Ausbruch in den „Raum der Stille“
Tiefes, tranceartiges Glück und schwarze Melancholie wechseln sich auf dieser Reise ab
Den Alltag hinter sich lassen, die Lasten der Zivilisation abwerfen und endlich wieder einmal zur Ruhe und zu sich selber kommen – wer träumte nicht davon? In ihrem neuen Buch präsentiert Sigrid Damm zusammen mit ihrem Sohn, dem Fotografen und Künstler Hamster Damm, die Ergebnisse eines exemplarischen Feldversuches: Sieben Tage wanderten beide unabhängig voneinander und autark durch die Einsamkeit Lapplands, durch einen schier unendlichen „Raum der Stille“.
Die „Tage- und Nächtebücher aus Lappland“ bieten eine faszinierende Reise in eine archaische Landschaft und in die Tiefen der Selbstbegegnung und der vergegenwärtigenden Erinnerung. Sie sind eine bild- und wortgewaltige Hommage an das Land der Samen mit ihren uralten Mythen und noch immer lebendigen Ritualen sowie an eine Landschaft und ein Licht, das trunken macht: „Sonne. Wahnsinnslicht. Gelbloderndes Ufergras, Flammendes Herbstrot der Birken.“
Die zwei abwechselnden Spuren des Textes („Sie“ und „Er“) korrespondieren untereinander und stehen mit der Ebene der großformatigen, farbenberauschten Bilder, Zeichnungen und Collagen in einem regen Austauschprozess. Im Kopf des Lesers entsteht ein weiter, luftiger Gedankenraum, in dem sich vielfältige Verbindungen herstellen und Assoziationen wie Mücken im Abendlicht tummeln.
Text und Bild des Bandes sind durch den „Rhythmus der Füße“ bestimmt, welche aus dem Alltagstrott herausführen und die Gedanken frei fließen lassen. So erwächst von Seite zu Seite nicht nur eine Topographie der Landschaft mit ihren intensiv wahrgenommenen Wäldern, Sonnenuntergängen, Steinen, Flechten, Moosen, Wolken, sondern auch eine „Topographie der Schreib- und Lebenswege.“ Aus der Einsamkeit treten die Erinnerungen in ungewöhnlicher Klarheit hervor, ordnen sich, lassen Muster erkennen – und manchmal auch Sinn. In radikaler Offenheit breitet sich hier ein bewegtes Leben aus, in dem oftmals das „Schreiben als Überleben, als letzter Ausweg“ erscheint.
Tiefes, tranceartiges Glück und schwarze Melancholie wechseln sich auf dieser Reise ab. In der Askese der körperlichen Anstrengung und der Tütensuppen öffnen sich Horizonte und meditative Einsichten in den bedrohlichen Zustand unserer von Überfluss gezeichneten westlichen Zivilisation. Im Hinterkopf bleibt der „überfüllte Warteraum Mitteleuropa“ mit seinen medialen Bilderfluten, Kakophonien und Verschmutzungen verankert und so offenbart sich der Traum von etwas unwiederbringlich Verlorenem.
Karsten Herrmann
Sigrid Damm: Tage- und Nächtebücher aus Lappland. Insel Verlag 2002. Gebundene Ausgabe. 232 Seiten. 34,90 Euro. ISBN: 3458170960