Geschrieben am 22. März 2004 von für Bücher, Litmag

Slavenka Drakulic: Keiner war dabei

Wozu denn Reue?

Reportagen, Erinnerungen und Porträts aus der Zeit der heute fast schon wieder vergessenen Kriege auf dem Territorium von Ex-Jugoslawien.

Im Schatten des seit dem Anschlag auf die Twin Towers in New York und aktuell dem Zug-Attentat von Madrid alles überragenden Top-Themas ‚Terrorismus‘, schwelt immer noch ein Gewalt-Konflikt in unserer europäischen Nachbarschaft weiter. Auf den brodelnden Kochtopf, den wir etwas zu verallgemeinernd das Etikett ‚Balkan‘ gegeben haben, liegt nur ein durch verschiedene Abkommen zusammengehaltener Deckel. Jederzeit kann der in dieser Region immer latente Hass der diversen Ethnien wieder explodieren, wie besonders der Kosovo zeigt. Slavenka Drakulic, die seit vielen Jahren in Österreich und in Schweden lebende kroatische Autorin, ruft uns mit ihren Reportagen vornehmlich von dem Den Haager Kriegsverbrecher-Tribunal diese verdrängte Zeit brutaler Kriegsverbrechen wieder in Erinnerung.

Es gibt eine Reihe von tagesjournalistischen Berichten über die Prozesse in Den Haag, vor allem über den spektakulären Auftritt von Slobodan Milosevic, von denen aber kaum einer die Dichte und Nähe der Reportagen von Slavenka Drakulic erreicht. Man muss ihr die Stellungnahmen, die Lügen und Rechtfertigungen der Angeklagten, die Verzweiflungen, Klagen und die Wut vieler Opfer-Zeugen nicht erst übersetzen. Und man spürt, wie sehr sie sich als Frau und Mutter getroffen fühlt, wenn angeklagte Vergewaltiger und Kindermörder jede persönliche Schuld von sich weisen. Manche Passagen ihrer Gerichtsreportagen sind nur schwer zu lesen, weil es schwer ist, diese Hassorgien zu begreifen, von denen dort berichtet wird.

Knarre und Krawatte

Und dann immer wieder diese Konfrontation mit der Banalität des Bösen, die uns sehr bekannt ist aus den Berichten über die NS-Kriegsverbrecherprozessen. Wenn man heute die Herren mit Krawatten, bügelfreien Anzug, glattrasiert vor dem Gerichtshof erlebt, glaubt kein Mensch, auch die Autorin nicht, dass hier über Gewaltverbrechen geurteilt wird, wie sie seit dem Ende des II. Weltkrieges in Europa oder in dessen unmittelbarer Nachbarschaft nicht mehr bekannt gewesen sind. Und wenn man dann im Epilog liest, wie eng, konfliktlos, fast herzlich die aus allen Regionen von Ex-Jugoslawien stammenden Angeklagten in dem holländischen Gefängnis zusammenleben, fragt man sich, warum es eigentlich zu diesen Kriegen in den neunziger Jahren gekommen ist. „Beim Blick auf die fröhlichen Knaben in Scheveningen ist die Antwort klar: aus keinem.“

Ungemein spannend und aufklärend sind besonders die Reportagen, in denen Slavenka Drakulic die weniger bekannten, so ganz und gar ‚alltäglichen‘ Täter, deren Herkünfte und Taten schildert. Die Porträts von Slobodan Milosevic und seinem ‚Kätzchen‘, Ehefrau Mira Markovic bringen wenig Neues. Spürbar schwer hingegen fällt es der Autorin, die einzige geständige und reuige angeklagte Biljana Plavsic zu porträtieren. Sie war zu Kriegszeiten eine kalte, berechnende Machtpolitikerin, aber vor dem Gericht zeigt sie gegenüber ihren mitangeklagten superpotenten Militärmachos eine erstaunliche menschliche Stärke.

Es irrt gewaltig, wer glaubt dieser Krieg und seine Folgen, gingen uns nichts mehr an. The war isn’t over – das lernen wir, wenn wir die Reportagen von Slavenka Drakulic lesen.

Carl Wilhelm Macke

Slavenka Drakulic: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Deutsch von Barbara Antkowiak. Zsolnay-Verlag. Wien, 2004. 197 Seiten. 17,90 Euro. ISBN: 3-552-05290-9