Geschrieben am 18. April 2005 von für Bücher, Litmag

T.C. Boyle: Dr. Sex

Pralles Leben

In seinem neuen Roman, der in das puritanische Amerika der 30er – 50er Jahre und die bahnbrechenden Sexforschungen von Alfred Kinsey führt, erweist sich T.C. Boyle einmal mehr als meisterhafter, süffiger Erzähler.

Sex war im puritanischen Amerika der 30er bis 50er Jahre das große Tabuthema. Kaum wagte jemand, dieses Wort überhaupt nur auszusprechen und für bestimmte Sexualpraktiken wie Oralverkehr drohten sogar lange Haftstrafen. In diesem Klima der Verklemmungen, Gerüchte und Unwissenheit schlugen die Forschungen des Zoologen Alfred Kinsey und seine Bücher über das sexuelle Erleben des Mannes und der Frau wie eine Bombe ein.

Reformer und Pionier des Sex

In seinem neuen großen Roman widmet sich T.C. Boyle diesem bahnbrechenden „Reformer und Pionier des Sex … diesem Prediger und Magier“, der Sex von Liebe und Forschung von Gefühl strikt zu trennen suchte. Erzählt wird die Geschichte anhand eines fiktiven Assistenten von Kinsey. Aus der Ich-Perspektive erinnert sich John Milk nach dem frühen Tod Kinseys an den Verlauf dieses wagemutigen Forschungs-Projektes, das im Jahre 1939 mit so genannten „Ehekursen“ an der Universität von Indiana begann: „Die ganze Uni sprach von nichts anderem“ und „alle warteten darauf schockiert zu werden“.
Professor Kinsey wird für John Milk zu einer Art Ersatzvater, zu dem er ehrfürchtig und kritiklos hochschaut. Gemeinsam mit ihm und später weiteren Assistenten zeichnet er in persönlichen Interviews Tausende von Sexgeschichten im ganzen Lande auf. Doch es bleibt nicht bei der distanzierten Forschung und Sammlung von statistischem Material: Kinsey „predigte die sexuelle Befreiung des Mannes und der Frau, und er lebte, was er propagierte“. So erlebt John seine Entjungferung mit Kinseys Frau Mac und beginnt homosexuelle Beziehungen mit diesem selber. Schwierig wird die Situation, als John Iris kennen lernt und bald heiratet – entgegen aller Ideale prallen Wissenschaft und Objektivität vehement mit Liebe und Eifersucht zusammen und bedrohen die familiäre Existenz.

Gegensatz von Leib und Seele

Seit seinen Anfängen als Schriftsteller, so T.C. Boyle in einem Interview, „war ich fasziniert von dem Gegensatz zwischen unserem animalischen Wesen und unserem Geist“. Mit sicherem Gespür für die Verwerfungen und unaufhebbaren Widersprüche umkreist er genau diese dramatische Scheidelinie nun in „Dr. Sex“. Kinsey tritt dabei als ebenso charismatischer wie fanatischen und autokratischen Wissenschaftler auf, der den leicht naiven und beeinflussbaren John Milk zuweilen skrupellos für seine Zwecke einspannt.

T.C. Boyle erweist sich in „Dr. Sex“ wieder einmal als ein meisterhafter Erzähler, der seine Figuren, Dialoge und Situationen feinfühlig entwickelt und ihnen dabei pralles Leben einhaucht. Wieder einmal gelingt es ihm auf das wunderbarste, eine historische Figur und ihre Zeit atmosphärisch dicht und trotz des brisanten Themas ohne Effekthascherei zu porträtieren. Seine Prosa ist dabei ein unwiderstehlicher, sinnlich-sämiger Strom, der den Leser mühelos über die fast 500 Seiten trägt und ihn sich schon jetzt wieder auf das nächste Boyle-Werk freuen lässt.

Karsten Herrmann

T.C. Boyle: Dr. Sex. Aus dem Amerikanischen von Dirk von Gunsteren. Hanser. Gebunden. 470 S. 24,90 Euro. ISBN 3-446-20566-7