Geschrieben am 24. August 2013 von für Bücher, Crimemag

Sam Eastland: Der Rote Sarg

Sam_Eastland_Der_Rote_SargZwischen Lob und Tod: Stalins Sonderermitler zwischen allen Fronten

– Nach „Roter Zar“ ist nun der zweite Band des Amerikaners Sam Eastland (Pseudonym für Paul Watkins) mit dem Sonderermittler Pekkala als zentraler Figur erschienen. Der NKWD-Agent ist zwar mit allen möglichen Sonderrechten ausgestattet, kann aber auch jederzeit in Ungnade fallen und wieder im sibirischen Straflager landen. Von Peter Münder

Bei Umfragen zu den beliebtesten Politikern stand Stalin bei den Russen in den letzten Jahrzehnten meistens auf Platz eins ‒ jetzt ist er nach Breschnew und Lenin auf Platz drei gerutscht, während Gorbatschow wie bisher weit abgeschlagen auf dem letzten Platz landet. Ist das etwa ein Indiz für den Beginn eines aufklärerischen Lernprozesses? Auch unter den jüngeren Russen gibt es immer noch viele, die geblendet von einer ach so grandiosen historischen „Derschawa“ (Großmacht)-Vergangenheit den georgischen Liquidator maximus für einen „ganz Großen“ halten nach dem Motto „Es war nicht alles schlecht damals“. Das ist ja hierzulande auch kein unbekanntes Verdrängungs- und Verblödungsphänomen, wenn Alt-Nazis von Adolfs teutschen Autobahnen oder Rote Socken und Stasi-Kundschafter von Ulbrichts grundsolidem Mauerbau schwärmen.

Verklärung und Auseinandersetzung

Angesichts dieser massiven Verklärungstendenz finsterster Exzesse ist es vielleicht nicht allzu überraschend, dass sich ausgerechnet ein Amerikaner wie Sam Eastland, 49, der in England aufwuchs und in Yale studierte, um die Aufarbeitung der heikelsten Phasen russischer Geschichte kümmert. Er schickt seinen Sonderermittler Pekkala (in „Roter Zar“, Rezension bei CULTurMAG) auf die Jagd nach dem Zaren-Schatz und nach möglichen Überlebenden der Zarenfamilie und lässt ihn nun in „Roter Sarg“ ermitteln, ob die konterrevolutionäre Weiße Gilde vielleicht für den Tod von Oberst Nagorski, dem Chefkonstrukteur des geheimen Panzerprojekts T-34 verantwortlich war.

Offenbar ist Sam Eastlands Fixierung auf die zaristisch-stalinistische Epoche darauf zurückzuführen, dass die Russen zur objektiven Auseinandersetzung mit ihrer eigenen brutalen Vergangenheit einfach nicht in der Lage sind. Als „roten Sarg“ verhöhnen die russischen Ingenieure ihr eigenes geheimes Panzerprojekt, das Stalin möglichst schnell realisiert sehen möchte, um den bevorstehenden Krieg gegen Nazi-Deutschland bestehen zu können. Denn unter dem enormen Zeitdruck können nicht alle relevanten Sicherheitsaspekte beim Bau berücksichtigt werden. Doch das Projekt ist hochgradig gefährdet: Ein Verräter will dem Feind die Blaupausen für den T-34 verkaufen, dann kommt ausgerechnet der Chefkonstrukteur Nagorski bei einer Probefahrt auf dem Versuchsgelände ums Leben ‒ da schickt Stalin seinen besten Mann Pekkala, der diese Fälle zusammen mit seinem Assistenten Kirow aufklären soll. Der finnischstämmige NKWD-Sonderermittler ist zwar mit allen erdenklichen Sonderrechten ausgestattet, er darf Verhaftungen vornehmen, Verdächtige erschießen, Fahrzeuge requirieren usw. ‒ aber was nützen ihm diese Privilegien, wenn er trotz seiner großartigen Ermittlungserfolge jeden Augenblick vom unberechenbaren Stalin in einen Gulag geschickt werden kann?

Kolportage vs. Realismus

Pekkala ist ein selbstlos-asketischer, unbestechlicher Schnüffler, der meint, mit seinen Ermittlungen Menschen helfen zu können, die vom Stalin-Regime zu Unrecht schikaniert werden. Selbst als Stalin ihm das Angebot macht, sich unbehelligt ins Ausland absetzen zu können, lehnt Pekkala dies ab.

Zum komplizierten Ermittlungsfall im Umfeld der Panzerkonstrukteure kommt hinzu, dass ein T-34-Prototyp plötzlich gestohlen wird und von Provokateuren benutzt werden soll, um an der polnischen Grenze einen Vorwand für eine deutsche Kriegserklärung zu liefern. Pekkala muss sich also mit einem requirierten Emka auf die Jagd nach dem Provokateur machen und versuchen, den Panzer außer Gefecht zu setzen.

Bestechend an Eastlands Pekkala-Serie ist trotz einiger Kolportage-Versatzstücke der drastische Realismus, die Beschreibung armseligster Existenzbedingungen und der deprimierenden Auswirkungen eines totalitären Systems, das ohne eine allgegenwärtige Paranoia kaum überlebensfähig gewesen wäre. Doch der kritische Impetus von „Roter Zar“ bleibt hier gelegentlich auf der Strecke und driftet ins Menschelnde ab. Eastland möchte nämlich in den Szenen, die Stalin im Kreml beim persönlichen Gespräch mit Pekkala zeigen, das Geheimtürenambiente mit dem doch ganz umgänglichen, beinah verständnisvollen Habitus des Diktators verquicken, der sogar bemerkt, dass Pekkala sich ein neues Jackett gönnte. Daher beschreibt er etwa penibel, wie umständlich sich Stalin seine Pfeife anzündet:

„Er hielt das Streichholz mit Daumen, Zeige-und Mittelfinger fest und ließ es mit Hilfe des Ringfingers über die Reibfläche schnellen.“

Eastland hat sicher gründlich recherchiert, was all diese Details oder die technischen Besonderheiten des T-34, der russischen Emka-Limousine oder des englischen 455er Revolvers mit Rückstoß verminderndem nadeldünnen Loch im Lauf betrifft, den Pekkala benutzt.


Eher Tod als Wahrheit

Wenn er Stalin jedoch als Oberlehrer zeigt, der Pekkala erklärt, welche Kriegsvorbereitungen Hitler nach der Besetzung des Rheinlands und dem Pakt mit Japan und Italien plant und er sich dabei auf Erkenntnisse seiner Geheimdienste stützt, dann hat Eastland unterschlagen oder nicht zur Kenntnis genommen, dass der paranoide Stalin seinen Diensten nie vertraute und trotz vieler Warnungen vor dem deutschen Russlandfeldzug die Überbringer schlechter Botschaften lieber umbringen ließ als die unerquicklichen Fakten zu akzeptieren.

Trotzdem bleibt als Fazit: Der spannende Plot ist in einem faszinierend-fremden Ambiente angesiedelt und mit historisch-exotischen Episoden und Rückblicken auf die Zarenzeit garniert, die Pekkalas Vergangenheit als Ermittler des Zaren Nikolaus II. beleuchten. Dieser Mix aus brutal-realistischer Systemkritik, düsterem Dostojewski-Fatalismus und heimeligem Sherlock-Holmes-Ambiente ist ziemlich unwiderstehlich ‒ ebenso wie das starke Ermittlerduo Pekkala-Kirow, das trotz enormer Gegensätze letztlich doch fabelhaft miteinander harmoniert. Man darf also gespannt sein, welche Abenteuer uns Sam Eastland im nächsten Pekkala-Band präsentiert.

Peter Münder

Sam Eastland: Der rote Sarg. (The Red Coffin, 2011). Roman. Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet. München: Knaur Verlag 2013. 367 Seiten. 9,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zum Interview mit Sam Eastland.

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