Das Leben, eine Verbrauchsanweisung
Die Fahrt ist ein nicht nur wegen seiner zahllosen Orts- und Personenwechsel ungeheuer vielschichtiger Roman – vielleicht sogar Sibylle Bergs bislang reifster.Von Frank Schorneck
Wieder einmal sind eine Handvoll – oder auch ein paar mehr – Menschen auf der Suche nach dem Glück und scheitern zumeist kläglich an ihren eigenen Ansprüchen. So könnte man Sibylle Bergs aktuellen Roman Die Fahrt kurz beschreiben, was zwar inhaltlich nicht falsch wäre, aber dem Roman dennoch nicht gerecht würde.
Sibylle Berg führt in diesem Romanpuzzle, in dem sich bei weitem nicht alle Teile harmonisch zu einem übersichtlichen Ganzen fügen lassen, an unzählige Orte der Welt. Von Berlin nach Reykjavik – über Bangkok, Tel Aviv, Hongkong, Paris, New York, Krakau, Bombay, aber auch Bochum führen die zahllosen Handlungsfäden. Heimat- und orientierungslos, getrieben von der Vorstellung, dass das Gras auf der anderen Seite des Zaunes grüner ist, irren Sibylle Bergs Figuren durch die Welt – und wenn man meint, das Glück gefunden zu haben, wartet der Tod schon an der nächsten Ecke. Gewohnt pessimistisch ist Bergs Blick auf diese Welt, doch zwischenzeitig gönnt sie dem einen oder anderen Menschlein doch einen Augenblick des Innehaltens, des Verstehens.
Kunstvoll sind die einzelnen Patches dieses bunten Flickenteppichs miteinander verwoben, gibt es kleinere und größere Überschneidungen der verschiedenen Schicksale. Einige Szenen sind dem Sibylle Berg-Kenner schon aus anderen Zusammenhängen bekannt wie zum Beispiel die Begegnung der deutschen Touristin Pia mit Rebellen in Myanmar, die ähnlich schon als Reportage in einer Zeitschrift zu lesen war. Sibylle Bergs Blick auf die verschiedenen Lebensentwürfe, sei es der weltabgewandte Sozialismus des Kibbuz in Israel oder die schlammige Perspektivlosigkeit der Goldsucher am Amazonas, ist entlarvend und bis ins Detail klar fokussiert. Und so merkwürdig es klingt: Gerade der zornige Blick auf die Ungerechtigkeit und letztliche Vergeblichkeit des Lebens, öffnet die Augen für die kleinen, kaum wahrgenommenen Glücksmomente des Alltags. Die Fahrt ist ein nicht nur wegen seiner zahllosen Orts- und Personenwechsel ungeheuer vielschichtiger Roman – vielleicht sogar Sibylle Bergs bislang reifster.
Frank Schorneck
Sibylle Berg: Die Fahrt. Kiepenheuer & Witsch 2008. 346 Seiten. 19,90 Euro.