Man weiß nie, wer man ist
– Die Erinnerung ist hier und jetzt etwas Wunderbares. Wenn sich 58 Menschen, Zeitzeugen, mehr oder weniger auf einen Schlag (in einem Buch) erinnernd einer einzigen Person nähern, die seit mehr als zwanzig Jahren tot ist, wird diese auf eigenartige Weise lebendig. Fassbarer als Mensch nicht unbedingt – da es sich eben in diesem Fall um Thomas Bernhard handelt. In Sepp Dreissingers Begegnungsband ist dennoch die Erinnerung hellwach. Von Senta Wagner
Als letztes und fulminantes Werk eines Einzelstatements zu dem Dichter dürfte „Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das versiegelte Tagebuch 1972“ von Karl Ignaz Hennetmair gelten, das 2000 erschien und einen großen Nachhall bei Leserschaft und Presse erfuhr. Hennetmair war der, der Bernhard zum Beispiel seine Häuser bzw. Bauernhöfe vermittelten und sonstige Dienste verrichtete (Realitätenvermittler).
Jetzt sind viele Stimmen zu hören, Vielstimmigkeit, die sich der Herausgeber (Aufzeichner) in seinem Band zunutze gemacht hat, um die Hauptperson in allen ihren Facetten einzukreisen. Der in Wien lebende Filmemacher und Fotograf war seit der Mitte der siebziger Jahre mit Bernhard bekannt und knipste von ihm viele der bekanntesten Fotos – einige spezielle Klassiker finden sich in dem Band –, unter anderem auch das düstere und letzte Bild des Autors auf dem Cover. Dreissinger brachte es in der Zeit seiner emsigen Unternehmung von 2005 bis 2010 auf ca. 100 Stunden Film mit mehr als 60 Interviews, wie es dem Vorwort des Bernhardexperten Manfred Mittermayer zu entnehmen ist. Einzug in das Buch hielten magische 58, mit 58 Jahren ist Thomas Bernhard 1989 gestorben, also 58 verschriftlichte Auskünfte zu Bernhards „Lebensphasen und -bereichen“. Ihnen sind jeweils aktuelle Fotografien der Befragten vorgeschaltet mit angehängten Biogrammen.
Kein Mensch zu weit
Dabei war Dreissinger kein Weg zu weit mit seiner Kamera, er führte ihn quer durch Österreich und quer durch Deutschland, wo geredet wurde, manche taten dies ausschweifender, nachdenklicher, gewitzter, manche knapper als andere. Man traf sich in den Privatwohnungen und Villen der Leute, freilich immer wieder in Caféhäusern, in Büros, auf Vierkanthöfen, auf einem Friedhof, auf einem Gang. Verbundenheit oder Nichtverbundenheit mit Orten war für Bernhard stets von Bedeutung für das eigene Schreiben, so drückt sich diese Versessenheit auch in den Reden seiner Figuren aus. Darüber hinaus bevorzugte Bernhard, wenn nicht das Alleinsein, so doch ein gemischtes Umfeld von Menschen aus allen Schichten, vom Bauern bis zum Hochadel, mit dem er sich ganz besonders gern zierte.
Dreissinger hat aus diesem illustren Kreis seine Gewährsleute ausgewählt. Es sind darunter neben Freunden und Freundinnen, Leute vom Theater, der Presse, der Verlagsbranche und vom Dorf. Der Einstieg ins Reden geht meist über die (angenommene) Frage nach der ersten persönlichen Begegnung mit Bernhard. Angeschnittene Themen in den Statements sind immer wieder die „Tante“ Hedwig Stavianicek, das Spezifische der österreichischen Literatur, die Frauen, die Krankheiten. Sehr berührend sind etwa die Aussagen des Halbbruders Peter Fabjan, die jeweils in den drei gewichtigen Bernhardhäusern stattfanden. Aber auch die Halbschwester redet. Äußerst luzide sind dagegen die schleifenhaften Auskünfte des Schriftstellers Peter von Becker oder das Plädoyer des Verlegers Jochen Jung für ein schriftstellerisches Werk, das nicht nur komisch ist.
Als letzte Reminiszenz an das Gebaren von Bernhard ist die Form des Buches zu bewundern, bei der das Reden der Leute nicht als Dialog, sondern als Monolog wiedergegeben wird, sacht gekürzt laut Vorwort. 58-Mal die gleichen Fragen zu lesen, wäre doch fad geworden. Bei manch einem Weggefährten fließen die Erinnerungen im Galopp dahin, die Nähe zu Bernhard ist spürbar. Wenn einer redete, dann Bernhard, wenn ihm niemand mehr zuhörte, war er weg. Niederschriften der seltenen Interviews, die der Autor gab, fanden zumeist in dieser ihm angemessenen Form statt (z. B. „Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard“ von Kurt Hoffmann).
Vom Blödeln und anderem
Was auch immer Dreissinger gefragt haben mag, wie seine Fragen die Befragten lenkten, von einem blödelnden Thomas Bernhard war an vielen Stellen die Rede. Der Grantler und Misanthrop, der auch blödeln konnte. Man bekennt resigniert und amüsiert, der Bernhard als Mensch war so und war anders. Es gibt hier kaum Mutmaßungen über seinen Charakter oder tiefschürfende Werkinterpretationen, das gibt es ja sowieso zur Genüge. Bernhard wurde erlebt von den Leuten, bei einigen war er Gast (z. B. im Café Bräunerhof), die gemeinsam verbrachten Zeiten waren bei den einen kürzer, bei den anderen länger. So erfahren die Leser Dinge, von denen sie vielleicht noch nichts wussten – und das macht den großen Reiz des Bandes aus.
Also, wussten Sie? Er war auch ein Dandy mit den Allüren eines Rennfahrers. Er war unter allen Schriftstellern, die ich kannte, der mit Abstand beste, ja ein rasanter Autofahrer.1 Zurück zum Blödeln, das hiermit in Kürzestzitaten beweisen wird: Wir unterhielten uns spielerisch, manchmal etwas kindlich. 2 In Wien traf ich Thomas Bernhard sehr oft in Kaffeehäusern. Oft wurde uns die Gesellschaft etwas zu rauchig oder zu fad, und wir blödelten so dahin. Wer nicht blödeln und ausgelassen sein konnte, konnte auch nicht mit Bernhard befreundet sein. 3 Das ist also das ganze Geheimnis. Dann lernten wir ihn von der witzigen Seite kennen. Es war oft ein Pingpong-Spiel der absurdesten Pointen, Sprachverdrehungen, Neckereien, bis hin zum puren Unsinn. 4 Nochmals auf den Punkt gebracht: Übertreiben kann bald jemand, aber mit Kunst zu übertreiben, das ist nur ihm gestatten gewesen. 5 Kurz und knapp: Das war wirklich komisch. Er hat aus der Situation heraus Bemerkungen verdreht, er war ein Sprachmeister, das war seine große Kunst. 6 Wer sagts denn: Bernhard konnte unglaublich lustig sein, unglaublich blödeln, er konnte aber auch nerven. 7 Mit anderen Worten: Er war ein sehr origineller Typ, allerdings war eine Unterhaltung nur in Form von Kalauern möglich. Anders konnte man mit ihm gar nicht sprechen. 8 Und: Er hat auch lustig sein können. 9
Abschließend erfährt er in dem Panorama an Erinnerungen und persönlichen Würdigungen eine ganz besondere Adelung als „Lebensrettungsmensch“, im klingelnden im bernhardschen Sprachduktus: Man ist ja geflüchtet, in den Bernhard hineingeflüchtet. Wo hätte man sonst hinflüchten sollen? Man ist aus der Familie herausgeflüchtet, in den Bernhard hinein. 10
Und dann ist da noch Peter Handkes letzter Satz aus seiner Rezension von Bernhards „Verstörung“: „Ich las und las.“ Bernhard mit diesem schönen Band zu begegnen ist die Kür. Ihn zu lesen, wenn die Erinnerung verblasst, dazu gibt es sein Werk.
Senta Wagner
Sepp Dreissinger (Hg.): Was reden die Leute. 58 Begegnungen mit Thomas Bernhard. Salzburg/Wien: Müry Salzmann Verlag 2011. 383 Seiten. 29,00 Euro. Ein CULTurMAG-Porträt von Bernhard finden Sie hier, weitere CM-Beiträge hier.
1Peter Hamm, Literaturkritiker und Filmemacher
2Marie Thérèse Escribano, Sängerin und Kabarettistin
3Hubert Fabian Kulterer (gestorben 2009), Dichter und Aktionskünstler
4Angela Pauser, Gattin eines Geistesmenschen
5Wendelin Schmidt-Dengler (gestorben 2008), Sprach- und Literaturwissenschaftler
6Andreas Maleta, Journalist und Filmemacher
7Gundl Nagl, Lektorin, Dramaturgin und Gestalterin
8Erika Schmied, Fotografin
9Maria „Mitzi“ Holzinger, Kellnerin
10Wolfgang Liko, Theologe und Mythenforscher