Geschrieben am 25. April 2012 von für Bücher, Litmag

Sherko Fatah: Ein weißes Land

Hitlers Muselmanen

– In seinem Roman „Ein weißes Land“ beleuchtet Sherko Fatah ein besonderes Kapitel der NS-Zeit. Von Ulrich Noller.

Wie „multikulturell“ war eigentlich der Nationalsozialismus? Zumindest war diese „deutsche Bewegung“, das belegen historische Untersuchungen ebenso wie Überlieferungen und Geschichten, ethnisch betrachtet deutlich vielfältiger, als es Jahrzehnte lang den Anschein hatte. In vielen Ländern existierten starke faschistische Gruppierungen und NS-freundliche Kollaborateure. In der deutschen Politik der Kriegszeit gab es verschiedenste Ansätze einer Vielvölker-Zusammenarbeit. Bei den Frontkämpfern war zeitweise sogar jeder zehnte Soldat kein Deutscher, darunter Freiwillige aus allen europäischen Ländern, die teils einfach ihr eigenes politisches Süppchen kochen wollten, teils aber auch glühende Anhänger Hitlers waren. Gerne übrigens aus Gesellschaften, die hinterher besonders „unschuldig“ politisierten, zum Beispiel in Skandinavien. Und die Wehrmacht bildete gar eine eigene indische Legion, um die Briten beim Kampf um die Weltherrschaft auch am Ganges effektiv bekämpfen zu können.

Fast ebenso exotisch wirkt die muslimische Achse von Bagdad nach Berlin, die Sherko Fatah in seinem neuen Roman „Ein weißes Land“ zum Thema macht. Anfang der 1940er Jahre, auf dem Höhepunkt seines Feldzugs, schickte Hitler Gesandte in den Orient, um hier – speziell im Irak – Verbündete gegen die Alliierten zu finden. Die verwandten Interessen waren klar: Hass gegen die Juden – und die englische (Kolonial-)Macht als gemeinsamer Feind. Der Islam war ein spezielles Faible Hitlers; der Großmufti von Jerusalem residierte als zukünftiger Führer der Araber eines nationalsozialistischen Weltreichs im Hotel Adlon. Zugleich wurde der Waffen-SS eine „muselmanische“ Einheit angegliedert, die hinter der Ostfront Partisanen bekämpfte und dazu beitrug, dass der Aufstand im Warschauer Ghetto blutig niedergeschlagen werden konnte.

Sherko Fatah erzählt diese zeitgeschichtlichen Ereignisse mit Hilfe eines Anti-Helden namens Anwar, dessen Lebensgeschichte sich in spektakulären Wendungen immer stärker von der Peripherie ins Zentrum der Zeitgeschichte windet: Anwar schlägt sich in Bagdad als Straßenkind durch, freundet sich mit kommunistischen Juden an, wird Mitglied einer Diebesbande, muss mit nazi-freundlichen Irakern zusammenarbeiten, reist als Leibwächter des Großmuftis nach Berlin und gerät schließlich zu den „Muselmanen“ an die Ostfront, wo es bald bloß noch um eines geht: ums nackte Überleben. Was ihm zwar gelingt, allerdings zu einem hohen, kaum akzeptablen Preis.

Sherko Fatah, geboren 1964 in der DDR, Sohn eines deutsch-irakisch-kurdischen Paares, geht mit seinem Ich-Erzähler ein Risiko ein: Anwar ist eine nicht sonderlich sympathische Hauptfigur, kein Held mit Identifikationsmöglichkeit. Im Gegenteil: Ohne moralische Bedenken schlägt er sich immer wieder auf die Seite der Despoten, ohne zu zögern intrigiert und tötet er für sie. So zu handeln, wie er es tut, ist die einzige Perspektive für einen Jungen von der Straße, der nach oben oder einfach nur überleben will – und doch bleibt er ein Spielball der Mächtigeren, die sich seiner von Anfang bis Ende bedenkenlos bedienen.

Dass man ihm und seiner Geschichte trotzdem gebannt folgt, liegt am Stil Sherko Fatahs: Sein Roman „Ein weißes Land“ verpackt Zeitgeschichte als Abenteuerliteratur – schnell, actionreich und packend erzählt. Insofern geht dieser Autor mit seinem Romans gleich ein dreifaches Wagnis ein: Der Antiheld verstört erstens derart, dass schon seine Konzeption einen einzigen, im Zentrum des Geschehens installierter Verfremdungseffekt darstellt, weil man sich ständig fragt, warum man diesem höflichen Monster trotzdem immer weiter folgt. Die unfassbare Grausamkeit des Vorgehens der deutschen Soldaten gegen Zivilisten und Widerständler erlangt in der Folge zweitens eine besondere – authentische – Drastik, indem sie aus dem Blickwinkel dieses Antihelden „neutral“ geschildert wird, der zwar grundsätzlich kein Problem mit dem Töten hat, sich aber hier allzu oft angewidert abwendet. Und die Kriegszeit als Abenteuerroman zu erzählen, das ist drittens sowieso ein Wagnis und war in der deutschen Literatur lange stigmatisiert, siehe Erich Maria Remarque, geht aber in diesem Fall blendend auf, siehe die Aspekte eins und zwei. So gesehen: Einiges gewagt und auch gewonnen.

Ulrich Noller

Sherko Fatah: Ein weißes Land. Luchterhand Literaturverlag 2011.480 Seiten. 21,99 Euro. Sherko Fatah im Video-Interview in der ZDFmediathek.

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