Leben in Wachträumen
– „Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ ist mehr als nur der Debütroman der 26-jährigen Shani Boianjiu. Er ist eine Aufarbeitung von Erlebtem, ein Aufzeigen der Folgen von Krieg und einer seit Generationen traumatisierten Gesellschaft. So erschreckend nüchtern erzählt, dass der Leser an vielen Stellen das Buch empört an die Wand schmeißen will. Bis zum nächsten sensiblen Satz, der jede Nüchternheit konterkariert. Von Sophie Sumburane
Ein kleines Dorf an der Grenze zum Libanon: Es existiert nur, „weil Leute den genialen Einfall hatten, man sollte Galiläa judifizieren“, in dem es nichts weiter gibt als eine Hauptstraße, in der Häuser solange nebeneinander stehen, bis das Dorf zu Ende ist. Es gibt einen Klassenzimmer-Container, einen Olivenhain und einen Handymasten. Alle Eltern arbeiten in der Fabrik, „in der Teile hergestellt werden, die in Maschinen eingebaut werden, mit denen man Flugzeuge baut“. Nur Leas Mutter nicht, die Lehrerin an der einzigen Schule ist. Avishag, Yael und Lea sind Schülerinnen dort, bis sie 18 sind und zum zweijährigen Militärdienst eingezogen werden.
Der Roman ist eigentlich eine Sammlung von Erzählungen der in Harvard studierenden Shani Boianjiu, die in der New York Times und dem New Yorker erschienenen sind. An manchen Stellen des Textes ist dies auch noch zu spüren, beispielsweise wenn immer wieder die Biografien der drei Protagonistinnen umrissen werden, verschiedene Textblöcke in späteren Teilen des Buches erneut vorkommen oder der Sprung von einem Abschnitt zum nächsten beinahe schwindelerregend groß ist. Der Qualität des Buches insgesamt tut das aber keinen Abbruch.
Alle drei Protagonistinnen erzählen abwechselnd ihren Teil der Geschichte in der Ich-Perspektive. Sprachlich unterscheiden sie sich dabei zu Beginn nicht. Erst mit der Entwicklung der Geschichte bilden sich Charakterzüge heraus, die es dem Leser erlauben zu erkennen, wer spricht. Auch die unterschiedlichen Einsatzgebiete und Funktionen der Mädchen tragen zum Verständnis bei. Yael ist Waffenausbilderin und arbeitet im 8-Stunden-Takt: acht Stunden Dienst, acht Stunden Ausbildung der Rekruten, acht Stunden Schlaf. Avishag sitzt dagegen acht Stunden lang an der Grenze zu Ägypten hinter einem Monitor, um illegale Einwanderung zu verhindern, acht Stunden hat sie Dienst auf einem der Wachtürme und acht Stunden Schlaf. Und Lea schiebt Dienst bei der wohl verhasstesten Einheit, der Militärpolizei. Mit blauem Barett soll sie falsch gekleidete Soldaten melden, steht dabei selbst mit weißen, statt dunklen Socken am Checkpoint und kontrolliert den ganzen Tag Ausweise und Genehmigungen der palästinensischen Arbeiter.
Adoleszenz unter extremen Bedingungen
Shani Boianjiu selbst leistete ihren zweijährigen Militärdienst als Waffenausbilderin ab und vermittelt in jeder Zeile, wie real die Ängste, Zweifel und Tränen der drei Mädchen sind. Sprachlich am stärksten ist die Autorin in den Passagen ihrer Wachträume. Avishag zum Beispiel erfindet Menschen auf ihrem Monitor, die es nicht gibt, dichtet ihnen Geschichten an und lässt sie schließlich sterben. Lea wird in ihren Träumen von einem Palästinenser besucht, der täglich zu ihrem Checkpoint kommt. Sie spinnt sich sein Leben zusammen und offenbart zugleich ihre eigenen Träume. Diese Stellen im Roman zeigen sehr eindrücklich, wie die drei Mädchen durch den Militärdienst und den Tod um sie herum immer stärker traumatisiert werden. Nur in den Wachträumen finden sie Trost.
Die Autorin zeichnet in ihrem Debüt das Bild einer komplizierten, sehr differenzierten israelischen Gegenwart. Zwischen Waffen und Munition müssen die Jugendlichen von heute auf morgen erwachsen werden. Eine Adoleszenz unter extremen Bedingungen führt zu extremen Formen von sexuellem Erwachen, ohne eine erwachsene Identitätsfigur. „Yael hatte mit Shani geschlafen, jetzt wartet er darauf, dass sie zurückkommt und wieder mit ihm schläft.“ Als sie zurückkommt, rückt Shani aus: „Du wirst sterben!“, prophezeit Yael. Die erschreckende Nüchternheit, mit der sie schließlich von seinem Tod erfährt, zeugt von einem Leben, das an den Tod gewohnt ist.
Das Buch beschreibt neben der Armeezeit sowohl das Leben der jugendlichen Schülerinnen als auch Ausschnitte aus ihrer sogenannten Nachkriegszeit. Es ist dabei aufrüttelnd und erschreckend, gut geschrieben und an vielen Stellen sogar auf eine morbide Art lustig. Vor allem ist es eins: berührend. All das schafft Boianjiu auf eine erzählerische Art, die sehr angenehm ist, nie anklagend klingt und immer fest in der Perspektive von 19-jährigen Mädchen bleibt: die denken wie 19-Jährige, mit Jungs umgehen wie 19-Jährige und Heimweh haben wie 19-Jährige. Nur eben nicht auf den Tod reagieren, wie es 19-Jährige tun. Und bei ihrer Rückkehr auf den Stützpunkt, mit 29, von den neuen Mädchen als Omas bezeichnet werden und das nicht einmal anstößig finden.
Shani Boianjiu ist eine junge Autorin, die sich derart kritisch und ehrlich über ihre Heimat äußert, wie es leider viel zu selten geschieht. Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst, weil es seinen Bürgern verboten wird. Umso stärker werden die Menschen aber von einem Gefühl übermannt, das sie nicht kennen und für Heimweh halten: „Nun sind wir zu Hause, aber das Gefühl ist noch da. Es geht nie mehr weg.“
Sophie Sumburane
Shani Boianjiu: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst. Aus dem Englischen von Maria Hummitzsch und Ulrich Blumenbach. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013. 332 Seiten. 19,99 Euro. Foto Boianjiu: © Alon Sigavi