Geschrieben am 12. März 2011 von für Bücher, Crimemag

Stuart Neville: Die Schatten von Belfast

Weinende Kerle

– Ein Killer wird von seinen Opfern heimgesucht. Sie wollen, dass er seine Auftraggeber umbringt. Und das alles vor einer IRA-Kulisse. Prima Idee! Erst mal. Von Henrike Heiland.

Gerry Fegan tötete für die IRA, damals, als es in Belfast auf den Straßen noch brannte und sich Protestanten und Katholiken gegenseitig abmurksten. Dann saß er einige Jahre im berüchtigten Maze Prison. Nun ist es 2007, Belfast ist ganz anders und er schon wieder ein paar Jahre draußen. Es gibt viele Gründe, warum er das Trinken angefangen hat: weil ihm seine Mutter nie verziehen hat, weil er sich im Gefängnis verändert hat, weil sich die Welt da draußen verändert hat. Aber hauptsächlich, weil er die Geister derjenigen sieht, die er auf dem Gewissen hat. Diese Geister – oder Schatten – lassen ihn nicht schlafen. Sie quälen ihn rund um die Uhr. Und dann, eines Tages, verraten sie ihm, wie er sie loswird: Indem er diejenigen tötet, die ihren Tod zu verantworten haben. Gerry hatte ja keine persönlichen Motive. Gerry handelte im Auftrag oder beendete, was andere angefangen hatten.

Dann gibt es Gerrys Gegenspieler, Campbell, einen Schotten, der für die irische Sache mitkämpft, aber eigentlich ein Spion der Briten ist. Nachdem Gerry zwei Leute aus den eigenen Reihen erledigt hat, um ein paar seiner Geister zu vertreiben, spricht sich – trotz anderslautender offizieller Version und vorbildlicher Spurenbeseitigung – schnell herum, dass er dahintersteckt. Campbell erhält gleich von beiden Seiten den Auftrag, Gerry aus dem Weg zu räumen, bevor dieser vollkommen die Kontrolle verliert. Natürlich riecht Gerry irgendwann den Braten, doch da hat er sich leider gerade in Marie verliebt, die an sich schon ein Politikum ist, weil sie einerseits die Nichte eines wichtigen IRA-Mannes war (den Gerry nun auch noch umgebracht hat), andererseits aber vor Jahren mal einen Polizisten geheiratet hatte. Marie und deren Tochter werden ebenfalls bedroht, nicht zuletzt, um Gerry damit unter Druck zu setzen.

Bombenbauer und Politiker

In „Die Schatten von Belfast“ wird eindringlich gezeigt, wie sich die politische Lage seit dem Waffenstillstand verändert hat, aber auch, wie sich die IRA verändert hat. Noch immer wird gekämpft, nur sind die Waffen andere. Die Bombenbauer von einst machen Politik, andere operieren weiter im Verborgenen. Die Briten kaufen Politiker und schleusen Spione ein, um die Untergrundaktivitäten zu kontrollieren. Es geht längst nicht mehr um die Sache von einst, sondern um Geld und Macht. Das System hat mafiöse Strukturen angenommen. Und da die Kämpfer dieser Sache langsam wegsterben, da den jüngeren Generationen eben diese Sache von einst nicht mehr so wichtig ist, da sie nicht wissen, wie es ist, wenn die Straßen brennen, sollen Leute wie Campbell in den Ruhestand geschickt werden. Campbell aber ist aufs Töten trainiert, für ihn ist längst das todbringende Lügen- und Versteckspiel zur einzig lebenswerten Realität geworden, wie auch die Schatten für Gerry Teil seines Lebens sind.

Bleibt noch anzumerken, dass der Autor keine Organisation und keine Partei nennt, aber es ist klar, dass es um die IRA, ihre Splittergruppen und die Partei Sinn Féin geht.

An sich ist das alles eine wirklich gute Ausgangssituation für einen Thriller: Von Anfang an steht fest, wie viele Menschen mindestens sterben müssen. Man hat sogar Sympathie für den Killer. Es gibt einen Gegenspieler und damit einen Wettlauf gegen die Zeit. Und es gibt eine Motivation, die die Frage aufwirft, ob „Auge um Auge“ wirklich funktioniert, und wenn ja, für wen; ob sich ein Mörder durch Mord von seiner Schuld befreien kann. Dazu noch der politische Hintergrund, kritisch aufbereitet. Sehr schön. Da jubelt die Kritik, klar.

Mängel, Mängel …

Weniger zu bejubeln sind aber deutliche Mängel, die das Buch aufweist. Bei allem guten Willen wäre es  auch schön, wenn das Handwerk stimmt. Also die Umsetzung. Da nervt leider so einiges.

Zu allererst: Selten hat man auf über 400 Seiten so oft so viele Männer weinen sehen. Weinende Männer an sich sind prima, allerdings nicht in der Häufung. Und die Momente sollten stimmen, mindestens zu den Figuren passen. Campbell zum Beispiel bricht in Gerrys Wohnung ein und findet einen Brief, den dieser aus dem Gefängnis an seine sterbende Mutter geschrieben und ungeöffnet zurückbekommen hat. Campbell reißt ihn auf und – Achtung – weint vor Rührung, als er die flehenden Worte des um Gnade bettelnden Sohnes liest. Im Englischen gibt es ein schönes Wort dafür, es heißt soppy. Und ach, es wird noch viel öfter geweint, vor Angst geschlottert und mit den Zähnen geklappert. Da schickt der Autor eisenharte Jungs in den Ring, und dann passiert sowas? Soll das vielleicht ein Zeichen dafür sein, dass wir es mit, wie sagt man gleich, „psychologisch vielschichtigen Figuren“ zu tun haben? Die Wechsel von eiskalt zu vor Rührung zerfließend sind allerdings brachial, psychologisch nicht motiviert und führen dazu, dass stattdessen das Urteil „holzschnittartige Figurenzeichnung“ zu Recht fallen mag. Und die Nebenfiguren brillieren durchweg als langweilige Statisten aus der Klischeeabteilung, die dann aber, je nachdem, wo sie gerade in der Gegend herumstehen, auch schon mal praktische Aufgaben übernehmen, ob sie nun zu ihnen passen oder nicht. Das wirkt wie Schachfigurenherumgeschiebe ohne Sinn und Verstand, da verschenkt der Autor eine Menge. Er selbst spricht von „Archetypen“, als rechtfertige das diesen Mangel.

Stuart Neville

Stuart Neville

Auch fällt die Sprache gerne etwas blumig aus für einen Thriller. Dramatisch soll sie wohl sein und ist es möglicherweise auch, aber das Original ist gerade nicht zur Hand. Im Deutschen wird beispielsweise „verdammt und zugenäht“ geflucht, Dinge machen jemandem „nicht die Bohne aus“, die Leute „poltern“ und „glucksen“, aber na gut, Geschmacksache, passt vielleicht zu den vielen weinenden Männern. Wo wir aber gerade von der deutschen Übersetzung reden: Da sind schon arg viele Fehler drin, also solche, die spätestens das Korrektorat hätte rausfischen müssen. Mal abgesehen davon, dass Figuren Eddie oder Eddy heißen, Coyle oder Doyle, dass Satzzeichen durcheinanderpurzeln und sich die Grammatik sträubt, fühlt sich der aufmerksame Leser am Ende so, als stünden auf jeder Seite mindestens drei grobe Tippfehler, und das ist ein bisschen arg. Normalerweise zahlen die Leser, wenn sie nicht gerade lästige Rezensionen schreiben, viel Geld für so einen Hardcoverschinken. (Vielleicht aber war der einzige echte Fehler bei der vorliegenden Ausgabe, dass der Aufdruck „unkorrigiertes Leseexemplar“ gefehlt hat, wer weiß.) Aber gut, gut, Petitessen, da kann ja der Autor nichts für.

Sehr wohl kann er aber was für die Idee, dass seine Schattenfiguren als Zeichen dafür, dass Gerry jemanden aus dem Weg räumen soll, die Finger zu Pistolen formen und sie den entsprechenden Herrschaften an den Kopf halten. Das ist ein bisschen billig, da möchte man gleich beim ersten dergestalten Auftritt vor Schmerz winseln. Und das Ende, man darf es ja nicht verraten, aber das Ende, puh. Also, ein gutes Ende kann ja so einiges ausbügeln, aber dieses Ende – hatte da Katie Fforde die Finger im Spiel? Möglich, dass sich der Autor gedacht hat, er wird jetzt mal so richtig symbolisch und was nicht alles, aber sowas kann danebengehen, und dann tut es weh.

Nicht alles ist schlecht …

Es ist natürlich nicht alles schlecht. Das Interessante an dem Buch, außer dem eingangs Erwähnten, ist das übersinnliche Element: Gerry und die Toten. Die Schatten wissen mehr als er und lassen sich somit nicht mehr nur psychologisch wegerklären. Ganz am Ende gibt es außerdem noch weitere Personen, die die Schatten sehen können. Und es finden sich Hinweise darauf, dass Gerry schon immer einen Draht zu den Toten hatte. Ein einleuchtendes System, aus dem sich das Übersinnliche erklärt, wird nicht angeboten und ist auch nicht wirklich zu erkennen, aber das muss vielleicht auch gar nicht immer sein. Es gibt dem Ganzen in diesem konkreten Fall aber ein wenig den Eindruck des Unfertigen, des Undurchdachten, des „Was nicht passt, wird passend gemacht“.

Und besonders zum Ende hin verliert der Autor die guten Ideen vom Anfang aus den Augen. Es wird nur noch gejagt, gemetzelt, geblutet und – ja, geweint.

Was sagt man da zum Schluss? Wenn die Figuren nicht überzeugen können, die Sprache strauchelt und die Story in Bedeutungslosigkeit versackt? Schade um die gute Idee, was hätte man alles daraus machen können. Nordirland hat einen guten Roman verdient, der sich mit der jüngeren Geschichte auseinandersetzt. Aber dieser ist es noch nicht so recht.

Henrike Heiland

Stuart Neville: Die Schatten von Belfast. (Twelve, 2009). Thriller. Deutsch von Armin Gontermann. Berlin: Rütten & Loening 2011. 440 Seiten. 19,95 Euro.
Verlagsinformationen zum Buch
Der Buchtrailer, deutsch
Der Buchtrailer, USA
Craig Ferguson lobt das Buch in seiner Show
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