Der Weg ins Freie
– Als der 1972 in Biedenkopf, also in der Oberhessischen Provinz geborene Stephan Thome seinen ersten Roman „Grenzgang“ 2010 veröffentlichte, war er schon 38 Jahre alt. Das literarische Debüt des studierten Philosophen, Religionswissenschaftlers & Sinologen, der ab 2005 (wohl als Akademiker) in Taipeh auf Taiwan arbeitete, kam für heutige Usancen spät. In diesem Alter hat mancher junge deutsche Autor schon numerisch ein umfängliches Œuvre aufzuweisen – freilich nicht eine solche Biografie, die Thome rund um den Globus in einen nicht gerade bekannten Ort gebracht hatte. Von Wolfram Schütte.
Ich stelle mir vor, der akademische Lektor Thome hat in Taipeh an sich entdeckt, dass ihn mehr befriedigt, ein belletristischer Erzähler zu werden, als ab Mitte Dreißig fortan eine universitäre Karriere einzuschlagen. Die frustrierenden Entwicklungen im Zuge der „Modulisierung“ des Studiums haben womöglich den Abschied Thomes von der Universität unterstützt.
Ich stelle mir weiter vor, dass der Akademiker, der zum Schriftsteller wurde, seine lebensentscheidende Wende zum reflektierten Gegenstand seines zweiten Romans machte.
Denn in „Fliehkräfte“ ist es der Philosophie-Professor Hartmut Hainbach, der mit Ende Fünfzig vor der Frage steht, ob er auf das Angebot eines Freundes eingehen soll, seine Emeritierung nicht abzuwarten & vorzeitig seinen akademischen Beruf aufzugeben und als Lektor in dem gerade von dem Freund gegründeten geisteswissenschaftlichen Verlag in Berlin zu arbeiten.
Die intime Vertrautheit des Autors mit dem beruflichen, intellektuellen & typologischen Milieu & den existenziellen Problemen, die ein solcher später Wechsel vom finanziell sicheren Port des Beamten zum vollen Risiko in einer neuen Tätigkeit als Angestellter für den eher als durchschnittlich, denn brillant gezeichneten Professor für Analytische Philosophie in Thomes Roman bedeuten würde, hat dem Buch gut getan. Es ist dadurch erfahrungssatt & dicht an seinem Stoff entlang geschrieben.
Da der Autor seinen Hartmut nicht nur in der Jetztzeit, in der er sich entscheiden muss, erzählerisch betrachtet, sondern in Hartmuts Biografie bis ins Jahr 1973 (& früher) zurückblättert, als der Student während seines amerikanischen Auslandsstudiums seine erste Liebe, die französische Studienkollegin Sandrine, kennen & lieben lernte; und weil er dann auch noch andere Lebens- & Berufsstationen in West- & Ost-Berlin (wo er auf seine spätere Frau, die Portugiesin Maria, trifft ) & Bonn (wo er seine Professur bekleidet, seine Tochter Philippa aufwächst & er ein Haus auf dem Venusberg besitzt), dient ihm Hartmuts Biografie & akademische Karriere als roter Faden, an dem sich entscheidende Teile der (vor allem west-)deutschen Nachkriegsgeschichte zwanglos ankristallisieren können. Das gibt den „Fliehkräften“ historische Tiefe & Breite.
Weil Hartmut Hainbach, der übrigens aus dem Oberhessischen stammt, wo seine Schwester Ruth noch lebt, bei den Gefährten seines bisherigen Lebens hilfreiche Orientierung zu finden hofft für seine Entscheidung, begibt er sich mit seinem Auto gewissermaßen auf eine Pilgerreise zu ihnen. Von Bonn, wo er mit einer geschiedenen Kollegin ein erfolgloses erotisches Techtelmechtel beginnt, fährt er nach Paris, wo Sandrine heute lebt. In der Nähe von Bayonne am Meer besucht er einen ehemaligen, schon lange ausgeschiedenen Unikollegen, der dort eine Bar & mit einer jüngeren Frau ein Alternativleben führt. Auf dem Weg nach Santiago di Compostella schließt sich ihm zeitweilig eine junge Holländerin an, die aus der prospektiven Ehe mit ihrem Freund geflohen war & doch zu ihm zurückkehrt.
In Santiago, wo seine Tochter Philippa studiert, erfährt er von ihr (was seine Frau schon lange weiß), dass sein Kind lesbisch ist & mit sei ner Lebensgefährtin dort an der Uni promovieren & Ökologisches lehren möchte. Mit Philippa fährt er, wie schon oft in den vergangenen Jahren, zu seinen Schwiegereltern aufs Land in Portugal & nach Lissabon zu seinem Schwager. Zuletzt fährt Hartmut allein nach Porto, wo er auf dem Flughafen seine Frau erwartet. Sie kommt aus Kopenhagen, wohin sie mit einer Berliner Schauspielertruppe zu einem Gastspiel gereist war.
Denn Maria arbeitet seit einiger Zeit als „Mädchen für alles“ in dem berühmten Ensemble, dessen berüchtigter Chef, der an den Theaterregisseur Frank Castorf erinnert, einmal vor Hartmut ihr Geliebter gewesen war. Die beiden Eheleute lieben sich offenbar immer noch, obwohl sie, seit Maria das provinzielle Bonn zugunsten des quirligen Berlins verlassen hatte, nur noch eine Wochenend-Ehe führen. Der angebotene Verlags-Job brächte Hartmut wieder in Marias Nähe, nachdem mit der lange erwarteten akademischen Berufung an eine Berliner Universität nicht mehr zu rechnen ist. Aber im Gespräch über ihre verfahrene Lebenssituation kommt keine Lösung in Sicht. Zwischen Bonn & Berlin, zwischen finanziell-versorgtem akademischem Verdämmern & riskant-prekärem Abenteuer als Verlagslektor bleibt eine Entscheidung in der Schwebe.
Während Maria am Strand zurückbleibt, begibt Hartmut sich ins nächtliche Meer. Das Wasser trägt ihn, nach einigen Zügen dreht er sich auf den Rücken, „stellt alle Bewegungen ein und folgt der sanften Strömung des Meeres. Vielleicht musste er dreitausend Kilometer fahren nur für diesen Moment. Um einmal in einem anderen Element zu treiben, ohne Ziel und ohne Angst. Endlich, denkt er. Streckt Arme und Beine aus und betrachtet den Mond. Die Fliehkräfte ruhen. Er schwimmt“.
Mit diesen zutiefst zweideutigen Worten endet der Roman. Thome vermeidet, den finalen Ausflug seines Hartmut, der sich bewegungslos von der Meeresströmung in die Nacht treiben lässt, mit der metaphorischen Bezeichnung zu benennen, die jeden Schwimmer für diese Haltung bekannt ist: „Toter Mann“. Es könnte nämlich auch die assoziative Andeutung eines Selbstmords sein. „Der Weg ins Freie“ nannte das Arthur Schnitzler.
Thome ist mit seinen „Fliehkräften“ jedenfalls ein großer Roman gelungen, der auf vielfache Weise „lesbar“ ist. Als Liebes- & Generationsroman, als Biografie eines deutschen Intellektuellen, dem sein Leben sowohl ge- als auch misslungen ist. Vor allem stehen dem Autor alle traditionellen epischen Mittel der „Beschwörung des Imperfekts“ (Th. Mann) so souverän zur Verfügung wie wenigen seiner jüngeren Kollegen & Kolleginnen.
Originell ist die Erzählstruktur einer unausgesprochenen „Pilgerreise“ entlang der eigenen Lebensstationen, wenn auch der Weg nach dem galizischen Santiago de Compostella etwas zu demonstrativ akzentuiert scheint. Aber der Weg dorthin, der in Hartmuts unterschiedliche Vergangenheiten führt & sowohl seine Biografie aufblättert als auch eine Galerie zeitgenössischer Lebensentwürfe am Beispiel der von ihm Aufgesuchten & Getroffenen multiperspektivisch ausfaltet, gleicht den Stationen einer Pilgerreise, die hier vollkommen in unterschiedliche Personenporträts & zeitgenössische Lebensentwürfe übersetzt wird & als mäandrierender Erzählfluss einen fesselt.
Diese klare, um nicht zu sagen perfekte kompositorische Struktur wird jedoch etwas überstrapaziert dadurch, dass ihr serielles Großmuster, das der Orts-& Personenwechsel sehr schön verschleiernd überspielt, dann doch im Kleinen mechanisch wird. Ich meine damit Stephan Thomes erzählerische Eigenart, innerhalb der vielfachen episodischen Rekapitulationen von Hartmuts Biografie immer wieder auf dieselbe Art & Weise (wie auf einer „Echternacher Springprozession“) sich erzähltechnisch vor- & zurück zu bewegen, wiewohl dadurch das Stationär-Kreiselnde der Lebenssituation, in der Hartmut nicht mehr weiter weiß, noch einmal episch Form wird. Vielleicht aber einmal zu viel.
Dennoch: In dem vierzigjährigen Stephan Thome, der hier die oft prekäre Klippe des „zweiten Buchs“ mit Bravour umschifft hat, haben wir einen neuen Autor, der uns sowohl ältere als auch jüngere Personen mit gleicher Plastizität & Lebendigkeit vor Augen stellen kann. Als veritabler Epiker von mehrdeutigen Situationen, sinnlich beschworenen Landschaften, der auch mit flüssigen Dialogen & zartesten Andeutungen seelischer Empfindungen & Gedanken umzugehen weiß, versteht er als Realist gewissermaßen sowohl als Kammermusiker zu spielen, wie auch mit dem großen Orchester erzählerischer Instrumentierung umzugehen.
Im Gegensatz zu dem vergleichbar ähnlich im Zeitgenössisch-Gesellschaftlichen operierenden doppelt so alten Martin Walser, mit dem der Oberhesse schon verglichen wurde, entlässt Stephan Thome seine Helden ohne jene seimige Sprachhaut, mit welcher der Meister vom Bodensee seine Personage als Kinder immer seinesgleichen Eloquenz in die literarische Welt schickt. Thome ist dagegen „trockener“, nicht so eloquent, sein Stil ist sachbezogener als der selbstgenießerische Martin Walsers – was aber Thomes erzählerische Kraft, sprachliche Beschwörungskunst & vor allem sein eminentes Formbewusstsein unter unseren jüngeren Autoren umso wertvoller macht.
Wolfram Schütte
Stephan Thome: Fliehkräfte. Roman. Berlin: Suhrkamp Verlag 2012. 474 Seiten. 22,95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch und Autor. Porträt: © Heike Steinweg; Quelle: Suhrkamp-Verlag.