Geschrieben am 15. Mai 2013 von für Bücher, Litmag

Siegfried Kracauer: Ginster

Siegfried Kracauer_GinsterEin Antimilitarist ohne Eigenschaften

– Der exterritoriale Intellektuelle Siegfried Kracauer leitete das Feuilleton der Frankfurter Zeitung in der Weimarer Republik, er war Filmtheoretiker und Kritiker, Schriftsteller, Journalist, Historiker und Philosoph, so wie es dem interdisziplinären Ideal der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule entsprach, in deren Umfeld er sich bewegte. Kracauer wurde 1933 ins Exil gezwungen und verbrachte dort einen großen Teil seines nomadischen Lebens. Von Elfriede Müller

Wie viele seiner Zeitgenossen war er kurz dem nationalistischen Taumel erlegen, als er sich der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg anschloss und sich freiwillig zum Kriegsdienst verpflichten ließ. Dieser Überreaktion verdanken wir einige große literarische Werke, unter anderem Kracauers ersten Roman „Ginster“, der 1928 erschien, zusammen mit dem Kultbuch von Erich Maria Remarque „Im Westen nichts Neues“. „Ginster“ ist ein typisches Zwischenkriegsbuch, das die nationalistische Euphorie des ersten großen Krieges in einer dumpfen Vorahnung des kommenden aufarbeitet.

Das autobiografische Werk erschien anonym. Der junge Mann ohne Eigenschaften, der außerhalb von Raum und Zeit zu leben scheint, weist viele Züge des Autors auf, aber vor allem sein Habitus als Weltbürger, als antibürgerlicher Nomade erinnert an seinen Schöpfer. Joseph Roth und Thomas Mann waren von dem Roman begeistert. Roth verglich die Hauptfigur mit „Chaplin im Warenhaus“. Stilistisch ist „Ginster“ ein Werk der Neuen Sachlichkeit, einer Literatur, die das Grauen des Krieges denunziert. Das Erstaunliche an diesem Text ist, dass Gewalt nicht vorkommt, dass sie nur strukturell thematisiert wird: „Den Tod konnte Ginster nicht fühlen, er war eine Tatsache.“ Der grässliche Tod in den Schützengräben findet weit weg statt und wird nicht beschrieben.

Sozialkritik wird mit den Waffen der Ironie geübt, die immer Distanz zum Gegenstand voraussetzt. Es ist auch die Ironie des Schicksals, die Ginsters Militärdienst auf wenige Monate in einer Artillerieeinheit beschränkt, wo seine Aufgabe darin besteht, „Kartoffeln gegen den Feind zu schälen“. Ginster ist eigentlich kein Kriegsgegner, er kann mit dem patriotischen Elan zunächst nur nichts anfangen, weil er irrational daherkommt: „Warum beschäftigen sich jetzt alle Leute mit Patriotismus. Seit rechts im Osten ein Stück Land vom Gegner besetzt worden ist, jammern sie, als gehöre es ihnen privat. Früher haben sie sich um das Stück Land gar nicht gekümmert. Ich kann doch keine Gefühle für etwas aufbringen, das ich nicht kenne.“

Mensch ohne Welt

Kracauers eigene Erkenntnis darüber, wozu Nationalismus im Allgemeinen und vor allem im Krieg führt, und sein Wandel zum Pazifismus vollzogen sich über den Tod seines engen Freundes Otto Hainebach, der auch Eingang in „Ginster“ findet. Auch die Tatsache, dass Ginster Architekt von Beruf ist und wie Kracauer selbst einen Ehrenfriedhof planen muss, um dem Kriegsdienst zu entkommen, verweist auf den autobiografischen Gehalt des Romans. Kracauer arbeitete zwischen 1915 und 1918 in Frankfurt in dem Architekturbüro Max Seckbach, wo er unter anderem einen Militärfriedhof konzipierte, der nach dem Krieg realisiert wurde. Ginster lebt in Frankfurt, studiert dann in Berlin, um wieder nach Frankfurt zurückzukehren und beim Architekten Valentin einzusteigen. Dieser misst die Bedeutung der Menschen an der Anzahl ihrer Sitzungen.

Ginster beobachtet die Veränderung der Welt von außen mit einem fast ethnologischen Blick eines Unbeteiligten, der bis zum Schluss nicht gezwungen werden kann, sich wirklich zu beteiligen. Ginster ist kein Rebell, er legt Wert auf Unauffälligkeit. Da sein Vater früh starb, ist der Onkel, ein Historiker, seine wichtigste intellektuelle Bezugsperson. Doch auch der Onkel „gab sein ganzes Mittelalter preis und wurde zum Vaterland in Person“. Ginster stellt befremdet fest, dass das Selbstbewusstsein der Menschen in seinem Umfeld mit der Anzahl an toten Gegnern wächst. Er wandert von Rückstellung zu Rückstellung, bis er schließlich doch für sechs Wochen eingezogen wird, ohne dabei sein Leben riskieren zu müssen. Mit 28 Jahren taugt er nicht für einen Krieg, den fast alle außer ihm für bedeutend erachten, er hasst seinen Beruf und findet keinen Zugang zum Leben.

Kracauers poetisch-philosophische Sprache verleiht Ginsters Weltentrücktheit Ausdrucksstärke. So wie der Krieg anhält, dümpelt Ginsters Leben dahin, bis die Kunde von den Unruhen aus den Hafenstädten auch zu ihm dringt. Er gelangt so ohne Krieg mitten in die Revolution, die sich ihm in Gestalt eines Matrosen auf dem Marktplatz nähert. Im Gegensatz zum Autor bleibt Ginster auch der Revolution gegenüber skeptisch, er bleibt ein Mensch ohne Welt. Kracauers Roman behält seine Aktualität durch eine außergewöhnlich präzise Sprache, die den Nationalismus ideologiekritisch seziert und durch die Fiktion seine Irrationalität umso prägnanter werden lässt.

Elfriede Müller

Siegfried Kracauer: Ginster. Roman. Suhrkamp Verlag 2013. 341 Seiten. 22,95 Euro.

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