Geschrieben am 13. Juni 2009 von für Bücher, Crimemag

Sir Arthur Conan Doyle: Das große Sherlock-Holmes-Buch

Was war Sherlock Holmes und was bleibt von ihm übrig?

Der Kriminalroman, wie wir ihn heute kennen, hat erstaunlich wenig mit Sherlock Holmes zu tun und trotzdem ist und bleibt der Brite mit der Meerschaumpfeife sein Urahn. Poes Erzählungen um Auguste Dupin sowie Émile Gaboriaus Feuilletonromane wären ohne Conan Doyles Reaktion darauf wohl genauso folgenlos geblieben wie andere Quasi-Vorläufer des Genres (Schiller, E.T.A. Hoffmann). Erst die Sherlock-Holmes-Geschichten erzeugten eine Lawine von Kindern, Kindeskindern und Bastarden. Aber erkennt man in ihren Gesichtszügen den Urahn wieder? Ein weiterer Beitrag zu den Conan–Doyle-Festwochen, eine kritische Perspektive von Doris Wieser

Anlässlich des 150. Geburtstags von Sir Arthur Conan Doyle hat der Fischer Taschenbuch Verlag im Mai eine Sammlung von 13 Sherlock-Holmes-Geschichten unter dem Titel Das große Sherlock-Holmes-Buch neu herausgegeben (jedoch nicht neu übersetzt, was auch an Tipp- bzw. Scanfehlern zu bemerken ist, – dazu ein recht problematischer Eintrag aus Kindlers Literatur Lexikon, TW – und ohne Herausgebernennung). Der Band enthält einige der berühmtesten Erzählungen, an denen Holmes’ Werdegang wunderbar nachvollzogen werden kann: Von der Junggesellenbude mit Dr. Watson über dessen Auszug und Heirat, bis zu Holmes’ „vorläufigen Tod“ in den Reichenbachfällen und seiner Rückkehr Jahre später. Der Leser muss sich lediglich die vier Holmes-Romane dazudenken und das Bild ist komplett.

Aber was ist von Sherlock Holmes literarisch übriggeblieben außer der Erinnerung an seine Accessoires und Spleens? Ein 3-Punkte-Check.

Was war Sherlock Holmes?


1. Eine Perspektive

Erstens hat Conan Doyle der Kriminalliteratur eine Erzählperspektive vermacht, die Perspektive des Dr. Watson, der als weniger begabter Freund des Meisterdetektivs diesen mit stolzer Verehrung begleitet und seine Abenteuer später in der Form von Erinnerungen zu Papier bringt. Diese Darstellungsform übernahm Conan Doyle von Poe und schrieb sie durch die lange Serie der 56 Sherlock-Holmes-Geschichten unauslöschbar ins literarische Weltgedächtnis ein. (Als frühen Vorläufer könnte man auch Don Quijote und Sancho Panza sehen, obwohl der Vergleich hinkt, da Don Quijote nicht scharfsinnig und vor allem Sancho nicht der Erzähler ist). Die enge Freundschaft zwischen Holmes und Watson sowie Holmes’ Desinteresse an Frauen nahmen sich zahlreiche Autoren zum Anlass, die beiden als homosexuelles Paar zu parodieren. Aus heutiger Sicht fällt es tatsächlich schwer, Sätze wie den folgenden mit der nötigen Unschuld zu lesen: „Ich drückte mich aus dem lärmenden Haufen und hatte noch nicht zehn Minuten an der Ecke gewartet, als Holmes seinen Arm in den meinigen schob, und wir erleichtert und befriedigt den Heimweg antraten“ (S. 27, Eine Skandalgeschichte im Fürstentum O.). Obwohl das Pärchen Detektiv + Adlatus in der Kriminalliteratur tausendfach nachempfunden wurde (siehe Derrick), ist das eigentliche Kernstück des Ansatzes, nämlich die Erzählperspektive des weniger scharfsinnigen Helfers, keinesfalls eine dominante Darstellungsform, sondern im Gegenteil sogar ziemlich selten.

2. Ein Rätsel

Zweitens sind die Sherlock-Holmes-Geschichten nicht in erster Linie Kriminalgeschichten, sondern Rätselgeschichten. Dass das Rätsel oft mit einem Mord in Verbindung steht, macht die Fälle nur dringlicher und spannender, aber ein Gewaltverbrechen ist nicht Bedingung dafür, dass sie funktionieren. Häufig werden andere gewaltfreie Delikte, wie Betrug und Täuschung, thematisiert. Kein Verbrechen, sondern die Sorge um seinen guten Ruf treibt den Fürsten in Eine Skandalgeschichte im Fürstentum O. zu Holmes. Auch in Ein Fall geschickter Täuschung geht es weder um Gewalt, noch um Mord, sondern um Heiratsschwindel; bei Silberstahl um versuchten Betrug beim Pferderennen und einen durch Unfall zu Tode gekommenen Stallknecht. Holmes’ Fälle sind im Vergleich zu denen aus heutigen Kriminalromanen zwar ziemlich harmlos, aber eben besonders rätselhaft. Zu ihrer Lösung müssen immer wieder vom Mörder hinterlassene Zeichen gedeutet oder Geheimschriften entziffert werden wie in Die tanzenden Männchen (auch das geht auf Poe zurück, vgl. Der Goldkäfer). Die Erben dieser Faszination für das Okkulte findet man heute in Filmen und Büchern wie Sieben, Sakrileg oder verdreht und parodiert in Borges Erzählung Der Tod und der Kompass oder in Guillermo Martínez’ Die Oxford Morde. Manche dieser Werke neigen dazu, das Verbrechen in einen ästhetisierten Bereich zu zerren, indem es zur Kunst erhoben wird, was man Sherlock Holmes noch nicht vorwerfen konnte. Folgenreich oder besser folgenschwer waren auch Conan Doyles Rätsel in verschlossenen Räumen wie in Das getupfte Band oder Im leeren Haus (Poe stand wieder Pate, vgl. Murder in the Rue Morgue). Die locked room mysteries trieben später so absonderliche Früchte wie Le Mystère de la chambre jaune (1907, dt. Das geheimnisvolle Zimmer) von Gaston Leroux und wurden mit der Zeit immer absurder.

Wegen seines Rätselcharakters wurde der Detektivroman oft mit einem Kreuzworträtsel oder Puzzle verglichen. Bei der Christie-Schule mag das gut passen, da sie so tut, als gäbe es nur eine mögliche Lösung. Die Sherlock-Holmes-Geschichten gleichen jedoch eher einem Sudoku, bei dem viel mit Zahlen jongliert wird, wo aber das eine oder andere Mal auch zwei oder drei verschiedene Lösungen möglich sind, je nachdem wie viele Zahlen bzw. Indizien bekannt sind. Dessen ist sich Holmes bewusst und daher bleibt so manches bei ihm im hypothetischen Bereich (z.B. seine Schlussfolgerungen in Im leeren Haus, S. 282).

3. Eine Methode

Drittens war Holmes ein Verfechter der „deduktiven“ Methode, die auf einer genauen Beobachtung der Wirklichkeit basiert und somit im positivistischen Zeitgeist verankert ist. Aus ein paar Dreckspritzern am Ärmel zieht er die unglaublichsten Rückschlüsse und trifft dabei immer ins Schwarze. Meist wird sein Können zu Beginn der Erzählung demonstriert, indem er Watson oder einem gerade eingetroffenen Klienten mit seinen Schlussfolgerungen verblüfft. Holmes’ Deduktionen wirken allerdings völlig aus der Luft gegriffen, ein weiterer Grund warum er häufig Opfer von Parodien wurde (z.B. bei Jô Soares: O Xangô de Baker Street, 1995, dt. Sherlock Holmes in Rio). Er ist dennoch kein Alleskönner, sondern hat große Wissenslücken, was aber nichts ausmacht, denn „der Mensch soll seine kleinen Gehirnkammern mit dem füllen, was er voraussichtlich brauchen wird, das übrige kann er in den dunkelsten Winkel seiner Bibliothek stecken, wo er es im Notfall findet“ (S. 67). Und obwohl er als alter Besserwisser auftritt, ist Holmes nicht unfehlbar und kann Folgeverbrechen nicht immer abwenden (z.B. in Fünf Apfelsinenkerne). Trotz des Beharrens auf Logik und Empirie wissen er und Watson, dass „mancher Punkt nicht aufgeklärt wurde und sich wohl nie völlig aufklären lässt“ (S. 54). Diese Skepsis haben die Sherlock-Holmes-Geschichten mit vielen (guten) Kriminalromanen von heute gemeinsam, was jedoch häufig übersehen wird, da die Christie-Schule den Zweifel und den Zufall mit der Indizienwalze flachplaniert und die Türen ins Hypothetische, die bei Holmes offen waren, versiegelt hat.

Als viertens, fünftens, sechstens, siebtens… könnte man noch die Dominanz der Dialogform, die häufige Herkunft der Verbrecher aus Übersee (aus dem Empire), das Versagen der Polizei und den wunderbaren britischen Lokalkolorit des ausgehenden 19. Jahrhunderts anführen, doch drehen wir die Frage jetzt herum:

Was war Sherlock Holmes nicht?

Conan Doyle zeigte das Verbrechen nicht in seiner sozialen und psychologischen Dimension und suchte auch nicht nach seinen Ursachen. Der struggle for life der Ärmsten der Armen, die sich gegenseitig zerfetzen sowie strukturelle oder despotische Gewalt, sind nicht seine Themen – obwohl es das damals auch alles gab, man denke an das englische Industrieproletariat oder die Gewaltherrschaft in den Kolonien. Er interessierte sich auch nicht für die Traumata der Opfer, ebenso wenig für das verdreckte Innenleben der Verbrecher und die Frage, ob sie aus niederen Beweggründen handeln oder Produkte ihres Milieus sind. Genauso vergeblich wird man bei Conan Doyle voyeuristische Effekte, eine schonungslose, naturalistische Darstellung von Gewalt oder gar Sexualdelikten suchen. Moralische Fragen stellen sich nicht, da Gut und Böse sauber unterscheidbar bleiben. Holmes’ emotionale Anteilnahme ist auf ein Minimum reduziert. Ambivalenz scheint ein Fremdwort und leider bleibt daher als message oder Erkenntniswert auch kaum etwas übrig. Übrig bleibt allerdings gute Unterhaltung und blitzblankes Vergnügen, das keine Dreckspritzer auf der Seele hinterlässt.

Bei Sherlock Holmes geht es immer sehr höflich zu, sehr britisch, viktorianisch, gesittet. Die Klienten (meist aus der high society) drücken sich präzise und gewählt aus. Sogar der „Napoleon des Verbrechens“ (S. 237, Das letzte Problem), Moriarty (oder Mariarty), hat noch den Anstand, Holmes höflich darauf hinzuweisen, dass er ihn umzubringen gedenkt. Wo gibt es so etwas heute noch? Tony Soprano wäre da sicher nicht so zimperlich gewesen, hätte ihm gedroht, die Pistole an den Kopf gehalten oder gleich abgedrückt. Die Moriarty-Bande, ein Verbrechersyndikat, das durchaus mit einer kleinen Mafia vergleichbar sein dürfte, bewegte sich trotz allem im Rahmen des bürgerlichen Anstands. Bis zu Büchern wie Francesco de Filippos Gezeichnet (2006) ist es von da ab noch ein weiter Weg.

Doris Wieser

Sir Arthur Conan Doyle: Das große Sherlock-Holmes-Buch. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 2009. 351 Seiten. 8,50 Euro.