer Nachkommen.

„Alles Persönliche schalteten sie wenn nicht von vornherein, so doch nach der kürzesten Zeit aus, so empfanden wir unser Elternhaus immer als ein totes“, heißt es in „Wiedersehen“. Im Elternhaus kann es nach Bernhard keine Freiheit, sondern nur Zwang, Unruhe und geistige Einöde geben. Wer daran nicht zerbrechen will, muss fliehen. Entweder in die Welt der Philosophen oder die Welt der Dichter. So wie es Bernhard mit Leid und Leidenschaft lebenslang versucht hat. In der letzten Erzählung, „In Flammen aufgegangen. Reisebericht an einen einstigen Freund“, bleibt ihm bei der Flucht vor Gott, der Menschheit und seiner Heimat nur die Abkapselung: „So habe ich mich … längst zurückgezogen gänzlich auf mich.“ Die vier Erzählungen, sein gesamtes Oeuvre und seine Biografie zeugen von dieser lebenslangen Flucht. Bernhard hat das Schreiben vielleicht seelische Linderung verschafft, seinen Lesern in jedem Fall skeptische Einsichten über seinen Tod hinaus.

Jörg von Bilavsky

Thomas Bernhard: Goethe schtirbt. Erzählungen. 98 Seiten. Berlin: Suhrkamp Verlag 2010. 14,90 Euro. Zu einem Portal über Thomas Bernhard.

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