Der neue John Updike
Natürlich, ein Rezensent muss ein Buch aufmerksam zu Ende gelesen haben, bevor er darüber schreibt! Wirklich? Wir denken nein: Manchmal reichen auch die ersten Seiten. Stefan Beuse nährst sich Stewart O’Nans Roman Alle, alle lieben dich – ganz ohne ihn gelesen zu haben.
Alle, alle lieben dich. Was für ein wundervoller Titel. Man sieht gleich die Mutter oder Großmutter vor sich, wie sie mit ihren warmen, patschenden Händen beteuernd die eigene Hand umklammert, während sie das sagt: „Alle, alle lieben dich. Bitte komm zurück. Du fehlst uns so.“
Im Original heißt das Buch Songs for the Missing, und wenn schon immer alle – meist zu Recht – auf den vollkommen bekloppt übersetzten Titeln rumreiten, muss auch mal gesagt werden, dass dies ein vorbildlich interpretierter Titel ist; Übersetzer Thomas Gunkel und der Rowohlt Verlag seien gepriesen, andere nehmen sich bitte ein Beispiel.
Der Autor von Alle, alle lieben dich heißt übrigens Stewart O’Nan, und mittlerweile denkt man sofort: „Der neue John Updike“. Stewart O’Nan ist die ganz große Nummer. Einer, dem die Literaturkritik rund um den Globus in Text gegossene Denkmäler errichtet. Wer von ihm redet, hat automatisch ein ehrfurchtsvoll-sakrales Timbre in der Stimme.
Ich habe fünf Bücher von Stewart O’Nan im Regal stehen und kein einziges davon gelesen. Ich habe sie gekauft, weil der Klappentext interessant klang, vor allem aber, weil Stewart O’Nan diese Bücher geschrieben hatte. Es ist peinlich, nichts von Stewart O’Nan gelesen zu haben, genauso peinlich wie zuzugeben, Dostojewski, Thomas Mann oder Proust nie gelesen zu haben.
Die 20-Seiten-Regel
Ich erhoffte mir Erleuchtung durch die Lektüre seiner Bücher, habe aber nie mehr als zwanzig Seiten geschafft. Es gibt keine glaubhafte Erklärung dafür. Die Bücher waren weder uninteressant noch schlecht geschrieben. Ich habe mir nur irgendwann gesagt: Wenn dich ein Buch auf Seite 20 nicht richtig gekriegt hat, schafft es das auf Seite 462 auch nicht mehr. Das mag vermessen klingen, ist aber das Ergebnis einer langjährigen empirischen Studie.
Meine Frau hat alle Bücher von Stewart O’Nan gelesen, von der ersten bis zur letzten Seite, und wenn ich sie nachher gefragt habe, wie das Buch war, hat sie immer gesagt „ganz gut“. Letzte Woche haben wir die Verfilmung von Engel im Schnee gesehen, O’Nan’s erstem Roman. Meine Frau konnte sich nach dem Film nicht daran erinnern, das Buch jemals gelesen zu haben. Obwohl sich der Film angeblich eng an die Vorlage hält.
Oh! Jetzt ist sie weg!
Alle, alle lieben dich hat sie mir mit dem Aufschrei „Oh! Stewart O’Nan!“ sofort aus der Hand gerissen; sie hat den Rückseitentext überflogen, ihre aktuelle Lektüre unterbrochen und mir wortlos mein Rezensionsexemplar entzogen.
Vierzig Minuten später hat sie zum ersten Mal wieder was gesagt. Sie sagte: „Oh, jetzt ist sie weg!“ In dem Buch geht es um ein Mädchen, das in einer Kleinstadt lebt und in seinem letzten Sommer vor dem College einfach verschwindet. Das heißt: Eigentlich geht es um die Kleinstadt. Wie das Umfeld des Mädchens auf sein Verschwinden reagiert. Wie das Warten und Suchen alle zermürbt. Wie die heile Kleinstadtfassade feine Risse bekommt und durch das fehlende Zentrum alles aus den Fugen gerät.
Das zumindest habe ich mir so zusammengereimt, während meine Frau das Buch und ich die hymnischen Rezensionen über und die sympathischen Portraits von Stewart O’Nan gelesen habe. Ich habe so oft „Das einfühlsame Psychogramm einer Kleinstadt“ und „hochsensibler Beobachter des Alltäglichen“ gelesen, bis ich nicht mehr wusste, ob das im Klappentext stand, in den Rezensionen, oder ob ich das selbst im Kopf bereits formuliert hatte, noch immer ohne einen einzigen Satz gelesen zu haben.
Ein Schuss wie ein Strich
Aus dem leeren Zentrum – der abwesenden Hauptfigur – kann man tolle Sprachbilder zaubern, dachte ich. Irgendwas mit Vakuum und Implodieren und Sollbruchstellen der Gesellschaft. Und am Ende muss natürlich stehen, dass das Buch eigentlich gar kein Thriller ist wie vom Verlag angekündigt, sondern dass O’Nan, der alte Fuchs, der bescheidene Seismograph und grundsympathische Erfolgsautor, diese Thrillersache nur als Vehikel benutzt, um wieder mal etwas über die Lebenswirklichkeit in den Kleinstädten des Mittleren Westens …, und während ich das dachte, während ich solche Sätze in meinem Kopf wie Bausteine hin- und herschob, kam ich mir plötzlich vor wie beim Kickern: Die bloße Aktivierung des Programms „Fußballspiel“, vor allem aber der erhöhte Standpunkt, die fast dem Fernsehmaßstab entsprechende Draufsicht auf das Spielfeld, lässt mich automatisch Fußballkommentatorensätze sagen. „Ein Schuss wie ein Strich“ oder „Da packt er die linke Klebe aus und zimmert ein sattes Pfund unhaltbar neben den rechten Pfosten in die Maschen.“
Was ich damit sagen will: Vielleicht aktiviert ja allein das Programm „Rezension“ einen Kellerraum des Sprachzentrums, in dem nur Rezensentensätze enthalten sind, und bis der letzte Satz geschrieben ist, gleitet man immer wieder an den feuchten Wänden ab und findet den Ausgang nicht mehr.
Aber ich sollte das Buch wohl erstmal lesen, bevor ich mir solche Gedanken mache. Ganz frisch, mit unverbrauchtem Blick. Schließlich handelt es sich um den neuen John Updike.
„Und?“, frage ich, als meine Frau endlich durch ist, „wie war’s?“ – „Ganz gut“, sagt sie und löscht das Licht.
Ich fange an zu lesen. Auf Seite 20 denke ich: „Das seismographische Portrait einer Kleinstadt, solide erzählt und gut beobachtet.“ Vielleicht lese ich dieses Mal weiter.
Stefan Beuse
Stewart O’Nan: Alle, alle lieben Dich (Songs for the Missing, 2008).
Übersetzt von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag 2009. 410 Seiten. 19,90 Euro.