Geschrieben am 16. Oktober 2013 von für Bücher, Litmag

Steve Sem-Sandberg: Theres

Steve Sem-Sandberg_TheresDas Meinhof-Mosaik

– Judith Momo Henke über Steve Sem-Sandbergs Dokufiktion „Theres“.

Erst ist da nur ein „vager Grauton“ über einer Stadt, die zu Europas Industriezonen gehört „und auch wieder nicht“. Langsam hebt die Dämmerung die Details hervor, enthüllt Gebäude, Dachfirste mit Fernsehantennen, Bäume. Es riecht nach Braunkohle, Möwen kreischen, das Licht gewinnt an Stärke, „es ist, als presse es die Dunkelheit mit beiden Händen von sich“. Was wir sehen, ist „ein langer Straßenzug, gesäumt von Bushaltestellen und Straßenlaternen in geraden Reihen, als markierten sie die Linie zu einem ständig entgleitenden Fluchtpunkt; eine Ewigkeitsperpektive“. Kein Mensch ist zu sehen, dann plötzlich: das Rasseln von Schlüsseln, widerhallende Schritte und eine heisere Stimme („Los jetzt“), Türenschlagen. Und mit einem Mal befinden wir uns in der zum Gerichtssaal umfunktionierten Mehrzweckhalle auf dem Gelände des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim im Mai 1976, mitten im RAF-Prozess, und wir hören Ulrike Meinhof, wie sie den Richter als „verdammte faschistische Scheißnull“ bezeichnet.

Steve Sem-Sandbergs Roman „Theres“ (benannt nach dem von Gudrun Ensslin erdachten Tarnnamen Meinhofs) beginnt wie mit einem Sturz in die Vergangenheit aus großer Höhe. In der Vogelperspektive nähert man sich dieser Stadt, die gleichzeitig Jena (Ulrike Meinhofs Geburtsort) und Stuttgart (die Stadt, in der Meinhof starb) ist. Und wie Sem-Sandberg die beiden Städte übereinanderlegt, so legt er auch die Zeiten übereinander: der Prozess kurz vor Meinhofs Tod – Gerede, Gerüchte und Schlagzeilen kurz danach. Dieser Anfang ist programmatisch für den gesamten Roman und vielleicht die einzig angemessene Weise, literarisch über eine höchst umstrittene reale Person wie die Journalistin und RAF-Terroristin Ulrike Meinhof zu schreiben. Denn würde die Figur Meinhof nicht vom Gerüst der historischen Ereignisse zusammengehalten, sie müsste in einem Roman auseinanderbrechen in eine Vielzahl ungeklärter Motive und widersprüchlicher Wesenszüge. Tatsächlich war die fiktionalisierte Meinhof bislang oft genug blasse Nebenfigur zum schillernden Anführerpaar Andreas Baader und Gudrun Ensslin, oder sie wurde stark verfremdet, um sich auf anderer Ebene wieder an sie herantasten zu können (wie in Elfriede Jelineks Theaterstück „Ulrike Maria Stuart“).

Der Schwede Sem-Sandberg – in Deutschland durch den später entstandenen, aber früher übersetzten Holocaust-Roman „Die Elenden von Łódź“ bekannt geworden – bedient sich einer anderen Methode: Er sucht erst gar nicht nach den konsistenten Fäden, sondern zerlegt Meinhof in Scherben, deren Ränder nicht immer zusammenpassen und die zusammen nicht zwangsläufig ein Ganzes ergeben. Und obwohl auch er manche reale Gegebenheit verfremdet, kommt er damit der Meinhof, wie sie gewesen sein könnte, erstaunlich nahe. Die „Theres“ im Roman entspricht keinem der Bilder, die von ihr in der Öffentlichkeit kursieren, sie ist alles auf einmal und gleichzeitig nichts davon: ikonisierte RAF-Anführerin, schwache Verräterin, Rabenmutter, gefallene Intellektuelle, zur Gewalt Verführte. Sem-Sandberg nennt all die einseitigen Erklärungsversuche dafür, dass eine hochintelligente Publizistin sich einer Gruppe von Terroristen anschließt, vom frühen Verlust der Eltern bis hin zum persönlichkeitsverändernden Hirntumor. Aber die fragmentierte und bruchstückhafte Erzählweise verhindert jede Form von Monokausalität. Sem-Sandbergs Ulrike Meinhof ist ein komplexer Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen, Ängsten und Zweifeln, Idealen und Hoffnungen, Stärken und Schwächen, den er durchaus mit Empathie zeichnet, ohne ihn dabei zu verteidigen oder sein Handeln zu rechtfertigen.

Steve Sem-Sanberg by Bengt ObergerAufarbeitung historischer Traumata

Nach Wolfgang Kraushaar ist genau das Teil einer möglichen Aufarbeitung historischer Traumata: die „Entkoppelung und Abspaltung der Bilder von ihren tatsächlichen Ereigniszusammenhängen rückgängig zu machen und sie wieder in ihren ursprünglichen Kontext zu stellen“. Oder wie Sem-Sandberg an einer Stelle Gudrun Ensslin sagen lässt: „Worum es hier geht, ist doch, die Wirklichkeit in den Griff zu bekommen.“ Um den vereinfachten Darstellungen von Bildern und Schlagzeilen, der typischen RAF-Ikonografie, etwas anderes entgegenzusetzen, schöpft Sem-Sandberg die literarischen Möglichkeiten aus: Er springt in Zeit und Raum hin und her, beschreibt die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven, mal im sachlichen Berichtston des Bundeskriminalamts, mal emotional aus der Innensicht, mal als objektiver Beobachter. Und immer wieder: Fragen, tastende Vermutungen, Auflistungen möglicher Antworten. Verschiedene Schichten lagern sich so übereinander und ergeben ein komplexes und doch lückenhaftes Bild der Welt, das der Realität sehr viel näher ist als eine stringente Erzählung es sein könnte.

Dass dieses Mosaik dennoch sehr gut lesbar ist und einen Sog auf den Leser ausübt, ist einerseits dem stilistischen Können Sem-Sandbergs und der hervorragenden Übersetzung durch Gisela Kosubek zu verdanken. Andererseits liegt es daran, dass dieses gleichberechtigte Neben- und Durcheinander einen neuen und detaillierten Blick auf eine prägende Phase der deutschen Nachkriegsgeschichte ermöglicht und dass gerade in den Brüchen und Abweichungen (wie es war und wie es gewesen sein könnte) so etwas wie Erkenntnis durchscheint. An einer Stelle kommentiert der Erzähler Ulrike Meinhofs Vorwurf an das Gericht, die Anklagepunkte seien eine Lüge, folgendermaßen: „Lüge? – Ja, weil keine Beschreibung früherer Handlungen, so detailliert sie auch sein mag, der Wahrheit dessen, was geschah, vollkommen gerecht werden kann.“ Das Wort Lüge könnte man hier getrost durch Fiktion ersetzen.

Judith Momo Henke

Steve Sem-Sandberg: Theres (Theres, 1996). Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek. Klett-Cotta, Stuttgart 2012. 391 Seiten. 22,95 Euro (Hardcover), 17,99 Euro (E-Book). Foto: Bengt Oberger, Wikimedia Commons, Quelle.

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