Geschrieben am 13. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Stefan Sullivan: Sibirischer Schwindel

Go East

Der 1966 geborene Stephen Sullivan legt in seinen beiden Abenteuer-Novellen los wie die Feuerwehr und entzündet ein sprachgewaltiges Feuerwerk voller Witz, Trash und Philosophie.

„Go West“ hieß das Credo der hoffnungsvollen Siedler zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Nordamerika. „Go East“ könnte das Credo einer Generation heißen, die im Stillstand der Postmoderne aufgewachsen und von einem „vagen Gefühl der Rastlosigkeit“ und der „reizbaren Ungeduld“ zum Aufbruch getrieben wird.
Zwischen seinem Schulabschluss und dem Eintritt ins richtige Leben entschließt sich so auch der Ich-Erzähler in Stephen Sullivans beeindruckendem Prosa-Debüt für eine Reise in den wilden Osten, wo das (mystische) Abenteuer lockt. Über Paris und Moskau entflieht er der „Mineralwassermoral und Friedhofsruhe“ seiner Wohlstands-Welt, um in Jakutien spontan einen Film über den Schamanismus zu drehen. Sein unbekümmertes Motto lautet dabei: „Dilettantismus ist ein nützliches Mittel, Unbekanntes zu erobern.“

Voller Euphorie stürzt sich der Erzähler zusammen mit seinem Freund Valera – „ein liebenswerter Profiparasit, halb Bettelmönch, halb Salonratte“ – in sein Filmprojekt. In Jakutzk wird das Duo Infernale in der Hoffnung auf harte Dollars von einem hoch offiziösen Komitee aus ehemaligen Schönheitsköniginnen in Empfang genommen und durch ein strammes Programm geschleust – sie pendeln zwischen Kultus- und Wirtschaftsministerium, besuchen jakutische Regisseure, Diamantminenbesitzer, Künstler, Literaten und Einsiedler. Alles ist im Auf- und Umbruch, spirituelle Mythen mischen sich mit Kapital, recycelten Ideologien, Sex, Gewalt und ganz ganz viel Wodka: „Das Leben am Polarkreis lässt sich nur ertragen, wenn man regelmäßig in eine wodkagefüllte Gebärmutter kriecht.“

In einer zweiten Novelle, der Fortsetzung des Jakutien-Abenteuers, heuert Sullivans Ich-Erzähler in Moskau bei einer Schweizer Kapitalgesellschaft an. Der Osten steht unter dem Zeichen der Verwirklichung eines rigorosen Systems: „Im Moskau der Neunziger war das Image nur mit einer S-Klasse vollkommen, dem absoluten Sahnehäubchen.“ In einem explosiven Gemisch begegnen dem Helden hier die groteskesten Hochstapler, die herrlichsten Klischeemafiosis und die „Junkies der Gegenkultur“.

Der 1966 geborene Stephen Sullivan legt in seinen beiden Abenteuer-Novellen los wie die Feuerwehr und entzündet ein sprachgewaltiges Feuerwerk voller Witz, Trash und Philosophie. Mit ungeheurem Esprit, praller Sinnlichkeit und hoher Intellektualität zappt er sich durch die postmodernen Diskurse und Trends, um sie genüsslich zu dekonstruieren und zu travestieren. Hier kristallisiert sich das exemplarische Lebensgefühl einer Generation heraus, die sich weder ideologisch, noch moralisch, noch ästhetisch festlegen lässt, weil sie sich andernfalls selbst verhöhnen müsste.
Sullivans Prosa ist jenseits aller Political Corrrectness und jenseits aller Creative Writing-Schablonen – sie ist ungebändigt, zuhöchst polemisch und sarkastisch sowie wohltuend selbstironisch. Stephen Sullivans Schwachpunkt ist sein Plot und die innere Dramaturgie – nach einem grandiosen Auftakt verlaufen sich seine Geschichten leider etwas in einem wodkatriefenden Episoden-Reigen.

Doch nichtsdestotrotz ist der promovierte Politikwissenschaftler mit einem abenteuerlichen Lebenslauf – so war er im Namen der CIA im Osten Russlands und als Hubschrauber-Diplomat im Kaukasus unterwegs oder vertrieb Schwerlaster in den Öl- und Gasfeldern Sibiriens – eine absolute literarische Entdeckung, eine viel versprechende Mischung zwischen Henry Miller und Thomas Pynchon.

Karsten Herrmann

Stefan Sullivan: Sibirischer Schwindel. Zwei Abenteuerromane. Aus dem Amerikanischen v. Ulrich Blumenbach. Eichborn 2002. Gebunden. 348 Seiten. 27,50 Euro. ISBN 3-8218-4514-7.