Geschrieben am 5. September 2015 von für Bücher, Litmag

Streifzug: Ulrich Nollers Bestseller-Check

Modick_KonzertVon Männer und Frauen – Geschichten aus Norddeutschland und der Welt

Ulrich Noller wirft einen Blick in aktuelle Bestseller, diesmal in Bücher von Klaus Modick, Ralf Rothmann, Reinhold Messner und Harper Lee.

Ein erstaunlicher Erfolgstrend auf dem Buchmarkt: Geschichten aus dem Norden haben im Moment besonders gute Chancen, in den Bestsellerlisten ganz nach oben zu kommen. Dörte Hansens Roman (mehr bei CM hier) hält sich seit Monaten ganz vorne, auch die Bücher von Klaus Modick oder Ralf Rothmann sind unter den Top 20 zu finden. „Konzert ohne Dichter“ heißt Klaus Modicks Geschichte, die aus der Geschichte Norddeutschlands erzählt. In diesem Text geht’s um die berühmte Künstlerkolonie Worpswede nahe Bremen. Klaus Modick macht die Vergangenheit um 1900 lebendig, indem er diverse Künstlerinnen und Künstler aufeinander treffen lässt. Und weil er die – wie etwa den Dichter Rainer Maria Rilke – auf Basis biographischer Tatsachen zum Teil als ziemlich schräge, egozentrische Charaktere beschreiben kann, ist diese historische Stippvisite unterhaltsam und informativ zugleich, ein Blick auf ein besonderes Stück europäischer Kulturgeschichte.

Rothmann_frühlingAuch Ralf Rothmann, geboren 1953, filtriert in seinem neuen Roman „Im Frühling sterben“ eine Geschichte aus der Geschichte – und zwar eine Wahnsinnsstory im wahrsten Sinn des Wortes: Fiete und Walter, zwei Jungs aus Norddeutschland, Melker-Lehrlinge, geraten in den letzten Kriegswochen eher ungewollt zur SS, werden getrennt und treffen im Chaos der Ostfront in Ungarn wieder aufeinander – der eine als Deserteur, der andere als Teils seines Erschießungskommandos. Dieser Roman, der einen faktischen Kern hat, ist packend, tragisch und brillant, ein drastisches Zeugnis der Apokalypse des zweiten Weltkriegs, dessen Folgen die Gesellschaft, auch das ja im Moment wieder ein Thema, nach wie vor prägen wie wenig anderes. Wenn man sich fragt, warum die Deutsche so sind, wie sie sind – in solchen Geschichten findet sich eine Antwort.

Messner_AbsturzIn unserem Nachbarland Schweiz spielt ein Roman, in dem keine Frauen(rollen) vorkommen – wann hat es das wohl zuletzt gegeben? Muss Ewigkeiten her sein, wenn nicht länger. Reinhold Messner, der Extrembergsteiger, schafft es in seinem Romandebüt – fast: Frauen spielen in dieser Geschichte keine Rolle, noch nicht einmal als Ehepartner oder Muttis, erst nach Seite 235 werden Frauen überhaupt erwähnt, kurz und knapp, per simpler Namensnennung. Erstaunlich. Und trotzdem ist der Dokumentarroman „Absturz des Himmels“, in dem Messner die Erstbesteigung des Matterhorns als europäischen Wettkampf beschreibt, lesenswert: Wegen der packenden Geschichte an sich, weil Messner viele (politische) Facetten neu ausleuchtet – und weil in seiner Zusammenfassung des altbekannten Stoffs immer auch ein Stück Messner mitschwingt, die eigene Erfahrung als Extremsportler also, der Dutzende Male – wie die frühen Matterhorn-Besteiger – gerade eben noch dem Tod von der Schippe sprang.

Gehe hin stelle einen Waechter von Harper Lee

Gehe hin stelle einen Waechter von Harper Lee

Gut, dass es auch ganz anders geht. Das Geldverdienen. Das Tänzeln auf dem Grat. Und das Schreiben über den Umgang mit brandheißen Themen in den USA. Wobei: So ganz taufrisch ist „Gehe hin, stelle einen Wächter“ nicht; genau genommen entstand der Roman von Harper Lee schon in den 1950er Jahren, das Manuskript wurde kürzlich wieder entdeckt, erstveröffentlicht und stürmt jetzt weltweit die Büchercharts. Harper Lee, geboren 1926, ist eine der Größen der amerikanischen Literatur, ihr Debütroman „Wer die Nachtigall stört“ (als Neuausgabe ebenfalls auf der Bestsellerliste), erschienen 1960, war ein derartiger Welterfolg, dass sie danach nichts mehr veröffentlichte. Man kann es also durchaus als sensationell erachten, wenn von dieser Autorin 55 Jahre später doch noch ein Buch kommt – und wenn dieses Buch auch noch derartig lesenswert ist.

U1_978-3-498-03808-3.inddWie auch „Wer die Nachtigall stört“, ist „Gehe hin, stelle einen Wächter“ deutlich autobiographisch unterfüttert, und hier wie dort geht es ums Verhältnis von Schwarzen und Weißen während der Zeit der aufkommenden Bürgerrechtsbewegung in den konservativen Südstaaten. Und die Parallelen kommen nicht von ungefähr, der jetzt entdeckte Roman ist eine Ursprungsversion des längst bekannten Klassikers, allerdings ganz anders angelegt: Jean Louise Finch, die Heldin auch aus „Wer die Nachtigall stört“, kehrt anfangs aus New York zurück nach Alabama – und muss feststellen, dass alle, die ihr lieb sind, sich in Bürgerräten organisiert haben, um sich gegen die Bürgerrechtler und ihre Bewegung zu „wehren“, und sie gerät zwischen die Fronten in einem Krieg, der in den Metropolen, speziell in New York, längst ausgefochten scheint. Ein Krieg zwischen Weiß und Schwarz, in dem alle nur verlieren können, auch die junge aufgeklärte Frau aus der Stadt – die letztlich von ihrer geliebten Heimat Abschied nehmen muss und damit von ihrer Zukunft. Ein Roman, der damals wohl zu viel Sprengkraft hatte, um so wie nun vorliegend veröffentlicht zu werden, er präsentiert eine elegant und glänzend geschriebene Geschichte – und eine, die sich auch aus heutiger Sicht noch auf eine hellsichtige Weise zeitgenössisch liest.

Ulrich Noller

Klaus Modick: Konzert ohne Dichter. Gebunden. Kiepenheuer & Witsch. 240 Seiten. 17,99 Euro.
Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Roman. Gebunden. Suhrkamp 2015. 234 Seiten. 19,95 Euro.Reinhold Messner: Absturz des Himmels. Roman. Gebunden. Fischer 2015. 288 Seiten. 19,99 Euro.
Harper Lee: Gehe hin, stelle einen Wächter. Roman. Übersetzt von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann Gebunden. DVA 2015. 320 Seiten. 19,99 Euro.
Harper Lee: Wer die Nachtigall stört. Gebunden. Neuausgabe. Übersetzt von Claire Malignon. Rowohlt 2015. 464 Seiten. 19,95 Euro.

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