Porträts aus einem “Totenhaus”
– Swetlana Alexijewitschs Berichte vom “Leben auf den Trümmern des Sozialismus”. Von Wolfram Schütte
Fjodor Dostojewski, der über seinen Aufenthalt als politischer Gefangener in einem sibirischen Straflager “Aus einem Totenhaus” geschrieben hat, soll damit sogar den Zaren zu Tränen gerührt haben. Und seine abgründige Parabel des “Großinquisitors” aus den “Brüdern Karamasoff“ ist wohl die unheimlichste Vorahnung der sowjetrussischen Geschichte im 20. Jahrhundert.
Wenn in der heutigen russischen Literatur jemand die bewegende Empathie des Autors von u.a. “Der Idiot” in seinem Oeuvre fortsetzt, dann die 1948 in der Ukraine geborene, heute in Weißrussland lebende & dort ungedruckte (weil als Autorin verbotene) Swetlana Alexijewitsch.
Ihre Bücher seien in mehr als 30 Sprachen übersetzt worden, teilt ihr deutscher Verlag mit. Sie hat 1998 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung & 2013 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten.
“Aus einem Totenhaus”: – dieser Titel könnte über allen Büchern Swetlana Alexijewitschs stehen, in denen es z.B. um die russischen Soldaten des mörderischen Afghanistankriegs oder die Helfer-Opfer der Atomkatastrophe von Tschernobyl geht. Auch ihr jüngstes Buch fällt unter dieses düstere Diktum. “Secondhand-Zeit” nennt sie Leben & Sterben “auf den Trümmern des Sozialismus”.
Sie nimmt den missglückten kommunistischen Putsch gegen Gorbatschow & die Machtübernahme Jelzins (1991) als Scheitelpunkt, an dem das kommunistische Imperium der “Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken” zugrunde ging & der (Raubtier-) Kapitalismus der rabiaten Bereicherung einzelner Oligarchen & die Verarmung weiter Bevölkerungskreise dort Einzug hielt & die UdSSR zerfiel.
Mit dem Dostojewski des “Totenhauses” verbindet Alexijewitsch die Mitempfindung für die namenlosen Opfer, vornehmlich die “Armen Leute” der großen politisch-gesellschaftlichen Zustände während des kommunistischen Regimes des Stalinismus & deren radikalen Veränderungen nach dem Ende des realen Sozialismus & seiner kommunistischen Utopie.
Es ist die buchstäblich religiöse Gläubigkeit an die kommunistische Zukunft, der die Autorin immer wieder vor allem bei jener Generation begegnet, die unter unendlichen Strapazen & persönlichen Opfern den “Sozialismus in einem Land” (als leuchtendes Vorbild für die ganze restliche Welt) aufgebaut & im 2. Weltkrieg gegen den gefährlichen Überfall des faschistischen Deutschlands verteidigt hat – immer im dunklen Schatten der stalinistischen Willkürherrschaft, des jedermann drohenden Gulags oder der beiläufigen Ermordung im Zuge einer der vielfachen “Säuberungen” u.ä,.
Diese kollektive individuelle Leidenserfahrung (& deren Verdrängung, bzw. Überhöhung durch eine durch nichts erschütterbare altruistische Parteigläubigkeit) einerseits – oder andererseits ein gelebtes Leben im “Als ob” der für normal gehaltenen gesamtgesellschaftlichen Lüge hat gewissermaßen zwei kollektive Menschentypen generiert: den unbeirrbar humanistisch gesonnenen Kommunisten wie auch den anpassungswilligen “homo sovieticus”.
Oft sind die Übergänge von einem zum anderen im Laufe der Jahrzehnte fließend, die Haltungen changierend. Unter der seit dem Zarismus währenden autoritär-diktatorischen Gesellschaft entwickelten sich diese kollektiven Verhaltensweisen zwischen äußerstem Idealismus & untertänigstem Opportunismus, wie es sie nirgends sonst auf der Welt gibt. Auch die emotionale Haushaltung in dieser russischen Gesellschaft unterscheidet sich auffällig von unseren katholisch/protestantischen in Mittel-& Westeuropa.
Schwer zu sagen, ob sich da “nur” die Exaltationen der “slawischen Seele” fortsetzen, wie wir sie literarisch aus Dostojewskis Romanen kennen, oder die Innenspannung der ununterbrochenen diktatorischen Gesellschaft jene charakteristischen Phänomene hervortreibt, die uns in den Bildern weinender Männer oder fanatisch ihre Söhne liebenden Mütter irritierend (gerade auch in den Porträts Swetlana Alexijewitschs) vor Augen treten. Auch trifft sie immer wieder auf jene absurden Menschen, die noch im Gulag an die Partei und Stalin glauben – als sei der biblische Hiob gewissermaßen “der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender” der SU & nicht Prometheus, wie der junge Marx behauptete.
Ebenso unheimlich sind jene NKWD- & Gulag-Täter, die bedingungslos “funktionierten”, also “ihrer Arbeit” nachgingen, als sei es das Natürlichste von der Welt, alltäglich massenmörderisch Tausende von dazu erklärten “Volksfeinden” zu erschießen – und sich dabei noch als “Heilige” zu fühlen & ein “ganz normales Leben zu führen” (Wir kennen diesen deutschen Menschentypus aus der Täterschaft der KZs.)
Das Mäandrieren der individuellen Erinnerungen
Das postsozialistische Leben & Sterben in der “Secondhandzeit”, wie Alexijewitsch die noch andauernde Epoche nennt, wird von ihr so umfassend, vielgestaltig & detailliert beschworen, als gelte es – wie Spielbergs Aussagen von Shoa-Überlebenden archiviert – die ganze Bandbreite charakterlicher Tiefenwirkungen im “Sowok” zu dokumentieren. So nannte sich der sowjetische Bürger selbst, wenn er den “Homo sovieticus” (Sinowjew) meinte.
Wo Spielberg mit Kamera, Mikrophon & Tonbandgerät die Erinnerungen seiner Zeitzeugen aufzeichnet, arbeitet Alexijewitsch nur mit einem Aufnahmegerät, das ihr “Echolot“ (Kempowski) ist, mit dem sie tief in die Psyche ihrer Zeit- & Selbst-Zeugen dringt. Manchmal hat sie lange gebraucht, bis sie ihre Gesprächspartner für sich gewinnen konnte, wie sie gelegentlich bemerkt; manchmal hat sie auch die Spuren ihrer Recherche erwähnt & bewusst erhalten, indem sie winzige Bemerkungen (z.B. lacht, nachdenklich, wendet sich ab, weint etc.) in Kursivsatz einstreut, um die jeweilige Gesprächssituation plastischer, bzw. ein wenig visueller zu gestalten.
Hauptsächlich aber ist sie so verfahren wie Gabriele Göttle von der TAZ, die aus ihren Interviews große, lange Monologe oder fingierte Selbstgespräche ihrer Gesprächspartner formt. Das war auch die bevorzugte Darstellungsart Swetlana Alexijewitschs von Anfang an: das unvorhersehbare Mäandrieren der individuellen Erinnerungen, der biographischen Wechselfälle, der privaten & öffentlichen Erfahrungen. Eine Folge von dichten (Lebens-) Protokollen, literarisch fingierte Selbstdarstellungen, zu einer Sprach-, nein: zu einer Sprecher-Galerie aufgereiht, an der man als Leser gewissermaßen vorbeiflaniert. Es soll nicht verschwiegen werden, dass dieser Folge von fingierten Selbstporträts auch eine gewisse ästhetische Monotonie eigen ist.
Öfters sind auch aus Alexijewitschs früheren Büchern Hörspiele gemacht worden; und sie hat diese akustischen Weiterungen in ihre jüngste Arbeit nun selbst literarisch aufgenommen. Ein-, zweimal greift sie z.B. weiter aus: dem “einsamen roten Marschall“ Achromejew, der sich nach dem vereitelten dreitägigen Putschversuch gegen Gorbatschow 1991 an einem Heizkörper in seinem Dienstzimmer erhängte. Sie widmet ihm eine Art Requiem, das aus Stimmen von befragten Passanten auf dem Roten Platz besteht. Sie umrahmen längere Zitate aus Gesprächen, Interviews, Notizen Achromejews, aber auch die Ermittlungsakte & ein einlässliches Gespräch, das die Autorin mit einem anonymen Kenner des Kremls über den offenbar ehrenwerten, verzweifelten Militär geführt hatte.
Dieser Collage aus dem innersten Zirkel des politischen Machtbereichs steht eine zweite, ebenso menschlich bewegende Erinnerung an den bis heute rätselhaften Selbstmord eines Vierzehnjährigen zur Seite. Sie wird aus den Erzählungen der Mutter & seiner Freunde als leuchtendes Memorial eines jungen Poeten in verzweiflungsvoller Zeit montagehaft heraufbeschworen.
Neben solchen, gewissermaßen zu “Hörstücken” ausgearbeiteten Porträts gibt es aber auch in dem Buch mehrere Passagen, bei denen Alexijewitsch sozusagen “freischwebend” nur einzelne Sätze, Bemerkungen oder Zitate aus populären Liedern & Gedichten versammelt, die keiner Person zugeschrieben sind: ein kollektives Flüstern & Fluchen als stetiges Hintergrundgeräusch bei diesem journalistisch-literarischen Verfahren, alle Beteiligte jeweils zu (ihrem) Wort kommen zu lassen. Swetlana Alexijewitsch ist eine großartige Epikerin, die uns mit allen ihren Büchern ein grandioses Panorama auf das katastrophale Schlachtfeld eröffnet hat, das als ruinöse Trauer-Landschaft von dem “realexistierenden Sozialismus” der UdSSR nun übrig geblieben ist. Sie erspart uns auch nicht, im Blick auf ihre menschlichen Funde, aber uns selbst ein Urteil über alle diese Menschen & ihre deprimierenden Lebensgeschichten zu bilden. Denn bei aller Empathie für die Tragik ihrer Eltern-Generation, deren Lebensende durch das unwiderrufliche Ende der UdSSR & die Enttäuschungen nach der Wende zum Kapitalismus verbittert wurde, setzt die Epikerin auf die ungewisse, nicht absehbare Zukunft. Nostalgie ist ihr fremd, so wenig sie auch ihre Augen vor dem realen Elend ihrer Zeitzeugen verschließt.
Wolfram Schütte
Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Hanser, Berlin 2013. 570 Seiten. 27.90 Euro.