Geschrieben am 11. November 2010 von für Bücher, Litmag

Sascha Reh: Falscher Frühling

Die Welt auf Brettern deuten:

Sascha Reh seziert in „Falscher Frühling“ eine Theaterfamilie. Frank Schorneck stellt Ihnen  den gelungenen Debütroman vor.

Lothar Lotmann sitzt schwer angeschlagen in einer Talkshow, die die 1980er-Jahre thematisiert. Weil er die Fragen zu Culture Club und Zauberwürfel als albern empfindet, schweifen die Gedanken des Theatermanns ab zu seinen Inszenierungen jener Zeit. Sein Alkoholkonsum vor der Show, aber auch die Erinnerungen, die der Rückblick freisetzt, lassen ihn aufstehen und aus dem Studio flüchten – nicht ohne noch vorher Regieassistenten zu beleidigen und volltrunken nach einem Leihwagen zu verlangen.

Lothar Lotmann ist eine der drei Figuren, die der 1974 in Duisburg geborene Sascha Reh in seinem Debütroman „Falscher Frühling eine Nacht lang begleitet: Es ist die Nacht vor Lotmanns Scheidungstermin. Während Lotmann es sich im Laufe des Abends durch seinen alkoholgeschwängerten verbalen Amoklauf mit seiner Geliebten verscherzt, hat sich seine Noch-Ehefrau, eine erfolgreiche Bühnenbildnerin, auf ein Rendezvous eingelassen, das ganz anders verlaufen soll, als sie es geplant hat. Die erwachsene Tochter wiederum arbeitet als Nachtwächterin im Duisburger Schauspielhaus und nimmt eine neue Bekanntschaft mit auf eine Tour hinter die nächtlichen Theaterkulissen, die auch zu einem Blick hinter die Fassaden ihrer Familie wird.

Im Mikrokosmos der Theaterszene

© Anne Lass (c) VG-Bildkunst, Bonn 2010

In seinem Debüt nutzt Sascha Reh den schillernden Mikrokosmos der Theaterszene, um den Zerfall einer Familie zu schildern. Für Lothar Lotmann sind die Grenzen zwischen Inszenierung und Realität längst verwischt, auch seine privaten Kämpfe ficht er auf der Bühne aus. So werden Rückblicke auf vergangene Inszenierungen – zum Teil gekonnt als Theaterkritiken verschiedener Feuilletons verpackt – zu Zustandsbeschreibungen der Innenwelt Lotmanns. Sein Realitätsverlust gipfelt in dem Plan, Goethes „Torquato Tasso mit (einer) seiner Geliebten und seinem größten Nebenbuhler besetzen zu wollen.

Mit Lothars erotischen wie alkoholischen Eskapaden hat sich seine Frau Emilie – nicht zuletzt durch ihren kommerziellen Erfolg ein rotes Tuch für seine entrückte Künstlerseele –  lange Zeit abgefunden. Nun, als sie sich endlich zur Scheidung durchgerungen hat und diese Entscheidung durch das Rendezvous mit einem Jugendfreund besiegeln will, drängt sich die gemeinsame Vergangenheit immer wieder in ihre Gegenwart, entzaubert Lothars imaginäre Anwesenheit die Momente neu aufkommender Nähe, wird aus erotischem Kribbeln ein peinlicher Krampf.

Franziska hingegen, die Tochter der beiden Theatermenschen, hat den Glauben an heile Beziehungen längst verloren. Sie hat sich ihre Existenz im Second Life aufgebaut, wo sie zum Beispiel virtuelle Häuser programmiert und ganz real verkauft. Erst Ruben, mit dem sie eine nächtliche Runde durch das Theater dreht, bringt sie dazu, sich mit ihrem realen Leben auseinanderzusetzen.

Lebensnahe Protagonisten

Sascha Reh versteht es gekonnt, die unterschiedlichen Blickwinkel der drei Protagonisten gegeneinander zu setzen. Schlüsselszenen ihrer gemeinsamen Geschichte werden mit sehr unterschiedlichen Wertungen erzählt – so gehen bereits die Erinnerungen an Franziskas Geburt aus den Blickwinkeln von Lothar und Emilie extrem auseinander. Es sieht sich selbstverständlich jeder in einer Opferrolle und der Leser mag entscheiden, wem er in diesem Beziehungsgeflecht mehr Vertrauen schenkt. Dass sich in dessen Wurzelwerk auch noch ein düsteres Familiengeheimnis aus den Nachkriegsjahren offenbart, bereichert den Roman um eine weitere Dimension, der es allerdings nicht bedurft hätte, um ihn zum Leseerlebnis zu machen. Es ist vielmehr Sascha Rehs Gespür für die Innenwelten seiner Protagonisten, in dem sich seine hauptberuflichen Erfahrungen als Familientherapeut widerspiegeln. Seine Dialoge sind pointiert und lebensnah, seine Figuren in ihrer Verletzlichkeit, Unsicherheit und ihrem Selbstmitleid bis in die kleinste Nuance durchkomponiert. Nicht zuletzt lässt sich der Roman passagenweise sowohl als Hommage an wie auch als bissige Satire auf die Parallelwelt Theater oder auch die Kunstszene allgemein lesen. Das Beziehungs- und Abhängigkeitsgeflecht zwischen Regisseur, Schauspieler, Bühnenbildner, Techniker und Kritiker bietet hierfür hinreichend Stoff. Und wer mag, sieht in Lothar Lotmann eine abgehalfterte Variante von Stein, Zadek oder Peymann.

Frank Schorneck

Sascha Reh: Falscher Frühling. Frankfurt a. M.: Schöffling & Co. 368 Seiten. 19,85 Euro

Sascha Reh auf Literatourport.de – mit einer Hörprobe des Romans.

Der Debütroman des Monats wir regelmäßig von dem Literaturmagazin Macondo präsentiert.