Geschrieben am 1. Juni 2011 von für Bücher, Litmag

Sreten Ugričić: An den unbekannten Helden/Vladimir Pištalo: Millennium in Belgrad

„Es war eine widerliche, blutige und räudige Zeit.“

– Der Traum von einem Land und einer Stadt; eine Doppelbesprechung neuer serbischer Literatur von Elfriede Müller.

Dragan Velikić stellte fest, dass der Balkan zum Genre geworden ist. „Ein politisiertes Stück Wirklichkeit, getränkt mit typischen balkanischen Absurditäten, vermengt mit einer guten Portion Humor und unabdingbar einer Prise Provokation.“ Wenn man den Humor rausnimmt, trifft dies auf Sreten Ugričić‘ erste Veröffentlichung in deutscher Sprache zu. Sreten Ugričić hat viele Talente, er leitet die serbische Nationalbibliothek, ist Philosoph, Astronom, Konzeptkünstler und Essayist.

„An den unbekannten Helden“ versucht die Aspekte seiner unterschiedlichen Tätigkeiten unter einen Hut zu bringen und scheitert unter anderem an dieser Ambition. Lehrstück, Fragment, Metapher, Science Fiction und religiöse Utopie will diese Nichtfiktion sein. Die Geschichte behandelt das Serbien Milosevićs, den er als absurden Diktator beschreibt, der an König Ubu und Arturo Ui erinnert. Zum Diktator gesellt sich der unersetzbare Narr und ein Volk im reversiblen Koma.

Sreten

Die Situation ist so schrecklich, dass es in Serbien keine Sterne mehr am Himmel gibt und keine Kinder mehr zur Welt kommen wollen. Die Heldin des Romans, in einem permanenten telepathischen Dialog mit dem unbekannten Helden, dem Idealtyp des revolutionären Mannes schlechthin, wandelt durch die absurde Landschaft und begegnet immer wieder der symbolischen Zahl 3 und einem Chor, der alles Bedeutungsschwangere dreimal wiederholt. Frauen und Mönche können wiedergeboren werden, so auch die Heldin. Der Kampf zwischen dem Diktator und dem Helden ähnelt dem Mythos des Sisyphos, er ist immer aktuell und nicht zu entscheiden, da Serbien in Gottes Hand liegt, die rebellischen Mönche aber gegängelt werden.

Die Absicht des Autors, den serbischen Nationalismus zu dekonstruieren, verliert sich auf dem undurchdringlichen Weg der immer neue Mythen produzierenden Handlung. Der Roman spielt in den letzten 100 Jahren, von 1914, dem Attentat serbischer Nationalisten auf den österreichischen Thronfolger, bis zum Jahr 2014, aber eigentlich spielt er in einem ahistorischen Raum und kokettiert mit der griechischen Tragödie. Er steckt voller Referenzen (dem Surrealismus, der Leibniz‘schen Monade, der Molusischen Katakombe von Günther Anders), die dem Ganzen nur noch einen fragmentarischeren Charakter verleihen, auch wenn sie die Belesenheit des Autors dokumentieren. Sreten plädiert für den Tyrannenmord, bleibt politisch aber unscharf, was die Kritik am heutigen Serbien angeht. Eines der wenigen Relikte aus dem Realsozialismus sind die immer und überall auftauchenden hilfsbereiten Russen. Die unsterblichen gezähmten Diktatoren versammeln sich am Ende ganz niedlich auf der „Kleinen Kriegsinsel“. „Serbien ist schaurig, wie gut, dass es nicht existiert“, wird der Autor nicht müde zu wiederholen und verlegt zu guter Letzt ohne einen Hauch Ironie das Schicksal des Landes in Gottes Hände, der allerdings nicht einmal diesen Roman hat retten können.

Belgrad, „Zentrum der Häresie“

Ebenso fragmentarisch wie Sreten Ugričić erzählt Vladimir Pištalo die Biografie von vier jungen Leuten in der Zeit von 1980 bis heute und schildert, wie unterschiedlich sie auf den Zerfall Jugoslawiens reagieren. Darin erschöpfen sich allerdings schon die Gemeinsamkeiten mit Sretens Text. Pištalo interviewt die Stadt Belgrad, die seine Stadt ist und bleibt, egal was ihr widerfährt und damit einen universellen Charakter erhält. Titos Tod erscheint als das Ende einer Epoche des aufgeklärten Absolutismus.

Erzählt wird die Musik- und Kulturgeschichte Jugoslawiens, das Erscheinen des New Wave in Belgrad, das Erwachsenwerden von Irina, der Architektin, Bane, dem Schürzenjäger und Musiker, Boris, dem Judomeister und Mafioso, Zora, der Kunstwissenschaftlerin, und dem Ich-Erzähler, der Historiker wird und ihre Geschichte erzählt: „Damals versuchte ich, etwas zu werden, aber bekanntlich ist Werden nicht gestattet, nur Sein. Die ganze Welt nervte mich. Ich war überzeugt, dass die Institution Familie eine Erfindung der Inquisition war, erdacht als Folterinstrument. Ich wollte aus der Umzingelung von Gymnasium, sonntäglicher Sauna und Sportschau ausbrechen.“ Neben den vier Hauptpersonen steht die Stadt Belgrad im Zentrum des Romans, eine Stadt, die mal als „Zentrum der Häresie“ galt. Allein die Familiengeschichte des Autors bietet Stoff genug für mehrere Romane: ein surrealistischer Künstler, ein Widerständler und Politkommissar, ein Kollaborateur mit der Besatzungsmacht. Aufklärend wirken die in die Handlung eingestreuten Fragen nach den bis heute ungeklärten Gründen des Jugoslawienkrieges, die Frage nach der Rolle der Medien, des kleinen Kriegstreibers, den jeder Einwohner im Wohnzimmer stehen hat: das Fernsehen. „Der Fernseher bildete die Ereignisse nicht ab, er schuf sie.“

Vladimir Pištalo

Der Zerfall des Landes wird von Belgrad aus geschildert, von Menschen, die diese Stadt verkörpern. Pištalo beschreibt, wie der Vertrag von Dayton zwar keinen Frieden, aber das Ende des Blutvergießens in Bosnien bedeutete und wie danach Hunderttausende serbischer Flüchtlinge mit Traktoren aus Kroatien nach Serbien kamen. Und er erinnert daran, dass 1996 in Belgrad von den Medien verschwiegene, drei Monate andauernde Demonstrationen gegen Krieg und Regierung stattfanden: „Es war weltweit der erste Aufstand gegen die bunten verlogenen Bildschirme.“ Als die Bomben auf Belgrad fielen empfand der Autor nur Ungläubigkeit.

Pištalos Geschichte einer Liebe, dreier Freundschaften, einem fürchterlichen Krieg oder einer Reihe von Kriegen verleiht einem Lebensgefühl Ausdruck, das aus einem Wegbrechen von Stützen und der Zersplitterung der Welt besteht. Einer Zersplitterung, der auch die Vergangenheit nicht standhält.

Elfriede Müller

Sreten Ugričić: An den unbekannten Helden (Neznanom Junaku). Aus dem Serbischen von Mascha Dabic. Berlin: Edition Balkan/Dittrich 2011. 365 Seiten. 17,90 Euro. Mehr zu Sreten Ugričić beim Dittrich Verlag , zur Leipziger Buchmesse 2011 und im Interview auf dr.
Vladimir Pištalo: Millennium in Belgrad (Milenijum u beogradu). Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. Berlin: Edition Balkan/Dittrich 2011. 268 Seiten. 16,80 Euro.